Lucie Faulerová

Staubfänger

2017 | Torst

drei

Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr. Klar, morgens wache ich einigermaßen schlecht gelaunt auf, aber wer, mit Ausnahme meiner Chefin, strahlt morgens denn schon? Und außerdem, wem würde es gefallen, von einem Hustenanfall geweckt zu werden? Ich spüre ein Kratzen im Hals, meine Nebenhöhlen sind verstopft, manchmal steigt meine Temperatur, na, bin ich halt krank. Also, ich werde wach, frühstücke, und bevor ich ins Bad gehe, beschließe ich im letzten Moment sogar, mich ein klein wenig, ja wirklich, ein klein wenig, aber immerhin, nicht wahr, zu bewegen, meine Glieder ein bisschen zu dehnen, dabei werfe ich unabsichtlich eine Flasche vom Tisch, diese geht kaputt, dann trete ich unabsichtlich auf eine Scherbe, verteile im Gehen Blut über den Teppich, wenn schon, denn schon. Vor dem Spiegel reibe ich mir etwas Salbe auf die wunde Nase, träufle mir irgendwelche Wundertropfen in meine Augen, die voller Schnupfen sind, und mache mich auf den Weg in die Arbeit. Die paar Haltestellen gehe ich zu Fuß, das ist jetzt meine Routine, ich habe festgestellt, dass das besser ist, als in der muffigen Straßenbahn zu sitzen, wo aus allen noch der Schlaf stinkt, außerdem, warum soll man sich nicht mal was Gutes tun, warum nicht ein bisschen frische Luft aufsaugen, bevor ich mir meine halbstündige gesunde Lebensweise dann mit einem Zigarettenduo vor der Pforte verderbe. Dana ist in dem Moment immer in Gedanken bei mir – ich mache das Fenster auf und werfe meine Schwester hinaus, dann schließe ich die Tür und kann in Ruhe zu Ende rauchen.

Und noch friert es nicht, doch der Winter ist nicht mehr weit, auch wenn immer noch Herbst ist, solch ein Herbst, bei dem sich Regen über der Stadt ergießt und die Blätter langsam ihre goldene Farbe verlieren, wie mein Erzähler sagen würde, na, aber es ist immer noch Herbst, nicht wahr, sage ich, Herbst bedeutet, es ist nicht Winter.

In der Arbeit angekommen will ich dann in den Aufzug einsteigen, aber dann überlege ich es mir anders, ich muss doch keine Bazillen mit anderen Leuten austauschen, nein, die haben was, ich habe was, wenn man das addiert, kann das nur schaden, ihnen ganz sicher, aber was gehen die mich an, mir tut es bestimmt nicht gut. Unterwegs zu meinem Koben fängt mich meine Chefin ab, das machte sie die letzten paar Tage jedes Mal, es folgt eine fünfminütige Überzeugungsarbeit, dass ich schon in Ordnung bin, dass ich ja schon eine Woche zu Hause herumgelegen bin und es mir wirklich nicht mehr schlecht geht, im Gegenteil. Und dann drehen wir uns um, ein ganz normaler Alltag, Anrufe und Anrufe und schönen Tag und auf Wiederhören, acht Stunden Arbeit, drei fünfminütige Rauchpausen und circa zehnmal aufs Klo gehen, tja, wenn ich krank bin, habe ich Durchfall. Außerdem schlucke ich jetzt dauernd diese Tabletten gegen Grippe, die kennen Sie bestimmt, für die gibt es so eine witzige Werbung, bei der ein Mann im Bett etwas murmelt, und seine Frau gibt ihm dann, geistesgegenwärtig und mit perfektem Makeup mitten in der Nacht, eine Schachtel von diesen Pillen, vermutlich holt sie die unter dem Kopfkissen hervor, und tada – da sind sie, der Mann schiebt sich eine rein, dann gibt es eine kurze Demonstration für Dumme, ein computeranimiertes Männchen, dem man ins Innere des Körpers sehen kann, verschluckt eine Tablette, und alle Stellen, die rot blinken, werden auf einmal blau, Schnitt zurück auf den Mann, wie glücklich er ist, ohlala, er strahlt von einem Ohr zum anderen, Schnitt, jemand niest, neben ihm in der Arbeit oder an der Haltestelle oder wo auch immer, und der Mann bietet ihm diese Wunderpille an. Naja, genau diese super Schachtel habe ich vor mir, ohne Makeup und ohne strahlendes Lächeln, das wäre schon etwas zu viel verlangt. Die Schicht geht zu Ende, tschüs, tschau, baba, gute Besserung. Anna, keine Angst, ich bin wieder auf den Beinen, den Kaffee mit meiner Schwester per SMS absagen, nicht dass ich die Kinder anstecke, das will ich nicht hören, na und dann noch ein paar Lebensnotwendigkeiten einkaufen. Und dann zu mir.

