Marka Míková

Spalten

2014 | Argo

Es ist schwer zu sagen, wann sich diese Geschichte abgespielt hat. Als sicher gilt

nur, dass zu der Zeit seltsame Dinge geschahen. Hin und wieder zeigten sich

Spalten – in Häuserwänden, in der Erde, sogar in Betten. Man hatte das Gefühl,

dort in andere Welten und andere Zeiten hindurchgehen zu können. Und manche

Menschen, insbesondere Kinder, taten das auch. Vor allem Matylda.

 

Der Anfang

Am Anfang war vieles undeutlich. Alle hatten zu der Zeit das Gefühl, nicht gut

sehen zu können. Es muss am Nebel liegen, meinten die Leute. Und tatsächlich

wälzte sich so eine graue Kruste über der Stadt. Man konnte die Hand vor den

Augen nicht sehen, insbesondere morgens. Die Umrisse der Häuser waren seltsam

verschwommen. Die Leute stießen gegeneinander, manchmal sogar gegen

Gebäude oder Straßenlampen oder Abfalleimer.

Dann hörte man sie schimpfen wie:

Zum Wolkenkuckucksheim, ist das hier normal?

Oder: Igelsbrille, das gibt es doch gar nicht!

Oder: Donnerveilchen, mich trifft der Schlag!

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Die Autos konnten nur im Schritt fahren, weil Fußgänger urplötzlich auf der

Fahrbahn erschienen, wie wenn ein Schatten fallen würde. Von überall her hörte

man Hupen und Schimpfen.

Damals fing sie an, die merkwürdige Geschichte rund um Matylda. Damals zeigte

sich der erste Spalt. Es geschah an einem Herbsttag, als der Vater sie in das

Geschäft nebenan schickte, um ein paar Dinge zu kaufen: Milch, Butter, Eier, ein

Stück Wurst, Brot und zwei Bier vielleicht, falls man sie Matylda verkaufen

würde.

Klar, sagte Matylda, schnappte sich eine Tüte, die unter dem Kleiderständer

herumlag, nahm Vaters Geldbeutel und ging hinaus.

Nun, und im Treppenhaus verschwand sie dann.

Zunächst ging das Licht aus, und so tastete sie an der Wand nach dem

Lichtschalter und konnte ihn nicht finden. Statt des Lichtschalters aber ertastete

sie einen seltsamen Spalt in der Wand. Als ob ein Ziegel herausgefallen wäre.

Zuvor war ihr niemals etwas Ähnliches im Treppenhaus aufgefallen. Unter den

Fingern spürte sie, dass es aus dem Spalt kalt zieht. Sie zuckte weg und suchte

weiter nach dem Lichtschalter. Endlich fand sie ihn und drückte. Klick, war zu

hören, und nichts. Sie klickte ein zweites und ein drittes Mal, wieder nichts.

Vielleicht ist die Glühbirne geplatzt oder die Sicherung herausgefallen, dachte sie

bei sich, und ging im Dunkeln in die Richtung los, wo sie den Aufzug ahnte.

Dabei berührte sie die Wände. Nach einer Weile stieß sie wieder auf den Spalt.

Vermutlich lief sie einmal um den Gang herum. Diesmal aber schien der Spalt

größer zu sein als das erste Mal. Eine Weile untersuchte sie ihn mit den Fingern

und dann hörte sie ein Jammern. Vielleicht ist eine Katze in den Spalt hinein

gefallen?, fiel ihr ein. Die Arme.

Mietz, mietz, rief sie.

Iiiinja, war die Antwort.

Matylda suchte den Spalt mit der Hand ab. Unten war er etwas breiter. Sie konnte

sogar einen Fuß hineinstecken. Matylda befühlte mit der Fußspitze das Innere des

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Spalts. Der Fußboden dort schien fest zu sein und sogar weich, fast wie ein

Teppich. Matylda duckte sich etwas und schlüpfte ganz in den Spalt hinein. Au ja,

grinste sie, jetzt bin ich in der Katzenwelt.

Ciao, hörte sie aus der Ecke. Oder träumte das Matylda nur?

Wie bitte? stieß sie heraus.

Hab’ dich nicht so, war die Antwort.

