Am Sonntag Abend fand ich mich unter Einfluss einer Konjunktion von uninteressanten Umständen an der Straßenkreuzung Vinohradská / Jičínská wieder. Ich stand da und betrachtete aus der Froschperspektive das riesenhafte eckige UFO, das hier vor kurzem unter dem Namen „Palác Flóra“ gelandet war. Den verqualmten Himmel über seinem Dach durchschnitt senkrecht nach oben ein dünner weißer Lichtstrahl. Obwohl es schon zehn durch war, herrschte im Innern Leben. Auf den Rolltreppen glitten lebhaft gestikulierende Figürchen vorüber. Es brüllten die Läden, es dröhnten die Cafés, es gähnten die blutjungen Verkäuferinnen, die per Inserat in die Falle gegangen waren. Hunderte von Kauwerkzeugen bearbeiteten Salate, Pommes und Sandwiches, mit Lippenstift eingefärbte Tentakel schlürften Spaghetti, angeknackste Kieferscheren alter Väterchen zermalmten Putenschnitzel. Vor dem Eingang blubberte zwischen Haufen aus schwarzen Marmorplatten ein nicht fertig gebauter Springbrunnen vor sich hin.
Ich bekam Hunger – meine letzte Mahlzeit an jenem Tag war das Frühstück gewesen – und machte mich auf den Weg zu dem in gleißendes Licht getauchten Eingang. Im Erdgeschoss kaufte ich mir ein halbes Grillhähnchen, im ersten Stock ein neues Sakko, im zweiten den Soundtrack zu „Lost Highway“ und im dritten ein sehr hübsches Feuerzeug. Schließlich gelangte ich zwischen Girlies mit entblößtem Nabel und Honks mit rot gesprenkelten Haaren und allen möglichen pseudo-geschleckten Bratzen und superunsicheren Hiphoppern bis hinauf unters Dach. Dort gab es ein Multiplex-Kino. Ich wusste überhaupt nicht, wie und warum, aber ich kaufte mir eine Karte und sah nach, wann der Film anfangen würde: noch zwanzig Minuten Zeit. Ich verkroch mich in einem Bistro hinter eine künstliche Palme und bestellte mir einen Kaffee. Ein Stück weiter saß unruhig ein durchgestylter Schmacko mit seinem feuchtäugigen kleinen Mäuschen. Mit aller Kraft presste sie unter dem Tisch ihr schwarz behostes Beinchen an ihn – was er gar nicht wahrnahm, denn er befasste sich mit der Sammlung von Ringen an seine Hand. Er zog sie ab und steckte sie wieder an und laborierte mit allen möglichen Kombinationen herum.
„Wenn du jetz da ni’ hingehst, dann dreh isch dursch“, sagte sie mit matter Zuckerstimme.
„Ick jeh doch! Ha’ ick dir doch jesacht, det ick jeh! Aba ick hab dir ooch jesacht, det ick jetze, vafluchte Kacke, da nix von hör’n will!“
„Wenn du ni’ da hingehst, dreh isch dursch“, ließ sie sich nicht abbringen.
„Ich sach doch, ick jeh! Gloobst’e mia nich oda wat?“, fing er flüsternd an sich aufzuregen.
„Dir kamm’r ja sowieso nischt gloo’m“, flüsterte sie.
„Kammer, Kammer, Besenkammer“, lachte er plötzlich laut los und kippte seinen Drink in sich hinein.
Die Süße fing an zu husten.
„Huusti, huusti“, lispelte er und strich ihr zärtlich über die Haare. „Trink ’n Kurzen, det hilft.“
Sie schüttelte den Kopf und presste sich wieder an ihn.
Ein paar Minuten später saß ich in dem weitläufigen, noch ganz neu riechenden Saal und der Film fing an. Er hieß „Pupendo“. Überall um mich herum knisterte das Popcorn und plätscherte die Coca-Cola. Im Dunkeln riss ich dem Hähnchen den Schenkel ab und verbiss mich darin, und mit dem neuen Sakko auf dem Schoß schaute ich auf die Leinwand. Ich merkte, dass ich lachte. Alle um mich herum lachten ebenfalls. „Hej, Alta, Jarda Dušek, det is der Brülla, Alta!“, besprühte mir jemand von hinten den Kragen mit seiner Spucke. Ich steckte den abgenagten Knochen zurück in die Tüte und sah mich um. Das Publikum brüllte vor Vergnügen. Ich drehte den Flügel ab und begann ihn zu benagen.

Am nächsten Morgen sah ich, dass die Anzeige meines Siemens über Nacht schwarz geworden war. Ich drückte wild auf den Tasten herum, aber nichts tat sich, es sah aus, als würde man in einen Tunnel hineinsehen. Auf das Gerät war noch Garantie, und so raffte ich mich auf und fuhr ins T-Mobile-Center in der Londýnská-Straße. Hinter dem Pult stand eine makellose blauäugige junge Frau. Weißer BH unter der weißen Bluse. Ich erläuterte ihr mein Problem.
„Ja, aber das ist mechanisch beschädigt, darauf ist keine Garantie“, sagte sie.
„Allerdings hab ich ganz sicher keinen mechanischen Aufprall veranstaltet“, gab ich zu bedenken. „Und gestern Abend war das Telefon noch in Ordnung, das ist erst heute passiert.“
„Das ist mechanisch beschädigt, darauf ist keine Garantie“, sagte sie.
„Wie kann das denn mechanisch beschädigt sein, wenn da außen nicht mal ein Kratzer dran ist?“, fragte ich.
„Es ist mechanisch beschädigt, darauf ist keine Garantie“, antwortete sie, und während des darauf folgenden Dialogs benutzte sie diesen Satz noch mehrfach.
„Mechanisch beschädigt ist es nicht, weil ich nirgendwo angestoßen bin“, wiederholte ich.
„Das behaupten Sie! Aber wir sagen Ihnen, dass es mechanisch beschädigt ist“, beendete sie die Diskussion.
Für einen Moment kam mir eine stechend scharfe Einsicht: Ich befand mich mitten in einem komplex strukturierten Spiel, ohne die Möglichkeit, auch nur annähernd die Regeln herauszufinden. Dafür hatte ich diesen kupferartigen Geschmack im Mund. Kurzschlüsse. Drähte. Verschmorter Staub in den Halbleitern. Zähflüssige Wände, in die man die Hand bis zum Ellbogen hineinstecken konnte. Schwankende Fußböden. Plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Räume, wo irgendetwas vor sich ging. Ein definitiv gestörtes Gleichgewicht von Säuren und Basen.
Die Maus ihrer Herren musterte mich kalt. Auf einmal sah ich, dass sie genau wusste, was in mir vorging. Dass so etwas bei ihr an der Tagesordnung war. Ich starrte sie an. Sie erwiderte meinen Blick mit porzellanhafter Gleichgültigkeit.
„Na gut. Dann hinterlegen Sie eben eine Anzahlung in Höhe von fünftausend Kronen und wir schicken es für Sie zur Reparatur ein. Aber früher als in drei Monaten wird das nichts“, erbarmte sie sich meiner, streng nach Vorschrift.
Ich spürte, wie sich in meinen Eingeweiden die Paranoia regte. Ich spürte, dass ich gern etwas tun würde, was man als einen Grund zum Rufen eines Rettungswagens qualifizieren könnte. Also machte ich lieber kehrt, ging über die Straße, stieg in die Metro und fuhr direkt ins Siemens-Center nach Dejvice.

„Das ist mechanisch beschädigt, darauf ist keine Garantie. Für dreitausend können wir Ihnen aber das Display auswechseln, und in acht Wochen ist alles fertig“, sagte mir ein achtundzwanzigjähriger Edel-Schönling, dem ins Gesicht geschrieben stand, was er mochte und was nicht. Eishockey. Urlaub in Spanien. Autos. Idioten.
„Ich kotz Ihnen gleich hier hin“, sagte ich zu ihm.
„Das ist Ihr gutes Recht“, antwortete er und lächelte mich milde an.
Damit war unsere Unterredung beendet.
In der Metro saß mir ein Mann gegenüber, tief versunken in das Buch „Fragen und Antworten“. Jedes Mal las er ein Stück, zog ein finsteres Gesicht, starrte vor sich hin, dann drehte er das Buch auf den Kopf, las wieder etwas, zog zufrieden die Augenbrauen hoch, drehte das Buch zurück, las einen Satz und zog erneut ein finsteres Gesicht.

In der Straße, in der ich wohne, gibt es einen kleinen Handy-Laden. Ich drückte die Tür auf und ging hinein, mit der Absicht, je nach Möglichkeit bloß ein bisschen mein Leid zu klagen. Auf den Ladentisch stützte sich ein Verkäufer in einem Kittel und schwitzte. „Ach herrjeh“, begrüßte er mich, „das sieht nach Display Auswechseln aus.“
„Ich weiß“, seufzte ich.
„Das wird sie min-des-tens achthundert Kronen kosten!“, redete er weiter. „Und gleich machen kann ich es auch nicht.“
„Und bis wann?“, fragte ich.
„Na frühestens, aber wirklich frü-hes-tens übermorgen …“, antwortete er.
Ich gab ihm das Telefon und einen Tausender, obwohl er überhaupt keine Anzahlung haben wollte, und ging spazieren. In meinem neuen Sakko. Bei Tageslicht hatte es eine herrlich unauffällige graugrüne, leicht ins Blaue gehende herbstliche Farbe. Ich steckte die Hände in die Taschen. In der einen ertastete ich etwas. Ich zog ein Päckchen runde Aufkleber hervor. Es waren fünf und auf allen stand: I love Pupendo! Wie die in meine Jackentasche gekommen waren, wusste ich auch nicht. Ich sah mich um, suchte mir einen blank gewienerten Schlitten aus und klebte sie ihm alle auf die Frontscheibe.

Als ich gerade durch die Bezruč-Anlage ging, fingen im gesamten Prager Kessel die Sirenen auf den Dächern und in den Fabriken an zu heulen. Zwei nach Mottenkugeln duftende Baronesschen, die ein Stück vor mir mit den Sohlen ihrer beigefarbenen orthopädischen Schuhe über den Kies knirschten, blieben stehen und schauten sich empört um. „Die probieren die Sirenen aus“, verkündete die eine und zupfte sich ihre voluminöse, weiche Tolle zurecht, so als würde davon das Schicksal der Welt abhängen. „Oder schon wieder irgendein Jahrestag“, sagte die zweite.
Auf dem Fußweg kam mir ein junges Mädchen mit kurz geschnittenen Haaren entgegen. Ihr Gesicht war übersät mit geröteten Pickeln und in den Armen trug sie einen großen schwarzen Hund. Der wimmerte und leckte ihr die Hand. Ihr T-Shirt starrte vor Blut. Aus einer Wunde am Rücken hinter dem Hals ragte dem Hund ein Pfeil heraus. Das Blut tropfte ununterbrochen auf den Weg.
„Jemand hat mir meinen Hund erschossen“, sagte sie.
„Wo denn?“, fragte ich unsinnigerweise.
„Hier um die Ecke im Park … Können Sie jemand rufen?“
Der Hund zitterte und lag sichtlich in den letzten Zügen.
„Wie ist das denn passiert?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht“, sagte das Mädchen. „Ich weiß nicht! Ich hab nur so ein Schwirren gehört, ich weiß nicht …! Können Sie jemand rufen?“
Ich machte ein paar Schritte in Richtung Kreuzung und winkte ein Taxi heran. Der Knabe hinterm Lenkrad glitt an die Bordsteinkante heran und schaute mich fragend an.
„In die Tierklinik“, zeigte ich auf das blutverschmierte Mädchen mit dem Hund.
„Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst“, antwortete er, machte die Tür zu und fuhr weg.
„Und könnten Sie nicht probieren ihm das rauszuziehen?“, fiel dem Mädchen ein. „Ich halt ihn fest. Halt still, Bubánek, mein Liebling, der Mann will dir helfen …“
Der Pfeil war kurz und dick, mit Stabilisierungsflügeln aus Plastik am Ende, höchstwahrscheinlich aus irgendeiner Armbrust, die sie jetzt überall haufenweise verkauften. Er steckte fast komplett in der Wunde. Ich versuchte ihn anzufassen. Der Hund jaulte fürchterlich und das Mädchen schrie auf.
„Das wird nix“, sagte ich.
Sie setzte sich auf die Bordsteinkante. Den Köter hatte die ins Gras gelegt. Er zitterte und röchelte. Sein linkes Vorder- und Hinterbein zuckten, als würde er versuchen, vor all dem wegzulaufen. Das Mädchen strich ihm über den Kopf. „Den hat jemand erschossen“, sagte sie immer wieder. „Den hat jemand erschossen.“
Ich setzte mich neben sie.
Am Ende blieb einem nichts weiter übrig, als an sich selbst eine Vivisektion durchzuführen, fiel mir ein, während das Mädchen den Hund streichelte. Aber man musste es unparteiisch tun, das heißt: mit einer gewissen Portion Zynismus, fiel mir ein, während der Hund immer heftiger zitterte. Denn würde man das voller Genugtuung oder sogar voller Freude tun, dann würde man entweder zu einem Deppen oder zu einem Snob, fiel mir ein.
In diesem Moment gab der Hund einen Laut von sich, der sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Etwas zwischen einem verzweifelten, fast schon menschlichen Lallen und dem vergeblichen Versuch zu sprechen. Danach war er evident tot. Das Mädchen hörte nicht auf ihn zu streicheln. Ich stand auf und ging. Nach einigen Schritten drehte ich mich um. Das Mädchen schaute mir nach. Sie war wirklich ausgesprochen hässlich. Sie hatte gebleichte Haare, unter denen hervor das ursprüngliche helle Mausblond nachwuchs.
„Ihr seid alles Schweine“, sagte sie ganz leise.
„Ich weiß“, sagte ich.
Aus: “O létajících objektech” (Von Flugobjekten)
© Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, 2005
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