Na und was dann. Dann bin ich bei mir, esse zu Abend, schau vielleicht einen Film und geh schlafen. Ganz einfach.

Einen Scheißdreck.

 

An einem dieser herbstlichen Mittage, an dem sich Regen über der Stadt ergießt und die Blätter langsam ihre goldene Farbe verlieren, an einem dieser herbstlichen Mittage saß eine junge Frau, na auch wenn schon etwas über ihre Jungend/ihr Alter gesagt wurde, oder, also an einem dieser herbstlichen Mittage saß sie an einem Tisch in einem Restaurant. Es war so ein quadratischer Tisch für vier Personen, aber sie saß dort ziemlich allein, vielleicht mehr als allein, und vielleicht fällt Ihnen auf, dass das ein ziemlich trauriger Anblick einer Frau ist, die auf die dreißig zugeht und aussieht wie ein bedeutungsloses Pünktchen in einem Restaurant, wo rund um sie herum alles besetzt ist, ein trauriger Anblick einer Frau, die aussieht wie ein bedeutungsloses Pünktchen in einem Restaurant, in das alle anderen gekommen sind, um gemeinsam zu Mittag zu essen, zu sprechen und ein paar angenehme Momente zu verbringen, an einem dieser herbstlichen Mittage, an dem sich Regen über der Stadt ergießt und die Blätter langsam ihre goldene Farbe verlieren.

Diese junge Alte sitzt ruhig da und wartet, dass ihr die Bedienung das Essen bringt, denn sie ist die einzige der Gäste, vor der noch kein voller Teller steht. Jedes Mal, wenn der Kellner an ihr vorbeihuscht, dreht sie sich um, doch er bemerkt sie nicht und bedient die anderen, die schon alles haben, und die er nur mehr schwer mit etwas bedienen könnte. Die Frau sitzt gekrümmt an einem leeren Tisch mit weißem Tischtuch – nein, mit blauem – nein, weißem … cremefarbigem? Das hatten wir schon … an einem leeren Tisch ohne Tischtuch und auf einmal, in einem Moment ihrer Unaufmerksamkeit, erscheint ein Teller, darauf ein Häufchen schwer identifizierbares Essen, vielleicht Spaghetti, vielleicht mit Bolognese-Sauce. Sie hat Hunger, sie hat wirklich Hunger, und so verschlingt sie den ersten Bissen, doch der bleibt ihr im Hals stecken. Sie kann nicht schlucken, sie kann es auch nicht ausspucken. Eine Pattsituation, hehe, was jetzt, hm. Im ersten Moment fällt ihr ein, dass sie trinken muss, aber im Vorbeigehen stößt der Kellner ihr Wasserglas vom Tisch, also greift ihre knöchrige Hand ins Leere. Schnapp und nichts. Die Frau greift sich an die Kehle, steht auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Niemand bemerkt sie. Niemand bemerkt die erstickende Frau – na gut, sie hat noch zwei Jahre, bis sie dreißig ist, aber die wird sie wohl nicht mehr erleben – niemand bemerkt sie, an einem dieser herbstlichen Mittage, an dem sich Regen über der Stadt, dem Haus, dem Tisch, den Stühlen … Sie torkelt zum Kellner, der gerade freundlich mit den Damen am Nebentisch kokettiert, sie klopft ihm mit der Hand auf den Rücken, doch er stößt sie weg, ohne sich nach ihr umzuschauen, er stößt sie weg, als würde er eine Fliege vertreiben, und so steht die Frau in der Mitte eines schönen Restaurants, in dem jeder Tisch besetzt ist, wo kein einziges Plätzchen frei ist, inklusive dem, das soeben nach ihr frei wurde und an das sich neue Gäste setzen, zu denen sich der Kellner betriebsbereit umdreht, was wünschen sie, fragt er, und so steht die Frau in der Mitte eines Restaurants, in dem niemand allein zu Mittag isst, wo alle essen und trinken und sich unterhalten und lachen, na stellt euch das einfach vor, vielleicht spielt hier irgendwo jemand auf dem Klavier, und die Musik passt zur Atmosphäre des heutigen Mittags, während die Frau würgt und röchelt und ihre Wangen lila werden (endlich nehmen sie etwas Farbe an), während die Frau schweigend nach Rettung verlangt. Da fällt sie zu Boden. Also liegt sie auf dem Boden und alle essen weiter und alle lachen weiter und niemand bemerkt sie und der Kellner kokettiert fertig und überschreitet sie (wie einen lila Teppich) und die Erde dreht sich und die Sonne scheint und die Zeit bleibt nicht stehen und hinter den Fenstern haben wir immer noch diesen schöner Mittag, ganz einfach einen dieser herbstlichen Mittage, an dem sich Regen über der Stadt ergießt und die Blätter langsam ihre goldene Farbe verlieren.

 

Mein eigener Husten weckt mich, oder ich wache auf und fange dann zu husten an, oder ich habe bereits schon lange zuvor gehustet, bevor ich aufgewacht bin, oder es ist völlig egal, es ändert nichts an der Tatsache, dass mir das Schlimmste passiert ist, was passieren konnte, nämlich, dass ich aufgewacht bin. Ich nehme mir die Schlafmaske von den Augen. Nein, ich schlafe bestimmt nicht in einer lieblichen Satin-, Baumwoll- oder Wasweißichschlafmaske, nein, meine Schlafmaske schaut nicht so aus wie die von dieser Tussi mit den lockigen Haaren aus Sex and the City, sie schaut auch nicht so aus wie die Karnevalsmasken, von denen Venedig voll ist – wie die, die schief über meinem Bett im Schlafzimmer hängt und die vielleicht schon von den Staubablagerungen heruntergeworfen wurde. Diese Schlafmaske ist so eine blaue, aus Gel, die man in den Gefrierschrank legt, und dann zieht man sie über den Kopf, gibt sie auf die Augen und sie kühlt einen dann für ein paar Stunden. Das ist gut gegen Schwellungen. Zum Beispiel gegen Schwellungen, die durch Weinen entstehen und so stark sind, dass einen das halbe Gesicht aufquillt, also zum Beispiel für sowas ist das ideal, falls Sie das nicht wussten, also falls Sie so leistungsstark sind wie ich, und Ihnen sowohl in Bezug auf Qualität als auch auf Quantität alles meisterhaft gelingt, dann ist diese Maske Ihre einzige Chance, um am nächsten Tag beispielsweise den Luxus des Lidschlags zu beherrschen. Der Lidschlag ist ein unbewusster physiologischer Prozess, bei dem es zum wiederholten Öffnen und Schließen der Augenlider kommt, bei dem die Oberfläche der Hornhaut und der Bindehaut mit Tränenflüssigkeit benetzt werden, die unerwünschte Mikroorganismen, abgestorbene Zellen und anderes ekelhaftes Zeugs entfernt; und im Durchschnitt blinzelt ein durchschnittlicher Mensch durchschnittlich zehn Mal pro Minute, ein durchschnittlicher Lidschlag dauert durchschnittlich ein Viertel einer durchschnittlichen Sekunde.

Ich schmeiße die Maske auf den Tisch und setze mich auf die Couch, mache die Nummer aus, die die ganze Nacht lang im Repeat-Modus auf dem Computer gelaufen ist, und schalte den Fernseher ein. Ich nehme die Schachtel Brufen vom Tisch, schwupps die erste, schwupps die zweite, dabei denke ich immer an meine Mutter. Wie dramatisch sie Tabletten verschlucken konnte. Sie legte sich eine Pille auf die Unterlippe und zog sie mit der oberen in den Mund und dann schloss sie die Augen und dann zog sie sie den Kopf mit einer geübten Geste zurück und dann trank sie Wasser aus einem Glas und dann wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund ab. So manifestierte sie, dass sie mit diesen Tabletten bereits ein Herz und eine Seele ist. Ein Ventil und pschhhhhh. Lass es fließen, gluckgluckgluck.

Ich schlucke die Tablette trocken, aber meine Zunge bleibt am Gaumen kleben, und so greife ich nach einer Flasche Mineralwasser, die auf dem Boden steht, schlucke paar Mal und stelle die Flasche neben eine Weinflasche auf den Couchtisch. Ein Couchtisch, aus dem Splitter herausragen, der Lack ist längst ab, und überall deutlich sichtbar runde Abdrücke von Gläsern und Tassen, drei Spuren vom Zigarettenausdrücken, die mit einem Messer eingeritzte Zahl Acht und ein Fleck vom Nagellackentferner.

Diesen Teil des Tages habe ich eigentlich am liebsten, also, was diese neuen Tage betrifft, diese Tage mit der Zeitrechnung „nach dem Vorzimmer“. Weil mein Gehirn noch schläft, weil ich so angenehm abgestumpft bin und nichts fühle, nur biologische Bedürfnisse, diese schändlichen und automatischen Bedürfnisse, die ich beispielsweise mit den Affen gemeinsam habe, beispielsweise auch mit dem Schwein, wir sind jetzt fabelhaft auf einer Ebene und das reicht mir. Ich starre noch ein Weilchen auf die Flasche und auf die Bläschen, die zur Wasseroberfläche aufsteigen, wo sie platzen, und entschließe mich zur feierlichen Eröffnung des Tages, was mich erwartet, was sich schon durch laute Bewegungen bemerkbar macht, ich entschließe mich zur Zeremonie, die durch ihre Einleitung gut in die Atmosphäre meines Lebens passt, und die Ernsthaftigkeit meines Lebens derart schön betont, ja, die so schön demonstriert, wie überfüllt meine Seele ist, wie voll ich bin von den Schönheiten dieser Welt, an denen ich mich so schamlos geweidet habe, und jetzt ist es an der Zeit, sie hinauszulassen. Sie fraß, verdaute, schied aus. An diesen neuen Tagen wacht mein Darm früher auf als mein Kopf. Doch nach der Zeremonie, nach diesem wunderbar-primitiv königlichen Ritus, nicht umsonst spricht man von der Toilette auch vom Thron, erwacht der Kopf, deshalb würde ich diesen Moment am liebsten verlängern, wenn ich nur könnte. Freud würde sich an mir laben, er würde sagen, dass ich gerade in der analen Phase der menschlichen Entwicklung sei, also bin ich de facto etwa drei Jahre alt, hurra, ich beginne schon, auf äußere Instanzen zu reagieren. Von der oralen Phase mit dem Fläschchen oder dem Penis im Mund bin ich weggekommen, hierher auf die Couch, und ich empfinde Lust beim Zurückhalten meines Stuhls, als Erwachsene werden der Verlauf und die Aneignung dieser Phase einen grundlegenden Einfluss auf mein Geben und Nehmen haben. Ich freue mich schon darauf. Ich stehe auf, warte, bis mir nicht mehr schwindelig ist, lege mein linkes Ohr an die linke Schulter, mein rechtes Ohr an die rechte Schulter, schaue mich im Wohnzimmer um, als würde ich über etwas nachdenken, ich denke sogar darüber nach, ob ich über etwas nachdenke, und werfe dann, mit einer anmutigen, aber schnellen Bewegung, die Weinflasche vom Tisch, bis es mir im Rücken kracht, die Flasche zerspringt und ich trete auf eine Scherbe, ohne zu wissen warum.

Wenn ich dann am Boden sitze, mit einem Bein in der Duschkabine, denke ich daran, dass alles anders ist. Mein ganzes System, meine eingeführte Routine, die mit den Krapfen zum Frühstück beginnt und mit einer One-Woman-Show in der Ecke zu Ende geht; von allen Seiten hat man mich ausgelacht, mir den Hintern entgegengesteckt, mir eine unanständige Geste gezeigt, gelacht, man hat die Tür zugeschlagen und ist verschwunden. Vor dem Spiegel reibe ich mir meine Nase ein, sie ist wund, weil ich sie ununterbrochen mit einem Taschentuch reibe; ich schütte Tropfen in meine Augen, denn einzig meine Lederhaut schafft es, zumindest ein bisschen weniger rot zu werden. Ich gehe jetzt immer zu Fuß in die Arbeit, denn in der Straßenbahn überkommen mich Anfälle blanken Entsetzens, während derer mein Herz zu klopfen beginnt und mit bewundernswerter Genauigkeit konzentriert gegen eine Stelle schlägt, an der ich bereits geprellte Rippen haben muss; Anfälle, während derer sich meine Stirn mit Schweiß beschlägt, meine Knie weich werden, mein Mund trocken, während derer ich kreischen und heulen will, und verrückt loslachen, jemanden schlagen, während derer ich nicht nach Luft schnappen kann. Unterwegs frühstücke ich ein Stück Weißbrot, denn mein Magen verträgt sonst nichts, bevor es nicht etwa zwei Uhr nachmittags ist. Ich kann nicht Mittagessen gehen, denn das letzte Mal war ich nicht einmal die Aufmerksamkeit des Kellners wert, ich bin fast erstickt, und kaum war ich aufgestanden, um selbst zur Bedienung zu gehen, hat sich jemand an meinen Platz gesetzt. Die einzige Gewohnheit, die ich beizubehalten fähig bin, ist das Zigarettenduo vor dem Eingang in der Arbeit. Und selbstverständlich ist Danas Kopf dort bei mir, schwingt nach rechts und links, nach rechts und links. Dieses Mal ist es meine Schwester, die ich hinter der Tür einsperre, dann öffne ich das Fenster und springe.

Und während ich durch die Pforte gehe, befehle ich mir, mich verdammt noch mal zu beruhigen, denn meine Hände erinnern an die Jazzfingerchen von Tänzern aus den achtziger Jahren, und das hier ist, verfluchte Scheiße, nicht das Saturday Night Fever. Ich nehme die Treppe in den dritten Stock, denn ich halte es nicht aus, mit anderen Leuten in einem Aufzug eingesperrt zu sein. Dann mache ich immer einen großen Bogen um den Tisch des namenlosen Jungen mit der Frisur eines Nazi-Schnösels, der wie Jesus am Ende der alten und am Anfang der neuen Zeitrechnung steht. Danke schön.

