Ivona Březinová

www.ohne-schuhe.de

2018 | Cattacan

BEN BRAUN UNTEN WUT ANGST JUNGE LACHEN SCHOCK STURZ

(9. Kapitel)

 

„Hallo Ben!“, rief Damian schon in der Tür. „Wendy meinte, du hast nach mir gefragt. Da bin ich!“, verkündete er und hüpfte vor Freude auf und ab.

„Moment mal, bist du alleine gekommen?“, frage ich erschrocken und überlege, was mein kleiner Bruder schon wieder angestellt hat.

„Nicht doch. Sie sind mir auf den Fersen“, verkündet er mit wichtiger Miene.

Sie sind mir auf den Fersen. Wo er das wohl her hat? Ich nicke amüsiert.

„Na dann.“

„Mensch, ich hab gehört, du hast schon neue Beine, stimmt das?“, wuselt er um mein Bett herum.

„Ja.“

„Echt? Zeig mal!“

„Sie stehen hinter dir“, sage ich und deute mit dem Kinn zur Wand.

„Was? Von alleine? Wie das denn?“, wundert er sich und bleibt erschrocken stehen.

Ich sehe ihm an, dass er Angst hat, sich umzudrehen.

„Keine Sorge, die rennen dir nicht hinterher“, lache ich. „Sie sind an die Wand gelehnt.“

Sofort dreht er sich um und bestaunt sie begeistert. Da kommen auch schon Mama, Papa und Opa.

Opa sehe ich seit dem Unfall zum ersten Mal. Mit kurzen, aber schnellen Schritten schlurft er zu mir. Neben seinem rechten Bein schwingt sein Stock. Vor zwei Jahren ist er unglücklich mit dem Fahrrad gestürzt, hat sich den Oberschenkelhalsknochen gebrochen und seitdem ist er den Stock nicht mehr losgeworden. Er nennt ihn, weiß Gott warum, Brunhilde und betrachtet ihn als sein drittes Bein.

„Junge, Junge … keine Angst, das Leben geht weiter“, sagt er und streicht mir über die Stirn.

„Weiß ich doch, Opa. Und ich werd auch gehen. Ich hab schon Beine“, antworte ich mit einem Wink in die Ecke.

Mama sieht beim Anblick meiner neuen Beine ein bisschen verblüfft aus.

„Und die bleiben so?“, deutet sie auf die nackten Röhren zwischen dem Knie aus Metall und dem Fußteil aus Kunststoff.

„Ja, das sind fertige Interimsprothesen“, bestätige ich stolz. „Wenn ich damit laufen gelernt hab, bekomm ich wahrscheinlich neue.“

„Auch solche … dürren?“, fragt sie vorsichtig.

„Darauf kommt es ja wohl nicht an“, erwidert Papa verlegen. „Wichtig ist, dass sie funktionieren.“

„Vergesst nicht, dass davon unter der Hose sowieso nichts groß zu sehen ist“, bemerkt Opa.

„Übrigens … das trägt man heute so“, erkläre ich. „Auch Mädchen zum Minirock. Man kann da natürlich eine Kosmetikhülle drübermachen, aber ich finde, das stört bloß.“

„Na, ich weiß nicht“, seufzt Mama. „Wenn du meinst …“

„Mir gefallen sie so“, sage ich bestimmt.

„Mir auch!“, meldet sich Damian zu Wort und sieht Papa mit festem Blick an. „Ich möchte auch solche Beine.“

Ich merke, wie Mama und Papa erstarren. Nur Opa wiehert wie ein kleiner Junge.

„Das schlag dir mal schön aus dem Kopf, Dami. Du kannst nicht alles haben“, ermahnt er mein Brüderchen lachend. „Ich hab dir ein neues Fahrrad versprochen, keine Beine. Oder willst du etwa lieber Beine?“

Da erstarre auch ich. Jetzt hat Opa es verbockt. Klar will Damian Beine. Er macht schon den Mund auf und zeigt in die Ecke, wo sie stehen.

„Weißt du, was? Ich borg sie dir mal, ja?“, versuche ich schnell, die Situation zu retten.

„Na gut.“ Er lässt sich tatsächlich überlisten und kümmert sich nicht drum, wie er sie anziehen soll.

Mama setzt an, Damian auf andere Weise abzulenken. Als ich sehe, was sie aus ihrer Tasche zieht, ist mir klar, dass es mir an den Kragen geht. Auf dem Tisch neben meinem Bett landet ein turmhoher Stapel aus Lehrbüchern und Schulheften.