Matylda runzelte die Stirn. Tiere reden nicht, da geht meine Phantasie wieder

einmal mit mir durch, belehrte sie sich selbst. Langsam fand sie sich zurecht. Was

sie sah, war ein nettes Zimmer. Ein Teppich auf dem Fußboden, Bilder an den

Wänden und auf den Bildern die unterschiedlichsten Raubtiere – Tiger, Löwen,

Geparden, Panther –, mitten im Zimmer ein Tischchen und in der Ecke ein Sofa.

Von der Decke herab schaukelte ein Kronleuchter mit Glasschmuck. Abwechselnd

warf er Schatten und Licht auf die Raubtiere. Das hat wohl der Durchzug

verursacht. Es duftete nach Lavendel, und es war sogar Musik zu hören. Irgendwo

spielte jemand Klavier. Wie ich, lächelte Matylda, denn genau dieses Stück übte

sie gerade.

Iiinja, hörte sie wieder, und nun merkte Matylda, dass auf dem Leuchter ein Tier

an seinem Schwanz hängt. Es sah wie eine Katze aus, aber es war keine Katze, es

war weiß und auf der Brust hatte es einen schwarzen Flecken, es hatte eine

längliche Schnauze und Augen wie Glasperlen. Es war ein Frettchen.

Oh je, entfuhr es Matylda. Wie bist du Ärmstes da hingekommen? Das Frettchen

warf ihr einen scharfen Blick zu und jammerte erneut: Iiiinja.

Also, ich weiß nicht, wie ich dich da hinunterholen kann, murmelte Matylda vor

sich hin. Sie stieg auf das Tischchen und zog sich hoch so weit sie nur konnte.

Keine Chance, dort reiche ich nicht hin.

Nach einer Weile sprang sie hinunter auf den Schemel. Dann nahm sie ihn und

stellte ihn vorsichtig auf den Tisch, als sie aber versuchte hinaufzuklettern, stieß

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sie die Schale mit der Milch fast um. Iiiinja, hörte sie wieder von oben und es

klang ein bisschen wie Tollpatsch.

Matylda drehte sich hastig um. Das kann doch nicht sein, dass ein Frettchen

tatsächlich spricht. Und nun wird es auch noch frech. Jetzt sagte es, ich sei ein

Tollpatsch. Matylda maß es streng mit den Augen, aber das Frettchen war jetzt

still, es winselte nur verzweifelt. Unsinn, dachte Matylda bei sich, als ob es reden

könnte, das scheint nur so.

Bald ist es soweit, du armes Ding, tröstete sie es, wobei sie vorsichtig auf den

Schemel trat. Jetzt war das Frettchen in Griffweite. Sie hob die Hände, um es zu

befreien, stieß dabei aber auf den Glasschmuck, der vom Leuchter herabhing und

jetzt zu klimpern anfing. An den Wänden tänzelten bunte Spiegelungen und

huschten die Schatten des Frettchens und Matyldas Figürchens. Der ganze Raum

wurde plötzlich hell. Nur über die Bilder, aus denen die Raubtiere blickten, flogen

Schatten. Matylda wurde es ein bisschen schwindelig. Auch taten ihr die Arme

weh, die sie schon eine Weile gestreckt hielt. Trotzdem war es nicht leicht, das

Frettchen herunter zu holen. Es hielt sich mit den Klauen fest. Matyldas Augen

wanderten über die Bilder der Raubtiere, die wie lebendig aussahen. Wohin auch

immer sie sich bewegt hat, die Tiere blickten sie stets direkt an. Fast glaubte sie,

ein leises Knurren zu hören. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden. Da ließ das

Frettchen los und fiel direkt auf Matylda. Die fing zu taumeln an, verlor das

Gleichgewicht, die Milch aus der Schüssel vergoss sich, die Kekse verstreuten

sich und Matylda fiel vom Schemel und vom Tisch und haute sich am Sofa, auf

dem sie liegen blieb.

Iiinja, sagte das Frettchen zufrieden, schüttelte sich, wedelte kurz mit dem

Schwanz und weg war es.

Das hat man davon, wenn man helfen will, dachte sich Matylda, während sie ihr

angestoßenes Bein begutachtete. Das wird einen blauen Flecken geben! Eine

Weile ruhte sie sich aus und wartete, bis es aufhört weh zu tun. Dabei betrachtete

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sie erneut die Bilder, diesmal von unten. Die Raubtiere schienen sie zu

beobachten. Von der einen Seite die Löwin, von der anderen der Tiger, in der

Mitte der schwarze Panther, der Gepard und der Jaguar und auf einem der Bilder

das Frettchen. Matylda kam es vor, als ob sie Knurren und Brummen hören würde

und es schien sogar zu stinken wie im Tiergarten.

Da hörte sie irgendwo ganz aus der Nähe: Matylda!

Der Papa! durchfuhr es sie. Sofort war sie auf den Beinen und sah sich um, wo es

hinausgeht. Wo war nur der Spalt, durch den sie hineingekrochen war? Nervös lief

sie im Zimmer herum und konnte ihn nicht finden. Auf einmal fiel ihr auf, dass

von unterhalb des Sofas Licht herauskommt. Na bitte, wunderte sie sich, also dort

bin ich hier hereingekommen, das hätte ich nicht geglaubt. Sofort war sie auf allen

Vieren und schob sich unter das Sofa. Und tatsächlich, dort war ein Spalt und es

war überhaupt nicht schwer sich nach draußen hindurchzuschieben. Auf einmal

war Matylda wieder im Treppenhaus und das Licht ließ sich wie gewohnt

anmachen. Kurz gesagt, man konnte das alles eigentlich kaum glauben und

Matylda lief die Treppe hinunter und dann hurra nach draußen. Sie flitzte aus dem

Haus wie verrückt, mit groß aufgerissenen Augen, dabei rannte sie fast den

kleinen Jakob aus dem Erdgeschoss um.

Verzeih, verzeih, entschuldigte sie sich.

Nein, du verzeih, verzeih, protestierte er.

Das Licht ging nicht, erklärte sie.

Echt? Jetzt geht es, wunderte sich Jakob und zeigte auf das Licht im Haus.

Ich weiß, feixte Matylda. Seltsam.

Ja, seltsam, stimmte Jakob zu und rannte davon.

Matylda schüttelte den Kopf. Es kam ihr vor, als ob sie gerade vom Mond gefallen

wäre. Dann erinnerte sie sich, dass sie eigentlich einkaufen gehen sollte und fing

zu laufen an.

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Im Geschäft kaufte sie Milch, Butter, Eier und Brot, sogar zwei Bier, wie der

Vater gewollt hatte, auch wenn er daran zweifelte, dass Matylda sie kaufen kann,

weil es doch verboten ist, Alkohol an Kinder zu verkaufen. Nur die Wurst vergaß

sie völlig. Daran erinnerte sie sich erst, als sie fast am Haus war und blieb stehen.

Zurücklaufen? Oder nicht?

Matylda, rief der Papa aus dem Fenster und so beschloss sie, nicht

zurückzukehren. Lieber nahm sie drei Stufen auf einmal, um so schnell wie

möglich oben zu sein.

Wo warst du so lange? Er stand in der Tür mit Händen auf den Hüften. Dann

schnappte er die Tasche und wühlte darin eine Weile. Und wo ist die Wurst?

Die habe ich vergessen, entschuldigte sich Matylda. Ich springe noch schnell hin,

wenn du magst. Der Vater öffnete inzwischen das Bier. Ja, spring hin, sagte er

schon etwas sanfter, weil er einen Schluck genommen hat. Aber in einer Sekunde

sollst du zurück sein.

Ja-a, sagte sie und warf die Tür hinter sich zu. Im Treppenhaus war es wieder

dunkel und Matylda interessierte jetzt am meisten, ob sie den Spalt wiederfinden

würde.

Und knall’ nicht so mit der Tür!, lief der Vater noch hinter ihr hinaus, wartete aber

nicht auf ihre Antwort und schlug die Tür gleich wieder zu. Er schlug sie

vielleicht sogar noch etwas heftiger zu als sie vor einer Weile. Dann war es still.

Matylda stand nun in der Dunkelheit und tastete nach dem Lichtschalter. Diesmal

fand sie ihn spielend, aber sie drückte nicht. Mit den Fingern suchte sie nach dem

Spalt. Es musste irgendwo hier gewesen sein, sagte sie zu sich, fand aber nichts.

Habe ich das alles nur geträumt?, wunderte sie sich.

Jakob, mach das Licht an!, war plötzlich von unten zu hören und in dem Moment

wurde das ganze Haus erleuchtet. Matylda betrachtete aufmerksam die Wände im

Gang, sie waren schön weiß, nirgendwo konnte sie ein Stück abgefallenen Putz

oder etwas Ähnliches entdecken. Sie warf den Kopf zurück, lief die Treppe

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hinunter, flog wie ein Blitz ins Erdgeschoss, lief vors Haus hinaus und rannte zum

Lebensmittelladen. Im Laden stand schon der kleine Jakob und wollte ein Stück

Wurst. Matylda musste lachen. Er ist wie ich mit dem Papa allein zu Hause,

dachte sie sich. Wäre die Mama zu Hause, würde er nicht Wurst holen gehen. Und

ein Bier bitte, platzte Jakob heraus zum Schluss.

Ist es für den Vater?, fragte der Verkäufer streng.

Für den Vater, nickte Jakob.

Der Verkäufer zögerte eine Weile und dann gab er ihm das Bier. Hier ist es, sagte

er, und das nächste Mal soll der Papa selbst kommen, fügte er stirnrunzelnd hinzu.

Ich kenne ihn, er ist von unserem Haus, bestätigte Matylda und Jakob blickte sie

dankbar an.

Na gut, meinte der Verkäufer, lächelte und zählte die Rechnung zusammen.

Jakob zahlte, ging hinaus und stand dort herum. Er wartete auf Matylda. Eine

Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

Hast du den Nachtfalter gesehen?, unterbrach Jakob die Stille.

Nein. Was für einen?, wunderte sich Matylda.

Den großen, antwortete er und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Sie zögerte etwas und dann sagte sie: Ich habe ein Frettchen gesehen.

Oh, staunte er. Ich habe nur einen Nachtfalter gesehen, aber der war…

Ich habe ein Frettchen auf einem Kronleuchter gesehen, platzte es aus Matylda

heraus und sofort bereute sie es, weil sie das eigentlich für sich behalten wollte.

Da waren sie schon am Haus.

Ich habe einen Nachtfalter gesehen so groß wie eine Hand. Er sah aus wie von

einem anderen Planeten, sagte noch Jakob.

Hm, brummte Matylda.

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Also Tschüss, verabschiedete sich Jakob und verschwand.

Matylda nahm die Stufen zu zweit und fiel einige Stockwerke höher in die

Wohnung hinein.

Schon im Flur war Fußball aus dem Fernsehen zu hören. Der Vater saß breit auf

dem Sofa, trank Bier und schrieb dabei etwas auf dem Computer.

Schneidest du sie?, fragte er, ohne den Kopf zu heben.

Ja-a, sagte Matylda.

Toooor!, hörte man von draußen, denn in diesem Moment haben wohl alle Fußball

geschaut und Papa ging auf den Balkon mit dem Bier in der Hand, um zu sehen,

wer alles schaut, und dann rief er: Wir zeigen’s ihnen!

Matylda bestrich Brotscheiben mit Butter und legte die Wurst darauf.

Der Vater kam zurück ins Wohnzimmer. In der Tür drehte er sich um und schrie:

So ein Nebel wieder, gell?

Und jemand von der anderen Straßenseite antwortete: Das kannst du glauben!

Der Vater lächelte und biss in das Wurstbrot hinein. Morgen drehe ich den ganzen

Tag, wandte er sich Matylda zu.

Ich trete auf in diesem Konzert, piepste sie.

Ach ja, du hast ja dieses Konzert… Hoffentlich schaffe ich das, Mädchen…

zweifelte der Vater und biss wieder ins Brot. In dem Moment fing die zweite

Halbzeit an und der Papa vertiefte sich ins Fernsehen und den Computer und sagte

nichts mehr. Matylda aß ihr Brot zu Ende, wünschte ihm eine gute Nacht und

verschwand in ihrem Zimmer.

 

aus dem Tschechischen von Maria Sileny