Da sagt man acht Stunden. Das sind vierhundertachtzig Minuten und das sind achtundzwanzigtausendachthundert Sekunden. Und jede davon ist der schlimmste Moment meines Lebens, also bis auf die übrigen. Meine Augen fixierten einen Punkt, den ich mir auf der Tischplatte gesucht hatte, und ich hatte nicht den Mut, aufzuschauen. Und trotzdem schaffte ich es nicht, mich zu beruhigen, die Mini-Wände meines Kobens stürzten auf mich ein, die Maxi-Wände des gesamten Saals stürzten auf mich ein, alle rund um mich herum sprachen irre laut in ihre Mikrophone hinein, ihre Stimmen überschwemmten meinen Kopf von innen. Ich spürte, wie mein Schädel aus allen Nähten platzte, jeden Moment musste mein ganzer vorderer Hirnlappen mit einem lauten Plumpsen auf die Tastatur des Computers fallen. Der Rest meines Kopfes zerbröckelte langsam und fiel überall rundherum zu Boden, während Geräusche zu hören sind, die an abbröckelnden Sandstein erinnern. Und wie ich da so zerbröckle und alles zu Ende sein könnte, wird alles, anstatt dass von mir nur Schutt übrigbleibt, von Neuem beginnen. Ich sitze hier, mein Kopf ist an seinem Platz und ganz. Und so versuche ich es anders, ich schließe meine Augen und Abrakadabra, auf einmal ist hier niemand mehr. Durch den Betriebssaal fliegen Zettel und Blätter, die durch sperrangelweit offene Fenster hereinfliegen und hier ihre beschissene goldene Farbe verlieren, und nur Zugluft pfeift um meine Ohren. Leere Sessel. Keine Geräusche von Krebsfüßchen auf der Tastatur. Keine Klingeltöne. Nichts. Nur funktioniert das nicht lange, denn diese Vorstellung der Ruhe, diese Vorstellung eines nicht ausgefüllten Raumes erschreckt und paralysiert mich zu Tode, also öffne ich meine Augen, atemlos, aber da fallen schon wieder die Wände um, mein Kopf zerbröckelt, alle schreien, diesmal ist es, als würde alles auf zweihundert Prozent laufen, zweimal so laut, zweimal so schnell. Und dabei dreht es mir wieder den Magen um. Immer wieder, bis mein Telefon läutet und mich jemand nach der Adresse des Arbeitsamts fragt. Und da habe ich wieder diesen Knödel im Hals und ich fühle mich, als würde mich jemand knebeln und mich an meinem Bürosessel festbinden. Und so laufe ich dauernd aufs Klo, denn das ist der einzige Ort, wo ich mich beruhigen kann. Dazu gibt es eine einfache Möglichkeit. Mit dem Kopf gegen die Wand knallen, mit den Fäusten gegen die Oberschenkel. Der eine schneidet sich mit einem Messer in die Hand, ein anderer gibt sich einfach eine in die Fresse.

Und so schlafe ich nicht und bin nicht wach und denke auch nicht. Das ist das Komischste daran. Ich denke an überhaupt nichts, nichts Privates geht mir durch den Kopf, ich verliere mich nicht in Erinnerungen, fühle weder Mitleid noch Traurigkeit, weder Einsamkeit noch Wut, nichts. Und zugleich stürmt in mir alles los wie ein verrückter, wild gewordener Wirbel Staubbüschel, wie der Sand bei einem Gewitter in der Wüste, es stürzt etwas los, mit der Sicherheit und Unaufhaltsamkeit eines Tsunami oder einer Lawine. Ich habe begriffen, dass mich diese unablässige, irrelevante Angst, dieses Entsetzen und diese Beklommenheit verrückt machen, wenn das nicht bereits geschehen ist. Ich habe begriffen, dass ich mir Ordnung verschaffen muss, eine neue Routine, dass ich ein Übereinkommen mit mir selbst abschließen muss. Ich habe festgestellt, dass der Schlaf kommt, wenn ich abends das Ventil löse und warte, bis das Wasser einläuft, dass ich dann ohne Probleme spülen kann und es weitergeht; ich habe festgestellt, dass sich der Schlaf einstellt, wenn ich abends aufhöre, diesen Wirbel in mir zu halten und ihn rauslasse, mich ordentlich ausheule in meiner theatralischen Schönheit; und morgens verordne ich mir Ganztagsruhe, ich befehle mir, wie ein normaler Mensch zu funktionieren und verspreche mir dafür Nachtische und Heulorgien.

Ein wohlverdienter Lohn. Mampf und schmatz.

Und was ich mir befehle, das erfülle ich auch. Tagsüber schaffe ich es, zu funktionieren, ich weiß, dass ich die Straßenbahn und den Aufzug meiden muss, ich weiß, dass ich ununterbrochen etwas tun muss. Ich fertige ein Gespräch nach dem anderen ab, in den freien Momenten spiele ich mit dem Kugelschreiber oder ich zeichne Kreise, gerade Linien, löse ein Sudoku, ich mache alles Mögliche, irgendwas, wofür ich mich konzentrieren muss, ich zähle die Fliesen in der Teeküche, überlege, wie die beiden letzten Zwerge bei Schneewittchen heißen, alles Mögliche, ich muss aktiv sein, denn ich weiß, sobald ich aufhöre, beginnt etwas in mir zu arbeiten und diesen Prozess kann ich dann nur noch schwer aufhalten.

 

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck