Ivana Myšková

Weiße Tiere sind nicht selten taub

2017 | Host

Seite 119/120

Frau mit Frosch

Nichts konnte sie freilich abbringen von der Vermutung, sie habe ein Talent fürs Straußenreiten …

——Ivana Myšková, Zaudern

 

Im Sommer treffe ich im Park immer eine Frau. Bei schönem Wetter sitzt sie einfach nur so im Gras oder auf einer Decke, neben sich ein leeres Miniterrarium, und im Gras hüpft ein großer Frosch herum.

„Mit Haustieren halte ich es wie mit Handtaschen. Mit Handtaschen, mit Wohnungen oder Fortbildungsmaßnahmen“, erwiderte sie auf meine vorsichtige Frage nach dem Terrarium und dem im Gras sitzenden Frosch. „Schon immer hab ich mir einen Hund gewünscht. Ganz egal was für einen. Ob Cocker Spaniel, Dogge oder Terrier …“

„Sie haben sich also einen Hund gewünscht und einen Frosch bekommen …“; welchen Hund sie niemals besessen hat, interessierte mich nicht. Mich interessierte, warum sie jetzt einen Frosch besaß.

„Nur dass ich schon immer in der Stadt gewohnt habe, in Wohnungen ohne Garten, mit Blick in dreckige Innenhöfe. Und meine Wohnungen waren immer zu klein. Also ein Hund, das ging einfach nicht. Würden Sie sich etwa einen Hund anschaffen in einer kleinen Wohnung?“

Ich verneinte. Ich räumte ein, Katzenhalter zu sein.

„Nein, also das könnte ich ja gar nicht; wenn schon kein Hund, dann auch keine Katze, und wenn schon keine Katze, dann auch kein Meerschweinchen, und wenn schon kein Meerschweinchen, dann auch kein Hamster, und wenn schon kein Hamster, dann auch keine Rennmaus. Wissen Sie, schon immer wollte ich Dinge voll und ganz. Zum Beispiel eine Fremdsprache lernen. Aber studiert habe ich nie. Das wäre schön gewesen. Einen Hund haben und eine Fremdsprache sprechen. Eine einzige Fremdsprache würde mir schon reichen, und ein einziger Hund ja auch. Aber studieren muss man nachts, und mit dem Hund rausgehen auch. Und nachts studieren und mit dem Hund rausgehen, das geht einfach nicht. Da bräuchte man mehr Nächte als Tage. Und dann wäre das Leben eine einzige Nacht. Sprechen Sie irgendeine Fremdsprache?“

Ich sagte, dass ja. Dass ich eine sehr gut beherrsche und in einer zweiten mich zumindest verständigen kann.

„Sehen Sie. Da haben Sie mir einiges voraus! Ich kann mich in einer Fremdsprache noch nicht mal verständigen. Aber im Grunde will ich das auch gar nicht. Denn ich würde diese Sprache ja voll und ganz beherrschen wollen. Samt Lesen und Schreiben und Sprechen genau wie meine Muttersprache. Nicht nur mich einfach so verständigen. Denn das wäre weder Fisch noch Fleisch. Und dann hab ich auch einen Mann haben wollen. Lieb, verständnisvoll und was fürs Auge. Aber kein einziger hat das alles in sich vereint. Na, und schließlich hab ich wenigstens eine Handtasche haben wollen. Aus Leder, gut verarbeitet, am liebsten italienisch. Aber immer und immer wieder hab ich mir Taschen aus Kunstleder gekauft“, erzählte mir diese Frau mit Frosch, und fügte schließlich hinzu: „Verzeihung, aber wir müssen jetzt wirklich Gassi gehen.“

Und an einem winzigen Halsband nahm sie ihren Frosch an eine winzige Leine.

 

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Ein Leben mit langem roten Faden

„Da […] begann er […], wieder an das Vorhandensein eines glücklicheren Lebens zu glauben, fast Lust darauf zu bekommen wie ein Kranker, der seit Monaten bei strikter Diät fest zu Bett liegen muss, wenn er in der Zeitung auf die Speisenfolge eines offiziellen Diners oder die Ankündigung einer Vergnügungsfahrt nach Sizilien stößt.“

——Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit I. Eine Liebe von Swann

 

Im Prunksaal zwischen den Ahnenporträts sitzt in ihrem Rokoko-Sesselchen die junge Gräfin, hält in der Linken einen runden Stickrahmen und sticht mit rechts eine Nadel mit rotem Faden durch schneeweißes Leinen. Hinter ihr steht eine etwa gleichaltrige Dienerin, die ihr Nadel samt Faden, sobald diese durchs Leinen geglitten sind, vorsichtig abnimmt und damit zur offenen Tür hinaus bis in den nächsten Saal läuft. Sobald der Faden gespannt ist und die Dienerin nicht mehr weiter kann, kehrt sie zu ihrer Herrin zurück. Sie weiß den Stich vollendet. Überaus behutsam gibt sie die Nadel samt rotem Faden ihrer Herrin zurück, und diese führt beides vorsichtig neben dem vorherigen Stich durch das weiße Leinen. Die Dienerin wartet aufmerksam und greift dann erneut äußerst behutsam nach Nadel samt Faden und läuft damit in den nächsten Saal hinaus. Naturgemäß nur um zur Herrin zurückzukehren.

All dies wiederholt sich in eben dieser Abfolge etwa vier Mal, woraufhin die Gräfin das Wort ergreift:

„So werde ich diese Stickerei niemals vollenden.“

Wohlerzogen überlegt die Dienerin, ob es sich wohl zu sprechen schickt; doch das viele Laufen hat sie schon recht ermüdet und verärgert, und so wagt sie eine Erwiderung:

„Man könnte vielleicht den Faden kürzen.“

„Durchaus“, pflichtet die Gräfin ihr bei, beugt sich nachdenklich über ihren Stickrahmen und nickt.

Infolge ihrer Herrin Zustimmung wird die Dienerin kühner:

„Sollte es Euch anderenfalls gelingen, diese Stickerei jemals zu Ende zu bringen, so wird dies noch sehr lange dauern.“

„Wohl wahr“, stimmt die Gräfin ihr zu, und bevor sie die Nadel samt rotem Faden einmal mehr durch das weiße Leinen führt, blickt sie auf und ergänzt:

„So lange, dass es fast ratsamer wär, diese Arbeit nicht zu vollenden.“

„Vielleicht“, ruft die Dienerin hoffnungsfroh aus, und dass ihre lästige Arbeit bald ein Ende haben könne, mag sie kaum glauben: „Vielleicht wär’s wirklich vernünftiger!“

„Vielleicht“, so die Gräfin ruhig, und wie im Traum zieht sie die Nadel durchs weiße Leinen und lässt sie am roten Faden hängen.

Die Dienerin sieht zur Nadel und zur Tür und neigt sich dann ruhig einschmeichelnd der Gräfin zu: „Wohlan, wollten Herrin den Faden kürzen, wär’s nicht gar so langwierig.“

„Fürwahr“, lacht die Gräfin und richtet sich ein wenig auf, „dann genügte wohl ein kleines Weilchen.“

„Und ich müsste nicht so viel laufen“, träumt die Dienerin.

„Das müsstest du nicht“, stimmt die Gräfin ihr zu und sieht sie neugierig an. „Dein Leben wäre ein wahrlich anderes!“

„Und das Eure, Herrin, ja auch!“ ruft die Dienerin mit unverhohlener Freude. Sie möchte ihre Herrin packen und hochheben, die Stickerei ihr wegnehmen und dann mit ihr durch all die riesigen Räume tanzen.

Glücklicherweise beherrscht sie sich.

„Fürwahr“, blickt die Gräfin sie noch neugieriger an.

„Ein wahrlich anderes Leben wär’s!“ lacht die Dienerin.

„Ja. Ein wahrlich anderes Leben!“ lacht nun auch die Gräfin und scheint sich tatsächlich von ihrem Sesselchen erheben zu wollen.

Das merkt die Dienerin und will ihr helfen. Sie fasst sich ein Herz, greift nach dem Stickrahmen und versucht, ihn der Gräfin gleich einem gefährlichen Spielzeug wegzunehmen. Doch da ist Widerstand. Nicht allzu stark, aber beständig.

Erschrocken sieht die Dienerin ihre Herrin an, die ihren Blick nur in irgendeine Ferne richtet und mit den Achseln zuckt.

„Was aber würden wir tun mit einem solch wahrlich anderen Leben? Wir haben ja schon dieses …“

Demütig gibt die Dienerin nach und lässt den Stickrahmen los, worauf die bereits ungeduldige Gräfin die Nadel durchs Leinen führt und sie ihrer Dienerin reicht.

„… dieses eine Leben mit langem roten Faden.“

 

Aus dem Tschechischen von Doris Kouba