„Oskar hat zwar angeboten, dass er dir alles vorbeibringt“, erklärt Mama. „Aber wir kennen ihn ja. Er hätte das noch irgendwo liegenlassen.“

Einen Moment lang bereue ich, dass er sich nicht mehr Mühe gegeben hat, Mama zu überzeugen. Vielleicht wär uns was eingefallen, wie mein Lernstoff auf dem Weg in die Reha-Klinik abhandenkommen könnte. Aber dann wird mir klar, dass das nichts geändert hätte. Lehrbücher und Hefte sind viel leichter zu ersetzen als zum Beispiel Beine.

„Tja. Ich schau da ab und zu mal rein“, brumme ich.

„Nicht ab und zu. Jeden Tag“, ermahnt mich meine Mutter. „In der Schule haben wir einen Sonderweg für dich vereinbart, du gehst dann zur Nachprüfung hin. Und vergiss nicht, dass du in der Neunten bist. Die Aufnahmeprüfung für die Oberschule steht vor der Tür.“

Das ist echt kein Thema, das mich zu Freudensprüngen veranlasst, selbst wenn ich springen könnte. Damian schafft es zum Glück, meine Prothesen umzuschmeißen und damit im Handumdrehen das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Uff. Ums Lernen komm ich sowieso nicht herum.

 

Um die Gehschule komm ich auch nicht herum. Als mir Přemek wieder die Prothesen anschnallt und mich die kleine weiße Fee Bianka zum Stehen zwingt, komm ich mir vor wie ein Bär im Zirkus, dem beigebracht wird, auf den Hinterbeinen zu stehen. Mal sehen, ob ich mich auch so lächerlich in den Hüften wiege wie ein Zirkusbär.

„Du stehst? So. Gut. Bleib stehen.“

Ich schwanke ein bisschen, aber ich stehe. Am Barren, wie eine Ballettänzerin beim Aufwärmen vor dem grand plié. Früher war Wendy mal beim Ballet und hat zu Hause am Geländer die Beine geschwungen.

„Und jetzt lass mit einer Hand los“, befielt die kleine weiße Fee Bianca. „Na, siehst du. Super.“

Nach einer Viertelstunde hab ich es satt, obwohl ich nichts gegessen hab.

„Du machst Fortschritte“, lobt mich Přemek.

„Fortschritte“, raunze ich. „Noch keinen einzigen Schritt hab ich gemacht.“

Nach einer Stunde Gehschule, die bisher nur aus Stehenüben besteht, erwartet mich eine halbe Stunde Justierung. Ich bin ganz froh, dass ich mich wieder aufs Bett fallen lassen kann.

 

Auf dem Gang warten schon Oskar und Mikina. Statt selbst zu kommen, hat Danka wie üblich Schokolade mitgeschickt, die ich automatisch an Emil weiterreiche.

„Iss sie lieber, du brauchst Energie“, wendet er ein. „Du bist so ausgepowert, als wärst du mindestens einen Halbmarathon gelaufen.“

„Was hat dich denn so mitgenommen?“, wundert sich Oskar.

„Stehen. Ganz gewöhnliches Stehen auf der Stelle“, erwidere ich scharf.

Mikina betrachtet schon interessiert meine abgelegten Beine. Dabei erinnert sie mich an Damian.

„Ich hoffe, du willst sie nicht auch ausprobieren“, sage ich zu ihr.

„Danke, das wird nicht nötig sein.“ Sie klopft sich entschuldigend auf die Schenkel. „Aber das sind schicke Teile. Du musst dich bloß gut drum kümmern, damit zum Beispiel der Knöchel nicht hakt. Oder das Knie quietscht“, kichert sie.

„Kümmern!“, rufe ich verzweifelt. „Du redest schon wie Přemek. Ich dachte, ich krieg wartungsfreie Beine, aber Pustekuchen! Das macht einen Haufen Arbeit!“

„Übertreib mal nicht“, sagt Oskar und versucht, eine ernste Miene aufzusetzen. „Du musst dir bloß die Beine abwischen, wenn’s geregnet hat, damit sie nicht verrosten.“

„Blödsinn“, wirft Mikina ein. „Die sind aus Titan. Die können gar nicht verrosten.“

„Keine Beine zu haben, ist schon ziemlich blöd, finde ich“, bemerkt Oskar, um gleich darauf amüsiert hinzuzufügen: „Aber es hat auch ne Menge Vorteile.“

„Vorteile, ja?“ Langsam werde ich wütend. „Sagt mir mal, was daran die Vorteile sein sollen.“

„Zum Beispiel musst du dir nicht die Schuhe ausziehen, wenn du nach Hause kommst. Hausschuhe für die Schule brauchst du auch keine“, erklärt Oskar.

„Du kriegst nie kalte Füße“, versichert mir Mikina.

„Du bekommst keine Hühneraugen“, stimmt Emil mit ein, der Verräter.

„Du musst dir nicht die Zehennägel schneiden.“

„Ich hatte mal einen eingewachsenen Nagel am großen Zeh, das hat wehgetan, sag ich dir,“ bemerkt Oskar.

„Deine Schuhe drücken nicht“, führt Mikina die Aufzählung fort.

„Und barfuß über glühende Kohlen zu gehen, wird für dich das reinste Kinderspiel“, lacht Emil. „Bloß dass dich Přemek einen Kopf kürzer macht, weil du das Silikon angeschmort hast.“

„Wisst ihr was?“, sage ich aufgebracht, „dann lauft ihr doch auf diesen Prothesen. Und du gibst mir die Schokolade von Danka zurück. Ihr habt mich so aufgeregt … Ich brauch was zur Beruhigung.“

Diesmal findet die Gehschule ohne Přemek statt. Er kommt nur am Anfang kurz vorbei, um mir beim Anschnallen der Beine zu helfen, dann geht er gleich wieder. Angeblich muss er bei einem anderen Kunden einen Abdruck machen.

Ich hab mich drauf gefreut. Darauf, dass ich stehe, zu Laufen anfange, immer besser und besser werde … Als der Moment dann da ist, hab ich Angst, dass es mir nicht gelingt. Erst jetzt wird mir wirklich klar, was es für ein Unterschied ist, wenigstens ein Bein zu haben oder gar keins. Und um wie viel anstrengender es ist, Oberschenkelprothesen zu haben statt Unterschenkelprothesen. Ich war naiv. Nein, ich war blöd.

„Keine Angst. Das schaffen wir auch ohne ihn“, beruhigt mich die kleine weiße Fee Bianca, als die Tür des Gymnastikraums Přemek verschluckt.

„Na hoffentlich.“

„Du vertraust mir doch, oder?“, sagt die kleine weiße Fee Bianca mit gespielter Empörung.

„Was bleibt mir anderes übrig?“, seufze ich und sie gibt mir einen Klaps auf den Kopf.

„Kopf hoch! Willst du wissen, was dich heute erwartet?“

„Klar. Was erwartet mich heute?“, frage ich resigniert.

„Wir üben das Hinsetzen auf einen Stuhl und das Aufstehen vom Stuhl“, eröffnet sie mir lächelnd.

„Krass“, murmle ich. „Mit fünfzehn lerne ich, wie man von einem Stuhl aufsteht. Kann ich jemanden losschicken, der Opas Brunhilde holt?“

„Wer ist Brunhilde?“ Die kleine weiße Fee Bianca horcht auf.

„Brunhilde heißt Opas Stock. Auch bekannt als Opas drittes Bein.“

„Aha. Brunhilde. Das ist gut“, lacht die kleine weiße Fee Bianca. „Ich glaube, Brunhilde wirst du jetzt nicht brauchen.“

Ich stehe mit dem Rücken zu einem Stuhl mit Armlehnen. Die kleine weiße Fee Bianca hält mich von vorn an den Händen fest.

„Zuerst streckst du den Po raus und versuchst, dich auf die Prothesen zu stützen. Als ob du in die Hocke gehen willst“, rät sie mir.

Erstaunlicherweise gehorcht das künstliche Gelenk. Přemek hat die Beine auf mein aktuelles Gewicht eingestellt. Deshalb läuft alles wie geschmiert. Bis auf mich. Ich laufe aus naheliegenden Gründen nicht.

„Versuch’s noch mal. So, in die Hocke. Und zurück. Gleichgewicht halten“, hageln die Ratschläge auf mich ein.

Mama nennt so was Ratsherren-Ratschläge. Ich weiß schließlich, wie man sich setzen soll. Theoretisch. Ich würde sogar sagen, dass ich früher auch in praktischer Hinsicht ziemlich gut darin war.

„Und jetzt mit Hinsetzen auf den Stuhl“, befielt die kleine weiße Fee Bianca.

Da strömt mächtig Adrenalin. Treffe ich? Oder nicht?

„Na, siehst du. Du sitzt.“

Tja. Ich sitze wirklich. Zum ersten Mal mit künstlichen Beinen. Ich hoffe, ich kann eine Weile so bleiben.

„Und jetzt steh auf“, kommt die nächste Anweisung. Dass ich ein bisschen Ruhe hab, war wohl nur ein frommer Wunsch.

Jetzt klammere ich mich mit den Händen an der Armlehne fest, ein Wunder, wenn ich sie nicht zerquetsche. Langsam, ganz langsam stehe ich auf. Ich schwanke. Vergeblich versuche ich, Gleichgewicht zu finden. Es sieht aus, als würde ich umfallen. Aber die kleine weiße Fee Bianca hat Adleraugen und Kraft wie ein Steppenbüffel. Bei Feen täuscht das Äußere oft. Sie hält mich felsenfest.

„Für heute reicht‘s“, bitte ich sie atemlos.

„Nein. Noch drei Mal. Hinsetzen, aufstehen. Ab jetzt geht‘s besser, du wirst sehen.“

Ich bin nicht so optimistisch, aber es zeigt sich, dass sie recht hat. Nach einer Stunde Üben treffe ich den Stuhl schon selbst.

 

Auf dem Zimmer erzählt mir Emil begeistert, dass er eine ganze Stunde auf dem Fahrradergometer gefahren ist.

„Und die Pedale hast du mit den Händen gedreht?“, bohre ich nach.

„Ich hab gesagt, auf dem Fahrradergometer, nicht mit dem Handbike“, korrigiert er mich. „Mit dem Handbike bin ich schon zig Mal gefahren. Draußen auf der Straße. Einmal sogar ein Rennen. Aber ich hab immer so ein komisches Gefühl dabei, dass ich zu niedrig sitze. Zu nah am schwarzen, ausgefahrenen Asphalt. Das tut mir nicht so gut.“

„Aha“, nicke ich, als mir klar wird, dass ein Handbike sowas wie ein Fahrrad für Rollstuhlfahrer ist, bei dem man nicht mit den Füßen in die Pedale tritt, sondern die Pedale mit den Händen bedient, als würde man eine Kurbel drehen.

Emil beschreibt inzwischen weiter, was sie heute bei der Reha mit ihm gemacht haben. Anscheinend haben sie ihn auf ein Fahrradergometer mit Elektroantrieb gesetzt. Seine Füße waren an den Pedalen festgezurrt, so dass seine Beine sich von selbst bewegt haben.

„Ich bin echt gefahren“, schwärmt er. „Als ich die Augen zugemacht hab, hat sich das angefühlt, als ob ich wirklich Rad fahre.“

Während ich ihm zuhöre wird mir bewusst, wie wenig wir zum Glücklichsein brauchen. Die gelähmten Beine bewegen zu lassen und sich mit Prothesen auf einen ganz normalen Stuhl zu setzen.

 

In der Nacht wache ich auf. Nicht von allein, wie so oft in letzter Zeit, wenn ich im Traum wieder die Skispitzen sehe. Oder den Streit auf der Seilbahn. Vielleicht ist es nicht so gut, dass ich nicht nach dem Dietrich zu dieser dreizehnten Kammer suche.

Aber diesmal wollte ich aufwachen. Ich hab mir den Wecker auf dem Handy gestellt. Es vibriert unter meinem Kissen und ich haue verwirrt drauf herum, damit es aufhört. Dann setze ich mich im Bett auf und starre in die Dunkelheit. Es dauert eine Weile, bis ich mich erinnere, wo ich bin und warum ich mitten in der Nacht aufstehen will.

Ich schiebe mich an die Bettkante. Schnell wird mir klar, dass ich meinen Plan nicht allein ausführen kann. Vermutlich würde ich es schaffen runterzuklettern. Aber was dann? Meinen Rollstuhl hat jemand am anderen Ende der Welt geparkt.

„Emil“, ruf ich in die Dunkelheit. „Schläfst du?“

„Hmmmm.“

„Wach auf. Bitte. Ich brauch Hilfe. Komm schon, Kumpel.“

„Hilfe? Wobei?“

„Du musst mir was geben.“

„Ruf die Schwester“, wimmelt er mich ab.

„Das kann ich ja gerade nicht“, flüstere ich in die Dunkelheit.

„Warum nicht?“

„Weil ich was probieren will. Und ich will nicht, dass es jemand mitkriegt.“

„Dann erzähl mir nichts. Ich brauch davon nichts zu wissen“, murmelt er.

„Aber ohne dich wird das nichts“, gebe ich kleinlaut zu.

„Herrgott, und ich hab gerade so schön geschlafen“, stöhnt Emil.

Aus seinem Schnaufen schließe ich, dass er sich schon in den Rollstuhl schiebt. Licht will ich nicht anmachen. Noch nicht. Ich hab keinen Bock, dass jemand reinschneit und sieht, was ich vorhab.

„Also, was soll ich dir geben?“, fragt Emil verschlafen.

„Meine Beine.“

„Deine Beine? Dir sind die Beine abgefallen?“

„Nein, Mann. Ich brauch meine Prothesen.“

„Ach so. Tschuldigung. Und wo sind die?“

„Da drüben an der Wand. Bringst du sie mir?“

„Taxiservice Emil, zu Ihren Diensten. Kostet zwei Hamburger pro Meter.“

„So viel? Du Halsabschneider. Einen halben pro Meter“, feilsche ich. „Gut, ich will mal nicht so sein. Einen.“

„Okay. Einen. Aber mit Pommes.“

„Na gut. Jetzt fahr schon. Damit du bis zum Sonnenaufgang wieder da bist.“

Emil fährt mit seinem Rollstuhl bis zur Wand, an der meine Beine stehen. Im grau schimmernden Licht der Straßenlaterne, das durch die Jalousien ins Zimmer fällt, beobachte ich, wie er sich die Beine auf die Knie legt.

„Vorsichtig!“, zische ich. „Nicht, dass sie runterfallen.“

„Ich kann zwei Mal fahren. Aber nur mit Aufpreis“, bemerkt er amüsiert.

Scheint, als hätte ihn das unerwartete nächtliche Geschäft doch noch aufgeweckt.

„Und jetzt?“, fragt er, als er neben meinem Bett hält.

„Ich brauch Hilfe beim Schuheanziehen“, erkläre ich ihm meinen Plan, obwohl ich weiß, dass er schon selbst drauf gekommen ist.

Und Emil weiß, dass ich es weiß, deshalb zieht er mich noch ein bisschen auf.

„Kannst du nicht barfuß gehen?“

„Mann“, zische ich. „Gib mir zuerst das linke.“

„Woran erkenn ich das?“

„Na an der Sohle, woran sonst?“ Ich fasse mir an den Kopf.

„Solltest du dir nicht lieber zuerst diese große Socke drüberziehen?“, erinnert er mich, als ich bereits den Stumpf in die Prothese stopfe.

„Ich scheiß auf die Socke“, winke ich ab.

Das Bein schnalzt leise. Ich greife nach dem rechten und setze es auf. Ich sitze an der Kante des hohen Krankenhausbetts und lasse die Beine versuchsweise schaukeln. Sieht aus, als ob sie halten. Vorsichtig rutsche ich vor und berühre den Boden. Zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken. Mit dem Po bleib ich auf der Matratze.

„Warum machst du das?“, brummt Emil unzufrieden.

Ich schaue nur kurz zu ihm rüber. Eine Antwort ist überflüssig. Er weiß ganz genau, warum ich das mache. Ab und zu versucht er selbst, Mögliches und Unmögliches zu erreichen. Meistens Unmögliches.

„Soll ich dir irgendwie helfen?“, bietet er an.

„Weiß nicht … Lieber nicht. Nicht, dass ich dich umschmeiße“, füge ich unsicher hinzu.

Ich versuche, mich hinzustellen. Die Beine fühlen sich wackelig an. Nicht besonders stabil. Emil bemerkt es auch.

„Willst du’s nicht lieber lassen?“

„Nein.“

Ich lass das Kopfende los und mach den ersten Schritt, die Arme ausgebreitet wie ein Seiltänzer.

„Das kann ich nicht mit ansehen“, murmelt Emil.

„Dann sieh woanders hin.“

Ich versuche, das Gewicht auf das andere Bein zu verlagern. Mit einer vermutlich äußerst seltsamen Rumpfbeuge zieh ich das Bein über den Boden und versuche mich an einem weitereren taumelnden Schritt. Damit sind meine Kräfte und mein Glück am Ende. Mit Gepolter falle ich um.

„Bist du noch ganz?“, ruft Emil erschrocken.

„Leider ja“, stöhne ich. „Komm und hilf mir bei der Demontage.“

Emil kommt angefahren und hält dort, wo ich mich auf dem Boden wälze. Er packt mein Bein und versucht, es abzunehmen.

„Zieh!“, ermutige ich ihn.

Emil zieht stärker und im nächsten Moment liegt mein Bein auf seinen Knien.

„Was macht ihr denn hier?“, meldet sich über uns eine Stimme und ein Lichtkegel fällt von der offenen Tür auf den Fußboden unseres Zimmers.

„Wir … wir sind ne Runde gelaufen“, erklärt Emil mit der Selbstverständlichkeit eines versierten Nachtläufers.

 

Aus dem Tschechischen von Katharina Hinderer