Anna Bolavá

Zu Boden

2017 | Odeon

37.

Bei den Vávras zu Hause wird es ernst. Jarda schaut finster und sagt kein Wort. Er weiß nicht, was er mit Milada tun soll und will das alles hier endlich zu Ende bringen, weil Hanka immer noch draußen im Auto auf ihn wartet, und es gehört sich nicht, sie dort so lange allein zu lassen. Jarda geht, jetzt kann er nichts mehr tun. Im Vorzimmer hebt er resignierend seine Hand und winkt zum Abschied. Er hat kein besonders reines Gewissen, aber für diese Situation gibt es keine andere Lösung. Milada begleitet ihn noch zur Tür. Sie wird ihn nicht fragen, wann er sie zum Abendessen besucht. Denn er wird sie nicht besuchen, wenn er doch jetzt gerade da war.

„Jára …“, sie packt ihn am Ärmel. Ein letzter Versuch, bevor er sie allein lässt und sich ins Auto setzt, zu der Schöneren.

„Hm?“

„Könnte Anička nicht vielleicht bei diesem Strommast sein …?“

Jarda dreht sich um. Er sieht ihren verzweifelten Blick. Das war keine Frage, sondern eine weitere Bitte.

„Was ist, wenn sie sich dort auch herumtreibt?“ Hilflos wirft Milada ihre Arme zur Seite. Immer noch trägt sie ihre Jacke und die Mütze.

„Als wir auf der Hauptstraße zurückgefahren sind, hat es dort gebrannt“, nickt ihr Schwager. Also hat er es auch gesehen! Das hat sie sich nicht eingebildet. Er hat dasselbe gedacht!

„Willst du da jetzt noch hinfahren?“

„Ja“, bittend.

Und schon haben sie es wieder eilig. Beiden pocht das Herz. Beide sind froh, dass es noch eine weitere Möglichkeit gibt. Noch etwas, was sie noch nicht versucht haben, dabei macht es wirklich Sinn. Hanka Strnadová hat hinten im Auto gedöst und ist dabei von dem nicht ausgepackten Bett fast zerdrückt worden. Jetzt kommt sie wieder zu sich. Etwas geht vor sich. Eine weitere Ausfahrt erwartet sie. Zuerst lange nichts, sie lassen sie da im Auto fast erfrieren, und auf einmal dieser Wirbel, aber an sie denkt niemand, und niemand erklärt ihr, worum es geht. Als wäre sie Luft.

„Also wisst ihr schon, wo sie ist?“, durchbricht sie müde die unangenehme Stille.

„Nein“, antwortet Jarda. Mehr sagt er nicht. Er dreht sich nicht einmal zu ihr nach hinten um. Er schaut finster drein und denkt nach.

„Wohin fahren wir denn jetzt? Ich halte das nicht mehr aus hier.“ Hanka lässt nicht locker. Sie hat schon genug von diesen hysterischen Auswüchsen, sie will nach Hause gebracht werden. Sie kann auch ruhig alleine im Haus bleiben, sie ist ja nicht entmündigt. Den Besuch des Sägewerks würde sie am liebsten auch absagen, draußen ist es fast schon dunkel.

„Das wirst du aber müssen“, murmelt Milada leise und eher zu sich selbst, du hättest ja nicht mitkommen müssen. Jarda fährt durch die Stadt und biegt an der Ausfallstraße nach Hradec ab. Allmählich schwillt Hankas Wut an.

„Und wohin fahren wir jetzt?“

Das würdest du nie kapieren!

„Keine Angst, wir fahren nicht weit“, antwortet er freundlich. Zum Glück. Er hat also nicht vergessen, dass das Auto nicht beheizt wird, wenn man den Motor ausschaltet. Durch das vereiste Seitenfenster kann man fast nichts erkennen, aber einladend ist es draußen bestimmt nicht. Jarda fährt von der anderen Seite um den Sumpf. Er überlegt, wie weit er mit dem Auto fahren kann. Und aus welcher Richtung. Milada ist überrascht von seiner Streckenwahl, aber dann bemerkt sie, wie klug diese Entscheidung war. Sie weiß wohl schon, was er vorhat. Er fährt auf die alte, kaum befahrene Seitenstraße ab, entlang des benachbarten Feldes, und dann über die Wiese bis zu den Strommasten, so weit es eben geht. Hoffentlich bleiben sie mit dem Auto nicht irgendwo stecken. Milada blickt suchend in die Landschaft, doch das Fenster beschlägt mit Nebel und es lässt sich kaum noch was erkennen. Wie lange es wohl her ist, dass sie das Feuer gesehen haben? Eine Stunde? Zwei? Und falls Anička wirklich dort sein sollte, wie hat sie es dann geschafft, Feuer zu machen? Hier ist doch alles gefroren oder feucht, und ein kleines Mädchen schafft sowas doch nicht. Sie konnte das nicht gewesen sein.

„Das ist sie!“ Jarda streckt seine Hand vor sich aus.

„Wo?“ Milada klebt fast an der Windschutzscheibe.

„Dort geht jemand, siehst du, und das Weiße dort ist Rauch.“

Und das andere Weiße überall hier über dem Boden ist ein seltsamer Nebel … wird sich Hanka langsam bewusst. Sie dachte, sie könnte aussteigen, sobald sie stehen bleiben, und ihre steifen Beine durchstrecken. Jetzt bezweifelt sie aber, dass sie den Mut dazu hat. Sie kann sich das nicht erklären, aber eine seltsame Angst überkommt sie. Sie muss den Sicherheitsgurt aufmachen, da er ihr auf Bauch und Brustkorb drückt und sie keine Luft mehr bekommt. Ihr Magen hebt sich. Sie hat Angst und weiß nicht, wovor. Warum schleppen die sie eigentlich überallhin mit, sie will hier doch gar nicht sein! Sie ist solche Situationen nicht gewöhnt. Wenn Radka das nur wüsste, dann hätte sie Hanka niemals nach Řečovice fahren lassen.

„Steigen wir aus“, meint Jarda, als ein Vorderrad einzusinken beginnt. Weiter kann er nicht fahren, zurück würde es dann nicht mehr gehen. Außerdem sind die Lichter ihres langsam näherkommenden Autos zu auffällig. Jarda stellt den Motor ab und steigt aus, hinaus in die frostige Kälte. Milada springt einsatzbereit auf der anderen Seite nach draußen, und beide steuern auf das geackerte Feld auf der linken Seite zu.

„Das ist Áňa!“, ruft Milada und beginnt zu laufen. Durch das Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht sieht sie eine zierliche Gestalt in der Ferne. Das muss sie sein! Gerade hat sie sich an das schwelende Feuer gesetzt, vielleicht legt sie sich auch hin, sie hat nichts mehr, womit sie nachlegen könnte, und muss so nah es geht an die allmählich nachlassende Wärme. Jarda läuft los. Hierher geht sie also immer heimlich … und macht Feuer bei dem Strommast, der vor Jahren ihren Papa getötet hat. Die verärgerte Hanka ist erstaunlicherweise auch schon aus dem Auto gestiegen, hält sich aber aus der Sache heraus. Sie hat nicht vor, über den Acker zu laufen. Und vor Kälte beginnt sie zu zittern, hier auf offenem Feld ist es sehr windig.

„Ani!“, ruft Milada und läuft über den Acker zu ihr. Dabei bemüht sie sich, ihre Füße zu heben, damit sie nicht über die gefrorenen Erdklumpen stolpert. Ruf nicht nach ihr, was wenn sie uns wegläuft, geht es Jarda durch den Kopf.

Verfroren und betäubt durch den Rauch schaut Anička von dem langsam verglühenden Feuer auf. In der Ferne erblickt sie ihre laufende Mutter. Und hinter ihr den Onkel. Vielleicht steht da auch noch das Auto, das kann sie nicht mehr klar erkennen. Das zusammengekauerte Mädchen verspürt einen stechenden Schmerz im Herzen – Angst. Sie erschrickt und steht sofort auf. Ihr ist schwindelig, behält aber das Gleichgewicht. Mama ist schnell, nichts kann sie aufhalten. Schließlich hat sie Anička erwischt und hat vor, sie zu bestrafen. Für alles. Das weiß sie vermutlich schon. Geschockt beginnt Anička zu fliehen. Zuerst geht sie langsam ein paar Schritte zurück, dann dreht sie sich um und wird schneller. Über den Acker kann man nicht gerade schnell weglaufen, außerdem reagiert der durchfrorene Körper nicht so, wie es der Kopf möchte.

„Ani, bleib stehen!“, brüllt Jarda. Er ist böse, wird dem Mädchen klar. Diesen Ton hat sie bei ihm bisher noch nie gehört. Ein weiterer Grund, warum sie versucht, noch schneller zu werden. Aber wohin denn, wo könnte sie sich denn verstecken? Die frostige Nacht zieht langsam in die weite Landschaft rundherum. Nur dieser Strommast ist in Reichweite, es reicht, die Hand auszustrecken … Anička stolpert über einen gefrorenen Erdklumpen und fällt hin. Ihr Kopf landet nur wenige Zentimeter neben einem der vier Betonquader, in denen die gespreizten Pfeiler des Mastes versenkt sind. Ihre ausgestreckten Arme dämpfen den Sturz, ihre Hände schürft sie sich an einem vereisten Erdklumpen auf, und ihre Lippen schlagen gegen eine riesige, harte Torfscholle.

„Áňa!“, schreit Mama. Sie hat es gesehen. Sie ist immer noch ein Stück hinter ihr, aber das hat sie gesehen. Am liebsten würde sie ihren eigenen Kopf hinhalten, um selbst alles abzubekommen. Warte! Doch im Acker sind die Beine ungeschickt, und zu beschleunigen steht außer Frage.

Ich warte nicht! Ich lauf weg!

„Ani, mach keine Dummheiten!“, Jarda.

„Lasst mich in Ruhe!“, kreischt das Mädchen auf und kriecht auf allen Vieren näher an den Mast heran. Und im nächsten Moment hält sie sich schon an einer Eisenstange fest, stützt sich ab und steht auf. Hilflos schaut sie nach oben.

„Kletter da nicht hinauf! Bleib stehen, verdammt!“ Der Onkel ist wirklich böse. Und er ist schnell. Also muss sie nach oben. Woandershin kann sie nicht mehr. Dazu haben die beiden sie gebracht. Sie spuckt etwas Blut von den aufgeschlagenen Lippen und schwingt sich auf die erste Stufe der Eisenkonstruktion. Ihre verschwitzten Hände rutschen ab, an der rechten Hand ist ihr Erde unter die Haut gekommen, was ziemlich juckt.

„Fass das nicht an! Hörst du!“, ruft die Mutter verzweifelt. Aber das nützt nichts, das Mädchen ist flink und wird ihr immer um ein paar Sekunden voraus sein. Jarda und Milada kommen zum Beton gelaufen und bleiben dort außer Atem stehen. Milada zögert nicht, sie springt zum Mast und will ihn schon anfassen, doch ihr Schwager stößt sie schlagartig wieder weg. Untersteh dich! Er selbst schaut sich um und untersucht die Konstruktion. Dann geht er zurück, zieht sein Telefon heraus und ruft jemanden an. Ruft er jetzt die Feuerwehr? Ist es nicht schon zu spät? Bevor jemand kommt, passiert ein Unglück …

„Wir müssen zu ihr!“, kreischt Milada und will erneut alleine nach oben. Noch ist sie ja nicht bei den Stromleitungen, sie können das Mädchen doch gemeinsam von da oben herunterholen. Doch Anička klettert immer weiter nach oben. Sie will nicht, dass ihr irgendjemand näherkommt, und begibt sich in Sicherheit.

„Bleib wo du bist, verflucht!“, brüllt Jarda aufgebracht nach oben. Seine Nichte hält sich an einer Stelle fest, ganz starr, schon mindestens sechs, vielleicht sogar sieben Meter über dem Boden. Ihr wird schwindelig, als sie nach unten schaut, zu den Leuten unter ihr. Aber solange ihre ratlose Mama den Pfeiler berührt und vor hat, zu ihr zu kommen, muss sie weiter nach oben klettern. Bis ins Unendliche wird geht es nicht gehen, aber ein paar Meter hat sie schon noch.

„Fass das nicht an!“ Jarda brüllt Milada an. Die hält sich an dem eiskalten Metall fest und ist entschlossen, zu handeln. Sie steht noch auf dem Boden, dabei ist ihr schwindelig, ihre Knie werden weich, schon als Kind hatte sie Höhenangst und jetzt passiert das hier. Nach einer Weile hört sie auf den Schwager und weicht resigniert zurück … damit sie besser nach oben schauen kann … Rundherum ergießt sich die graue, böse Dunkelheit, aus der das blasse Gesicht der immer höher hinaufkletternden Tochter wie der Tod hervorleuchtet … Anička sieht aus wie ein Gespenst. Sie hat dieselben Augen wie ihr Vater und sitzt in der Falle. Auch wenn sie jetzt beschließen würde, aufzugeben und herunterzuklettern, wird der starke Schwindel in ihrem Körper bleiben. Immer wieder weht ein eisiger Wind, und sie muss sich noch stärker an das frostige Eisen klammern. Mehr schafft sie nicht. Die Schuhe, die sie schon den ganzen Tag lang drücken, haben zu rutschen angefangen und halten womöglich nicht mehr lange. Niemand sieht es, aber sie beginnt dort oben zu heulen.

„Komm runter, Ani, ich bitte dich, mach schon …“, jammert Mama irgendwo da unten und legt ihren Kopf in die Hände. Sie kann nicht mehr stehen, erschöpft setzt sie sich auf den eiskalten Beton. Nach oben kann sie nicht schauen, da kracht es ihr im Kopf, als würde der Tod immer näher kommen. Ich kann doch nicht auch noch dich hier verlieren … Ich bitte dich, komm wieder herunter …

Jardas Handy piept, er bekommt eine Nachricht. Řečovice und die Nachbardörfer, die zu beiden Seiten des Strommastes liegen, sind ohne Strom.

„Na gut, ich komm dich holen!“, erklärt der Onkel rasch und schwingt sich auf die erste vereiste Sprosse. Wie hat das Mädchen das bloß geschafft, das ist ja rutschig … und sie ist so hoch oben!

Anička hält sich mit aller Kraft fest, sie zittert am ganzen Körper. Ihre Augen hat sie geschlossen; die verschmierten Tränen und das Blut in ihrem Gesicht beginnen zu gefrieren. Sie will nicht nach unten. Oben hält sie sich aber nicht mehr lange. Wenn sie los ließe, würde sich der Himmel öffnen und sie müsste nie wieder in die Schule. Sie müsste sich nicht bemühen, bessere Noten zu bekommen, und müsste nie wieder jemandem etwas erklären. Versäumte Stunden, verlorene Schlüssel, das zerkratzte Auto am Rand des Sumpfes. Verlorene Kämme und die perfekt gekämmten Haare von Helena Divišová. Den Ausschlag, von dem sie behauptet hat, es handelt sich um ein Ekzem. Den Gestank von verdorbenem Fleisch auf den Schuhen und Hosen. Was davon war am schlimmsten? Ist das genug, um in die Hölle zu kommen? Wird sie Papa überhaupt noch einmal sehen?

Das Gestell des Strommastes beginnt zu zittern, jemand Schwerer klettert nach oben. Anička öffnet ihre Augen. Vorsichtig schaut sie sich um. Hoffentlich ist das nicht Mama … Aber Mama sitzt unten und weint. Und jemand anders steht daneben. Hanka hat einen Schrei gehört und es gewagt, näher zu kommen. Sie trägt die riesige Taschenlampe aus dem Auto. Der Nebel ist gar nicht so schrecklich, es reicht, ihn zu treten und er weicht aus … Und wenn man ihn anleuchtet, hört er auch zu rauschen auf.

Schließlich stehen Milada und Hanka nebeneinander und beobachten das Geschehen da oben, in der Mitte des Strommastes. Anička protestiert nicht und klettert nirgendwo darüber, sie hält sich fest und hält den eisigen Windstößen stand. Hanka leuchtet Jarda den Weg.

„Halt durch“, flüstert er sich zu. Er meint damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Nichte, Hanka und Milada. Anička sieht erschrocken aus. Plötzlich hat sie Angst vor ihrem Onkel. Womöglich hat sie gerade begriffen, welcher Gefahr sie ihn aussetzt. Unglaublich … Hanka schluckt, während sie die Höhe der Konstruktion bewundert. Dieser Kerl schafft vermutlich alles. Wie macht er das bloß, dass er überhaupt nicht ausrutscht? Verdammt, Milada erstarrt, jetzt ist er böse ausgerutscht. Um Gottes Willen, hoffentlich hat er sie bald! Streck die Hand aus, verflucht, Anina! Mich trifft der Schlag!

„Leuchte ordentlich, Hana!“

„Na was mach ich denn wohl!?“

„Du richtest das Licht ja ganz woanders hin!“

„In die Augen werde ich ihm sicher nicht leuchten!“

Milada hält es nicht mehr aus. Anička ist da oben in den Wolken so furchtbar klein, wie ein Stück Abfall, das der Dezemberwind dort eingeflochten hat. Wie konnte sie das nur zulassen … immerhin ist das ihr Kind!

„Rück ein bisschen zur Seite, hab keine keine Angst … Mach Platz, ich komm zu dir“, der Onkel konzentriert sich und lächelt zu Anička hinauf. Er schreit nicht mehr. Und gleich ist er bei ihr. Dann schaut auch er sich endlich um. Würde die frierende Áňa nicht direkt neben ihm hängen, wäre es echt toll hier. Schade, dass die Stadt im Dunkeln liegt, die Aussicht von hier wäre einzigartig.

„Kletter auf meinen Rücken“, gibt er seiner Nichte Anweisungen.

„Das geht nicht“, knurrt sie.

„Das schaffst du, mach schon. Das geht ganz leicht, wir klettern zusammen hinunter.“

„Ich geh nicht zurück …“

Wind stemmt sich gegen Jarda. Er kneift die Augen zusammen. „Mach keinen Blödsinn, Mama hat Todesangst um dich, das kannst du nicht machen.“

„Das höre ich doch dauernd. Ich geh aber nicht zurück zu ihr!“, sie drückt sich fester an die Eisenkonstruktion. Dann rutscht sie mit einem Fuß ab, rutscht mit dem ganzen Körper nach unten und stößt mit dem Kinn gegen eine Stange.

„Oh mein Gott, Áňa! Klettere auf meinen Rücken!“

„Ich kann nicht“, der schlanke Körper des Mädchens rutscht nochmal ab, noch weiter nach unten. Sie schafft es nicht mehr, sich festzuhalten, kann aber auch nicht langsam nach unten klettern. Jarda klettert vorsichtig hinab. Zurück ist es schlimmer als bis hierher, man darf keinen Fehler machen. Die beiden sind wieder auf derselben Höhe.

„Na los! Keine Angst!“ Bitte, hilf uns, schickt er in Gedanken noch irgendwo hinauf in den Himmel. Anička lässt mit einer Hand los, und im selben Augenblick packt sie ihren Onkel am Hals. Sie muss schnell sein, sie kann sich nicht zur einen Hälfte am Mast und zur anderem an ihrem Retter festhalten. Schließlich fasst sie Mut, und zitternd kriecht sie hinüber auf Jardas Rücken. Mit beiden Beinen umschlingt sie ihn und drückt sich an ihn. Mit den Händen klammert sie sich an seinen Hals und würgt ihn ein bisschen. Jarda schnauft und hält sich angestrengt fest. Áňa, die normalerweise kaum etwas wiegt, ist nun unglaublich schwer. Wenn sie jetzt hinunterfallen, sind sie beide tot.

„Was ihr da eingefallen ist!“, meldet sich Hanka, beinahe vorwurfsvoll.

Meinst du das ernst? Fängst du jetzt an, über uns zu urteilen, oder was?

„Ich bitte dich, halt dich gut fest. Haltet euch beide fest“, flüstert Mama. Wie hat sie nur glauben können, dass ihre geprellte Hand die größte Qual des heutigen Tages sein wird? Im Vergleich zu dem, was sie gerade beobachtet, kommen ihr alle anderen Sorgen lächerlich vor.

Ich werde mich nicht mehr fürchten … ein böser Mensch würde das nicht tun … der Lichtkegel der Taschenlampe schwankt. Hanka ist ganz gerührt. Jarda kommt ihr vor wie ein Held aus irgendeinem Film. Er hat es geschafft. Sie sind schon fast unten. Eine Sprosse muss er noch ertasten, dann kann Anička herunterspringen, ohne dass es gefährlich wird. Milada ist bereit. Ihre Tochter fällt ihr in die Arme und sie umschließt sie mit Tränen und einer Umarmung. Danke, atmet ihr Schwager auf, er schaut dankend hinauf auf den hohen Mast. Eines von vielen Problemen des heutigen Tages ist gelöst. Hanka fasst Mut und umarmt Jarda schüchtern. Dieser drückt sie fest an sich, sein Gesicht berührt ihre Stirn. Vor Freude klopfen sie sich auf den Rücken und lächeln sich an. Aus der Ferne nähert sich die Feuerwehr im Einsatz. Zum Glück brauchen sie die nicht mehr. Jarda ruft noch einmal seinen Bekannten in der Zentrale des Übertragungssystems an, die Krisensituation, bei der ein Mensch in Kontakt mit der Stromleitung kam, ist wieder vorbei.

Einwickelt in eine Decke liegt Anička hinten im Auto. Jarda schüttet etwas von der gefrorenen Erde auf die Feuerreste und Milada lädt alle zu einer warmen Suppe ein. Hanka klappern die Zähne, sie will endlich ins Warme. Und bei ihr zu Hause am Fluss hat sie es jetzt garantiert nicht warm, also hat sie nichts dagegen und begleitet das Mädchen gern. Anička ist unterkühlt und im Schock, bis jetzt hat sie nicht viel gesagt. Für einen Moment hatte Hanka aber den Eindruck, als hätte das Mädchen sie angelächelt.

 

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck