Eugen Liška jr.

Schöpfung

2017 | Host

Saša ist heute nicht zu ihrem Treffpunkt gekommen. Hummel (der eigentlich Daniel heißt, und sich gar nicht mehr erinnern kann, warum er diesen Spitznamen trägt, Anm. d. ÜS) sitzt alleine auf dem Betonpfeiler, und mit gesenktem Kopf beobachtet er seine Bluttropfen, wie sie langsam nach unten auf die groben roten Sandkörnchen fallen. Auf der anderen Seite dieses Haufens aus Staub, Erde, Steinen und Hundescheiße, der von den Ortsansässigen als Sandkasten bezeichnet wird, krabbeln ein paar kleine Kinder herum, kleiner als Hummel und vermutlich auch genauso harmlos wie er.

Nach Hause will Hummel nicht. Schon gar nicht heute, mit dieser Nase, aus der es ständig rot heraustropft, ohne dass er es aufhalten kann. Hummels Nase ist halt einfach so eingestellt, auch wenn er keine Ahnung hat, warum.

Es bleibt ihm nichts anderes übrig als zu warten und das mit Blutflecken durchtränkte Taschentuch in den Händen zu kneten.

Nach Hause will er nicht. Er weiß, dass seine Mutter kein Mitleid mit ihm hätte. Sie könnte nicht, wenn sie wüsste, dass es sich um eine Bestrafung für Hummels schlechtes Verhalten handelt. Wegen seiner fehlenden Disziplin, wegen Nichterfüllung seiner Pflichten.

Aber da gibt es ständig Pflichten, immer nur Pflichten, und währenddessen geht die Welt vor unseren Augen unter, denkt sich Hummel, wozu denn Pflichten erfüllen, wenn ich es noch nicht geschafft habe, mit meinem Messer etwas in die lackierte Blechwand von der Aufzugskabine zu ritzen?

Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu warten und dann das blutige Taschentuch irgendwo auf dem Heimweg wegzuwerfen und sich zu Hause still und heimlich ein neues, sauberes aus dem Schrank zu nehmen.

Aus dieser düsteren, jenseitigen Lethargie holt ihn erst ein aufdringliches elektrisches Surren hinter seinem Rücken, das immer näher kommt.

Jindřich kommt dahergefahren. Er ist ein groß gewachsener, blasser Junge, älter als Hummel, ernst und traurig; eine Krankheit verkrümmte ihn zu einem Paragrafen. Soweit Hummel weiß, geht es ihm immer schlechter. Angeblich gab es sogar Zeiten, da sei er noch gegangen. Er war immer sehr groß für sein Alter, blass, mit einem edlen Gesicht, geformt in Gestalt eines Asketen oder Heiligen. Sein Gesicht ist ihm als Einziges geblieben, ohne das wäre er jetzt im Rollstuhl gar nicht zu erkennen.

Hummel mustert ihn und erinnert sich daran, dass Jindřich früher noch selbst herumfahren konnte. Er konnte sogar aufstehen, und lehnte sich dann immer gegen eine Säule, borgte seinen Rolli den anderen Kindern, und die fuhren damit den Hügel hinunter, legten sich in die Kurven und hatten einen Höllenspaß dabei, während es Jindřich offensichtlich Spaß machte, mal für ein Weilchen zu stehen.

Einmal, als er wieder so dastand und sich irgendwo anlehnte, während ihm diese kleinen Bälger seinen Rollstuhl malträtierten, fragte ihn Hummel, der selbst nie den Mut hatte, den Wagen gemeinsam mit den anderen Kindern zu malträtieren, was ihm eigentlich passiert sei.

„Ich bin ein Vampirkiller.“ Er sagte das mit ruhiger, selbstverständlicher Stimme, überhaupt nicht prahlerisch, sondern bescheiden, als wäre es die normalste Sache der Welt. Als würde Hummel sagen: Ich gehe in die vierte Klasse. Und weil er das so sagte, so demütig und aufrichtig, glaubte ihm Hummel sofort. Natürlich, natürlich, ist ja klar. Dass mir das nicht gleich eingefallen ist, klar, ein Killer …

„Wie viele hast du denn schon …, na, du weißt schon, erledigt?“, fragte Hummel, und obwohl er sich bemühte, schaffte er es nicht, ohne dass dabei etwas von dieser plötzlich in ihm aufsteigenden Bewunderung in seiner Stimme lag.

„Ich hab schon aufgehört zu zählen“, lächelte Jindřich, wieder bescheiden, demütig, als würden sie sich über erschlagene Fliegen unterhalten.

Hummels strahlendes Gesicht sandte eine klare Botschaft aus: Du Held!!!

„Es ist nicht wichtig, wie viele ich schon umgebracht habe, wichtig ist, wie viele ich noch kaltmachen muss. Wie viele es hier unter uns noch gibt.“

„Wie viele?“, flüsterte Hummel.

„Ganz schön viele“, sagte Jindřich, ernst und hart, vor Abscheu lief ihm ein leichtes Zittern über das Gesicht. Hummel fröstelte es, und später dachte er noch oft daran, was Jindřich über Vampire gesagt hatte und warum es nötig sei, Ekel vor ihnen zu bewahren. Früher nämlich lebten die Vampire auf Burgen inmitten von Wäldern, schliefen in Särgen und gingen nur nachts hinaus. Damals war die Jagd nach Vampiren nicht so wichtig wie heute. Sie diente eher der Unterhaltung. Auch wenn es eine schreckliche Unterhaltung war. Doch als die Menschen dann allmählich die Wälder verließen und in Städte zogen, um sich dort wohl für immer niederzulassen, lockten sie – unbewusst – die Vampire zu sich. Und die Vampire passten sich dann überraschend schnell an. Sie lernten, die Stadt zu verstehen, lauschten ihrer Sprache und begriffen, dass in ihrem Inneren Schatten herrscht und in ihren Adern Dunkelheit zirkuliert – auch wenn an der Oberfläche Millionen von Lichtern erstrahlen. Sie drangen vor und passten die Stadt ihren Vorstellungen an.

„Sie haben Leute gefangen, Erwachsene, wie deine Mama und deinen Papa, haben ihnen das Gehirn ausgesaugt und den Körper gestohlen.“ Jindřich kam in Fahrt und fuchtelte mit seinen Händen durch die Luft wie mit Säbeln. „Dann haben sie das Licht in ihren Wohnungen ausgemacht und sich in der Dunkelheit versteckt. Sie haben sich breitgemacht, in den Schatten der Straßen, der Gassen, Unterführungen, Bushaltestellen, Gebüsche und Parks, Wohnungen, Häuser, genau in solchen wie das eure.“

„Aha“, sagte Hummel und schaute den Abhang hinunter, wo gerade eine Schar kreischender Kinder aus Jindřichs Rollstuhl fiel.

„Aber dich kriegen sie nicht, oder?“

„Jede Arbeit bringt ein Risiko mit sich, ein größeres oder kleineres. Weißt du, man nennt das auch Berufsrisiko.“

„Aber du machst ’ne gute Sache“, meinte Hummel beifällig, dann verlor er sich in Gedanken und als er wieder in Jindřichs schönes Gesicht mit dem ernsten Blick schaute, verkündete er feierlich: „Sie kriegen dich nicht, denn du weißt ja, wie man das macht!“ Das klang fast wie eine Prophezeiung.

Für einen Moment sah es so aus, als könnte sich Jindřich nicht mehr halten und würde gleich zu lachen anfangen, aber dann zuckten doch nur seine Mundwinkel, und schon war da wieder dieser edle Ausdruck eines Heiligen.

„Klar, das weiß ich …“

Das war vor einiger Zeit. Wenn dieses bleiche Gesicht nicht wäre, hätte Hummel ihn jetzt kaum erkannt. Die haben ihn zugerichtet.

Jindřich hüpfte noch ein wenig auf seiner Mondlandefähre herum und kam näher zu Hummel. Er zeigte ihm sein bleiches, gemartertes Gesicht, das einem Menschen gehörte, der fähig war, zu erkennen und zu begreifen.

Schließlich sagt Hummel:

„Vampire, oder?!“

Jindřichs Mundwinkel zucken wieder ein paar Mal und dann beginnt er angestrengt noch etwas herauszuwürgen.

„Du, ich bin nicht gut dran. Sie haben mich schon fast gekriegt.“

„Nein, noch nicht!“ Hummel schüttelt den Kopf.

„Aber vielleicht wird‘s nicht mehr lange dauern“, fährt Jindřich fort. „Sie sind bei mir zu Hause, haben mich ausgeforscht und sind in mein Versteck gekommen. Es hat lange gedauert, bis ich draufgekommen bin, wie sie das geschafft haben, weil unsere ganze Wohnung vampirfest war, verdammt gut abgesichert, mit sieben Fallen. Alles das war in Ordnung, unbeschädigt, alles hat funktioniert, aber trotzdem habe ich gespürt, dass sie herinnen sind und dass sie anfangen, mich langsam zu verarbeiten. Aber wie, verflucht, wie sind sie reingekommen? Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das gewurmt hat. Und dann, dann bin ich eines Tages draufgekommen.“

Seine Mondlandefähre hüpfte mit lautem Rattern noch näher an Hummel heran.

„Diese Viecher haben nämlich meine Eltern gekriegt!“

„Nein …“, Hummel kann es nicht glauben.

„Schon seit einiger Zeit bringen mich diese als Menschen verkleideten Missgeburten jede Woche an ’nen Ort, der ausschaut wie ’n Krankenhaus, aber in Wirklichkeit ist das ein Vampirstützpunkt. Da betäuben sie mich und machen mich total machtlos, und dann, unter Aufsicht anderer Vampire und vor den Augen normaler Leute, hängen sie mich mit Schläuchen an so große, komische Apparate, und während sie sich nach außen hin besorgt geben, saugen mir diese Apparate das Blut aus dem Körper, verstehst du. Langsam, ganz langsam rauben sie mir mein Leben, lassen es sich schmecken, und mich lassen sie leiden, als würden sie sich für alle diese Teufel rächen, die ich zur Hölle geschickt habe.“

Hummel starrt ihn erschrocken an, in seinen Augen zeichnet sich schmerzvolle Anteilnahme ab.

„Und was wirst du jetzt machen?“

„Na, das merkst du ja selbst, dass meine Situation fast ganz hoffnungslos ist. Wenn ich wem davon erzähle, werd ich ja nur ausgelacht, sie sagen, dass ich böse bin, undankbar, dass ich so über meine Eltern sprech, und dass ich verrückt geworden bin. Ich bin total isoliert, kann mich kaum bewegen, und niemand glaubt mir … Es bleibt mir nur eins, ich muss sie umbringen!“

„Deine Eltern willst du umbringen?!“, japst Hummel.

„Nicht die Eltern, du Schwachkopf. Diese Vampire, von denen sie ersetzt worden sind. Ich muss mich drum kümmern, bevor ich so schwach bin, dass ich mich nicht einmal mehr mit dem hier bewegen kann. Oder hast du vielleicht vergessen, was ich für einer bin?“

„Nein. Du bist ein Vampirkiller“, bekennt Hummel.

„Ich muss sie umbringen, und das mach ich auch. Und dir rat ich eins, pass gut auf deine Eltern auf, überwach und kontrollier sie gut, die kennen sich nicht aus, die machen leicht ’nen Fehler, und dann ist es zu spät …“

Betroffen schaut Hummel auf seine Schuhspitzen.

„Zeig her“, meint Jindřich weniger hart, „gib mir mal ein Heft, dann zeichne ich dir ’nen Plan von einer meiner Vampirfallen, vielleicht kannst du den mal brauchen.“

Hummel ist sofort begeistert, zieht ein Heft heraus und gibt Jindřich einen Buntstift. Jindřich kann seine Hand schon kaum mehr bewegen, und so schaut die ganze Skizze dann eher aus wie ein ziemlich misslungenes Gekritzel. Aber Jindřich scheint zufrieden zu sein, und Hummel sagt sich dann, dass er wohl noch etwas älter werden muss, etwas weiser, so wie Jindřich, damit er das alles versteht. Aber die Zeit wird kommen, und wenn sie kommt, ist Hummel vorbereitet. In der Zwischenzeit wird er sein Heft sorgfältig ganz unten im Rucksack aufheben.

„Ich muss gehen, sie warten auf mich, ich darf sie keinen Verdacht schöpfen lassen …“

Unter Jindřichs Hintern beginnt es wieder zu surren und der Rollstuhl setzt sich in Bewegung, dann bleibt er aber noch einmal stehen und Jindřich ruft Hummel zu:

„Wenn ich du wär, würd ich mit dieser blutigen Nase hier nicht einfach so herumlaufen!“

Und dann ist er weg.

Beim Abendessen zu Hause ist es still. Wie fast immer schweigt Hummel, und heute hat er auch noch einen besonderen Grund dazu. Und der befindet sich vor ihm auf dem Tisch in einem tiefen Teller. Die Suppe hat eine komische, abstoßende Farbe, die an eine angeschissene Unterhose erinnert, und es schwimmen Sachen drin, von denen Hummel nicht genau sagen kann, seit wann sie tot sind, wenn sie das überhaupt schon sind. Allein um sie zu beobachten muss er fast schon seine ganze Vorstellungskraft aufwenden.

Probeweise sticht er mit der Kante seines Löffels in eines dieser Dinger. Es zuckt und zieht sich zusammen. Davor schaudert ihm ein bisschen. Als er versucht, ein anderes herauszunehmen, überrascht es ihn, wie flink sich dieses Ding unter der Oberfläche verstecken kann. Hummel taucht den Löffel in die Flüssigkeit und stößt auf etwas Anderes, Größeres, Steiferes – er sticht hinein und an der Oberfläche beginnt es zu blubbern. Dann zieht er einen dieser Brocken herauf, irgendetwas tropft aus ihm heraus, er zittert und schluchzt vor Schmerz, in dem ungestümen Wirbel unter ihm blutet der Rest seines Körpers …

Vielleicht schaut das so aus, wenn …? denkt sich Hummel und beginnt, sich das Ende der Welt vorzustellen, was seit einiger Zeit sein Lieblingsspiel ist. Jetzt macht ihm das Essen doch noch Spaß …

Die Erde platzt auf, und kochendes Wasser strömt aus der Tiefe. Es wird fürchterlich stinken, wie der ärgste Gestank auf der ganzen Welt, so wie, so wie … wie gekochte Zwiebel! Dann wird diese Brühe alles überschwemmen, bis zu dem Punkt, an den Hummel es schafft, wenn er auf den Baum vor dem Haus klettern würde, wenn es ihm seine Mutter erlaubt. Die Nachbarn im Erdgeschoß und im ersten Stock werden das schnell hinter sich haben. Schnell, aber schmerzhaft. Die Brühe überschwemmt sie, wird sie von einer Seite zur anderen werfen, ihre Körper gegen die harte Wand des Plattenbaus schlagen, vergeblich werden sie um Hilfe rufen, und sie wird ihnen in den Mund fließen, bis sie ihn voll haben und nichts mehr ausspucken können …

Moment, es hat doch geheißen, dass die Brühe kocht! Also schon in dem Augenblick, wo der Strom ihre Körper gegen die Wand wirft, werden sie dann also gekocht, und rot, so rot wie … wie eine Karotte, wie eine gekochte Karotte. Und genauso matschig. Und wer sich vor dem kochenden Wasser im Kühlschrank versteckt, wird dort noch ein paar Tage überleben, bis er alles, was im Kühlschrank war, aufgegessen hat. Dort wird nichts Anderes sein als Bohnen, wäh, grüne Bohnen, auch in Joghurt zermatscht, igitt, und er wird das essen müssen, um zu überleben, so lange, bis er …. Moment, wird er nicht eher ersticken, wenn er im Kühlschrank ist? Das ist egal, alle bis zum ersten, oder vielleicht auch bis zum zweiten Stock, werden das ganz schnell hinter sich haben. Auch Novák, der zwar aus dem dritten ist, aber der wird genau in dem Moment sicher wieder besoffen im Erdgeschoß liegen. Gut, dass Hummel mit seinen Eltern ganz oben wohnt. Ihnen wird nicht heiß sein.

Alle, die das überleben, werden sich dann auf den Dächern der Häuser versammeln und sich denken, dass sie es aushalten, und so lange am Leben bleiben, bis die Brühe unten auskühlt. Aber Schnecken! Dann wird sich über ihren Köpfen nämlich der … zeigen, wie haben die Jungs gesagt, na …, der, der Schöpfer wird sich zeigen! Der Schöpfer wird eine Schlachtschwadron dabei haben, bestehend aus seinen Bodyguards, selbstverständlich mit Flügeln, vielleicht werden sie aber auch ein bisschen anders ausschauen, als er sie gestern gezeichnet hat, und er wird dann auf die Menschen zielen, die auf den Dächern stehen, ganz zusammengequetscht, und ein Schuss tötet zwei? Drei? Gleich zehn auf einmal!

Bum, Bum, tatatatattatat, aaaaaaahhhhh … alle werden schreien und runterfallen und sich gegenseitig hinunterwerfen, in diese Brühe, wo die gekochten Menschen herumschwimmen, mit den roten Bäuchen nach oben, genauso wie diese Dinger hier, und der Schöpfer wird einen großen Silberlöffel vom Himmel senken und diese Leute packen und sie sich in seinen riesigen Mund stecken, der zwischen den Wolken hängen wird, so in der Art, ham ham, er wird einen nach dem anderen fressen und sich ….. Die Menschen werden sich unter Regenschirmen und Jacken verstecken wollen und auch gegen unsere Wohnungstür hämmern, aber wir lassen niemanden rein, haha!!! Und dann werden auf einmal rote Tropfen vom Himmel fallen und mit einem Platschen … Bluttropfen?

„Was stocherst du da im Essen herum?“, ermahnt ihn seine Mutter. Sie mustert ihn gründlich.

„Um Gottes Willen, wie schaust du denn aus? Was hast du denn da an der Nase? Los, ab ins Bad mit dir, das tropft ja schon in die Suppe, igitt!“

Hummel fasst sich an die Nase und steht rasch auf.

„Was hast du denn da angestellt?“, hört er seine Mutter hinter sich.

Er wird schweigen, es ist klar, dass er schweigen wird. So wird es am besten sein. So ist es immer am besten, Hummel ist nicht gut im Lügen. Er wäscht sich das Gesicht mit Wasser. Diese verdammte Hummelnase, es ist immer dasselbe.

„Was hat der Junge denn?“, wendet sie sich besorgt an den Vater. Der Vater zuckt mit den Schultern.

„Hast du in der Nase gebohrt?“, ruft sie zu Hummel ins Badezimmer.

„Nein!“

Hummel atmet auf. Das war zum Glück nicht die richtige Frage.

„Ob er vielleicht krank ist? Er isst nichts …“, teilt die Mutter ihre Sorge mit dem Vater. Das ist ihre typische Reaktion. Meistens beziehen sich die Gefühle, die in Bezug auf ihre Kinder äußert, auf zwei Sachen. Krankheit und Hunger. Dann da kennt sie sich aus – wenn ein Kind Hunger hat, gibt sie ihm zu essen, und wenn ein Kind krank wird, kocht sie ihm Tee mit Zitrone, schickt es ins Bett, entschuldigt es in der Schule und nimmt eine Tablette aus der Tube heraus. Vielleicht wäre sie am glücklichsten, wenn ihre Kinder ständig krank oder hungrig wären. Sie würde Suppe und Tee kochen und könnte sicher sein, dass sie sich kümmert. Dass sie lieb hat!

Hummel stopft sich ein großes Stück Watte in das beschädigte Nasenloch. Kurz darauf wird die Watte rosa, von dem durchsickernden Blut, und schaut aus wie Zuckerwatte vom Jahrmarkt. Nur schmecken wird sie anders. Als er zurück in die Küche kommt, ist der Teller mit seiner Suppe schon weg. Zum Glück, seufzt Hummel auf. Und schweigt.

Noch bevor sie ihm das Licht in seinem Zimmer ausmachen, darf er malen. Er sitzt beim Tisch, hat schon seinen Pyjama an, vor sich Papier, seine Nase rinnt nicht mehr, einige Buntstifte, er hört, wie sein Vater zur Arbeit geht.

Und doch überkommt ihn Traurigkeit. Und ein bisschen Reue.

Wegen der Ohrfeige von diesem Grobian. Eine heimtückische Waffe ist das, sie tut zweimal weh, und der zweite, innere Schmerz ist um nichts angenehmer als der erste.

Er winselt ein bisschen, aber nicht viel, er will nicht, dass seine Nase schon wieder verrückt spielt. Dann holt er sein Messer aus dem Versteck. Ein Weilchen testet er ihre Klinge und versucht sich damit abzulenken. Dann versteckt er sie wieder. Heute wird er nichts mehr malen. Er hat keine Lust.

Der zweite Schmerz frisst sein Inneres langsam auf und verwandelt es in Stumpfheit und Leere – so ist es bei jeder Ohrfeige. Eine bösartige Waffe, man müsste sie verbieten …

Er geht ins große Zimmer zu seiner Mutter, die vor dem Fernseher im Sessel sitzt. Um den Bildschirm geht es ihm nicht. Er setzt sich zu seiner Mutter in den Sessel und schmiegt sich an sie, er legt seine Arme um ihren Hals, umarmt sie, ein zehnjähriger Junge im Pyjama, übersät mit tausenden Farbkügelchen, die umherspringen, er drückt sich fest an sie, er weiß, das wird nicht lange dauern.

Nach ungefähr dreißig Sekunden beginnt die Mutter nervös herumzuzappeln und nach einer Minute entschuldigt sie sich, steht auf, schüttelt den festgesaugten Hummel von sich und geht wegen irgendetwas in Richtung Küche. Sie verlässt das Zimmer, nervös zuckt sie mit den Händen, im Hals hat sie einen Kloß und im Körper spürt sie ein Kribbeln. Sie weiß nicht, was sie in der Küche eigentlich so Wichtiges zu tun hat, sie weiß nicht, warum sie die Berührung der umherspringenden Farbkügelchen auf ihrem Körper nicht ausstehen kann, sie weiß nicht, versteht sich, sie hat doch so viel lieb!

Hummel liegt da, zu einem Knäuel zusammengerollt. Der Schmerz ist weg. Nur Stumpfheit, Dunkelheit und Leere. Er schaut vor sich, in die Dunkelheit, die sich hinter dem Fernseher ausbreitet, hinter diesem peinlichen Licht, in die Dunkelheit, von der es so viel gibt, aber trotzdem versteckt sich nichts darin, und er denkt, dass ihn dieses Ende der Welt letztendlich gar nicht stören wird.

 

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck