1.

Ich kam mit einem Koffer an, das war alles. Dem alten Rollkoffer meiner Mutter, mit dem sie auf ihren Dienstreisen immer um die Alte Welt geflogen war, bis der Arzt ihr das Fliegen wegen Thrombosegefahr verboten hat. Verdammt heiß war’s, Ende Juli, in dieser Woche waren sämtliche Rekorde gefallen. Meine Wasserflasche hatte ich im Bus liegenlassen, mit dem ich von uns aus in die Stadt gefahren war, die dem Institut am nächsten lag, denn bei uns gab es lediglich ein Anwerbungsbüro. Die Mitarbeiterin dieses Büros hat mir über das Institut erzählt, es handele sich um ein ehemaliges Fleischkombinat, und Ziel des Ganzen sei eine fortwährende sogenannte „Kleinstarbeit“. Das Institut verfüge über diese und jene Kapazitäten, einen eigenen Think-Tank, und dank seiner großzügigen Unterstützerinnen könne man sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren. Das Institut habe ich natürlich schon vorher gekannt, und das Entscheidende an dem, was mir die Mitarbeiterin erzählt hat, waren für mich die Unterbringungsmöglichkeiten für auswärtige Mitarbeiter. Als ich von all dem dann meiner Mutter erzählt habe, war sie hellauf begeistert. „Lebe deinen Traum“, hat sie mir gesagt, und: „Mach keine Kompromisse“, während ich mir diesen schrecklichen Rollkoffer geschnappt und mich zum Gehen gewandt habe. Ihre beiden Sprüche waren Zitate aus der Kampagne der Bewegung, an die sich heute keiner mehr erinnert und die mir und meiner Mutter schon damals ziemlich blöd vorgekommen war. Denn was heißt das schon, „keine Kompromisse machen“, das gehört ausdefiniert, und die Ziele der Bewegung waren weit entfernt von irgendeinem feministischen Nazismus oder sanften Diktat selbsternannter Prinzessinnen, geschweige denn, dass die Bewegung so etwas in ihre Kampagne aufnehmen würde. In den Schlafzimmern unserer Klienten brennt kein Licht. Ab halb elf herrscht völlige Dunkelheit; diesen Zapfenstreich haben sich die Klienten selbst verordnet und der Kommission ihren Plan lediglich zur Genehmigung vorgelegt. Dass irgendein Klientenantrag genehmigt wird, kommt nur selten vor, aber im Moment kann ich mich an nur einen abgelehnten erinnern, nämlich an den wiederholt gestellten Antrag, im Institut doch bitte Spiegel anzubringen. Die Reaktion der Kommission auf diese durchaus pragmatische Bitte war Folgende: „Wir spiegeln uns gegenseitig, und zwar nicht nur die Männer in den Frauen und umgekehrt, sondern die Männer auch in den eigenen Geschlechtsgenossen.“ Der Antrag auf Spiegel wurde also abgelehnt. Ansonsten verwandelt sich nämlich ein grundsätzliches „Die-Welt-betrachten“ Alte-Welt-mäßig in ein „Sich selbst betrachten zwecks Korrektur des Äußeren auf eine Art und Weise, die einen zum visuellen Konsumobjekt des anderen werden lässt, sowie zum Objekt, dessen Äußeres verbessert wird auf Kosten des Inneren“. Ich weiß noch, dass mir die damalige Ablehnung der Kommission ein bisschen übertrieben schien, aber heute habe ich Verständnis dafür und stehe voll und ganz dahinter. Denn die am wenigsten einzunehmende Festung der Alten Welt war noch immer die Alte Welt in uns selbst. Während die Kämpfe der Bewegung auf den Schlachtfeldern dieser Welt (oder zumindest auf den Schlachtfeldern unserer Breitengrade) größtenteils längst ausgefochten sind, werden die Kämpfe gegen uns in Fleisch und Blut übergangene Denkmuster noch immer geführt, und zwar hinter den Kulissen. Ein paar von diesen Spiegel fordernden Klienten hatten sich noch kleinlaut darüber mokiert, „dass man hier am Institut nicht mit zahnpastaverschmiertem Mund herumlaufen will“, ein Einwurf, der von der Kommission dadurch abgeschmettert wurde, dass man sich ja von seinen Zimmerkollegen den Mund auf Zahnpasta kontrollieren lassen könne, und als einer der Klienten den Ball zurückgab mit den Worten: „Ich habe hier aber keine Freunde“, lautete die brüske Abfuhr: „Dann frag halt eine Aufseherin.“ Hier muss ich immer grinsen, weil mich nämlich in all den Jahren noch keiner gefragt hat, ob sein Mund mit Zahnpasta verschmiert sei; diese Geschichte erzähle ich gern den Novizinnen, die ich hier zuweilen als Tutorin betreue. Quasi als Beleg dafür, dass im Institut nicht nur die Klienten geistig wachsen, sondern auch das Personal. Den damaligen Kommissionsbescheid gegen das Anbringen von Spiegeln hatte ich nämlich angezweifelt, aber mittlerweile bin ich natürlich klüger. Wenn ich das alles schon damals gewusst hätte mit meinem laut rumpelnden Rollkoffer auf diesem schrecklichen Feldweg zum Institut, hätte ich mir ein paar Lektionen erspart beim Antritt meines Dienstes, den ich mir irgendwie wie die Arbeit einer Gefängniswärterin in einem Alte-Welt-Film vorgestellt hatte, mit Zelleninsassen-Kontrolle durch ein Guckloch und so. Ehrlich gesagt sind das schon so viele Jahre her, dass ich mich an meine damalige Vorstellung von meiner künftigen Arbeit kaum noch erinnern kann, sondern vor allem daran, wie durstig ich damals war, denn dieser Weg zum Institut von der letzten Bushaltestelle aus war einer von denen mit Schild samt der Aufschrift „Privatweg – Kein Winterdienst – Betreten und Befahren verboten!“, wiewohl es keinerlei Schranke gab, und so war das in der Alten Welt ja mit allem und jedem. Lügen über Lügen über Lügen, und dieses der Erziehung junger Mädchen abträgliche, da gänzlich unethische Umfeld konnte sich wahnsinnig lange halten auch dank der ganz gewöhnlichen menschlichen Blödheit. Als ich mich dem Institut genähert habe, wurde mir fast schwarz vor Augen, und beinahe hätte ich das mehrflügelige große Gebäude mit der dicken Mauer drum rum für eine Fata Morgana gehalten. Außerdem war ich von oben bis unten eingestaubt, weil laufend Autos in dieser oder jener Richtung an mir vorbeigefahren sind. Dieser rege Verkehr auf diesem dann doch nicht Feldweg hat mich einigermaßen überrascht, aber hätte ich auch nur ein bisschen nachgedacht (an meinem Nichtdenken war die Hitze schuld), wäre mir das Ganze wohl gleich klar gewesen. Wie auch sonst hätten die Klienten zum Institut kommen sollen? Die Buslinie endete dort, wo ich ausgestiegen war, und nicht jeder kann sich ein Taxi leisten, was sowieso nur dann in Frage kommt, wenn der betreffende Klient in der Stadt wohnt, die dem Institut am nächsten liegt, aber die meisten Klienten kamen und kommen von woanders her. Aus Orten, wo es eben kein Institut gibt, oder unser Institut haben sie sich gezielt ausgewählt wegen unseres Rufs, wegen der kurzen Wartezeit (weil wir größer sind als andere Institute, kriegt man bei uns eigentlich immer sofort einen Platz) und wegen unserer hervorragenden Ergebnisse (im Schnitt dauert eine Behandlung bei uns kaum länger als achtzehn Monate). Irgendwelche lokalen Zuständigkeiten hat die Bewegung nie eingeführt, denn die Entscheidungsfreiheit bezüglich des Ortes, an dem man sich behandeln lassen will, ist eine ethische Maxime; aber manchmal entscheiden auch die Ehefrauen, und zwar aufgrund irgendwelcher Empfehlungen durch Bekannte oder nach einem persönlichen Besuch (noch immer ist an jedem ersten und zweiten Mittwoch des Monats Tag der offenen Tür). Frauen, die sich von der Wirksamkeit der Behandlung vorab selbst überzeugen kommen, sind im Übrigen die beste Garantie für eine wirksame häusliche Nachbehandlung, und deren Männer entlassen wir dann auch gern auf Revers. Damals habe ich verständlicherweise noch nichts davon gewusst. Die mich hin und wieder überholenden Autos habe ich für Teil irgendeiner geheimnisvollen Rundfahrt gehalten, und das Einzige, was ich mich gefragt habe, war, warum all diese in Institutsrichtung fahrenden Autos von Frauen gesteuert werden, während die ausschließlich hinten sitzenden Männer allesamt schlafen oder zumindest einigermaßen benebelt wirken. Wenn mir schon damals irgendwer gesagt hätte, dass das wegen der Beruhigungsmittel ist, hätte mich das wohl ziemlich schockiert. Wiewohl allgemein bekannt war, dass mit den meisten Männern vor deren Aufnahme am Institut kein wirklich leichtes Auskommen war, und das galt insbesondere für diejenigen Männer, in deren allernächstem Umfeld sich auch noch kein anderer einer Behandlung unterzogen hatte, weshalb die Betreffenden dann unbegründete Angst vor irgendwelchen Repressalien bekamen. Das haben ihnen nicht zuletzt die Männlichkeitswächter eingebläut mit ihrem ewigen Rumkrakeele, dass es am allervernünftigsten sei, mit einer Behandlung erst gar nicht anzufangen, worauf dann unsere Grünen Ambulanzminnas ausschwärmen müssen. Die waren auch das Erste, worauf mein Blick gefallen ist im ehemaligen Fleischkombinat, bevor mir dessen gesamte Herrlichkeit schlicht den Atem geraubt hat. Die Grünen Minnas parken noch immer da draußen, aber der speziell für sie vorgesehene Parkplatz ist längst nicht mehr so voll wie damals noch, als ich hier angefangen habe, was auch logisch ist, denn die Grünen Minnas kommen bei Männern zum Einsatz, die sich einer Behandlung entziehen, und deren Zahl nimmt von Jahr zu Jahr ab. Heutzutage überwiegen die freiwilligen Behandlungen (und welcher unserer Erfolge wäre bedeutender?), und nicht wenige Männer freuen sich regelrecht auf ihren Institutsaufenthalt wie auf eine Art Erholungsurlaub. In diesem Glauben lassen wir sie auch, denn noch früh genug werden sie eines Besseren belehrt. Dass das hier eine Art Kuraufenthalt sei, das haben wir im Übrigen noch nie behauptet. Vielleicht sagen wir nicht immer gleich alles, aber uns irgendwelcher Lügen zu bezichtigen, das ginge zu weit, und den Rest erledigen dann unsere Anwältinnen. Was könnte einen außerdem mehr erleichtern, als sich der eigenen Dummheit zu entledigen, und mit dieser Art Erholung liegen die Männer also gar nicht so falsch. Die am Tag der offenen Tür am häufigsten gestellten Fragen beziehen sich logischerweise auf die Behandlung. Und beim Klopfen ans Fenster des Pförtnerhäuschens habe auch ich daran gedacht. An der Schnittstelle zwischen Idealen und deren Umsetzung in die Praxis hat es in der Menschheitsgeschichte noch immer gehapert, so dass die Männlichkeitswächter ja auf den Kopf gefallen wären, hätten sie nicht genau das gegen uns verwendet, es gebetsmühlenartig runtergeleiert, dieses Aufzählen historischer Zusammenbrüche, des Sturzes vom Kommunismus und all der anderen Ismen, die angeblich genau wie unsere Bewegung mit nettem Gedankengut gelockt haben direkt hinein in eine Falle aus Terror und Chaos und sinkender Lebensqualität – und schließlich verfielen die Ideale an sich, waren sie doch vor lauter Vertrauensverlust eh schon verwässert. Unsere Bewegung hat ihre Einschüchterung durch den Gegner als Sieg verbucht, denn die Einsicht in die Tatsache, dass die Bewegung auf einem „guten Gedanken“ beruht, war ein Quantensprung weg vom Etikett des Extremismus, das uns noch angehaftet hat, bevor im Keller des Innenministeriums diese Bombe explodiert ist, die die Bewegung dann rauskatapultiert hat aus ihrer Ecke der „ungefickten Weiber“ mitten hinein ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit; dem ganzen Alte-Welt-Diskurs wurde damit eine Ohrfeige verpasst, über die heute Dissertationen verfasst werden. Und all die Verleumdungen mit der Behauptung, es käme, würden unsere Ideale in die Praxis umgesetzt, zum unwiderruflichen Debakel, war lediglich ein Manöver zum Einläuten des Rückzugs. Denn schon aufgrund ihrer Stärke konnte man die Bewegung damals schlicht nicht mehr ignorieren. Ein Drittel der Bevölkerung als Querköpfe zu bezeichnen, das ist zwar möglich, aber politisches Kapital schlägt ein anderer daraus, und ein Bürgerkrieg ist dann gar nicht mehr weit entfernt von einem Land, das vor lauter Unruheherden sowieso schon fast brennt. Aber einen Krieg, den wollte keiner. Und diskursive Haken zu schlagen, um das System ohne jede Reform aufrechtzuerhalten, das musste jedem, der noch einigermaßen bei Verstand war, weit schwieriger erscheinen als der altbekannte „Sprung ins kalte Wasser“, vor dem im Zusammenhang mit der Verwirklichung unserer Ideale immer wieder gewarnt wurde. Mir wurde also ein Büro zugeteilt, eine Wohneinheit und ein Zahlencode, mit dem ich dann Zutritt hatte zu Räumen, die weder Klienten noch Mitarbeiterinnen anderer Abteilungen – freilich außer deren Leiterinnen – betreten durften. Außerdem wurde ich mit der Hausordnung vertraut gemacht, ich habe Arbeitskleidung bekommen, mir wurden Kantine und Lagerräume gezeigt, und darüber hinaus ein paar Klienten-Schlafzimmer und ein paar Klienten selbst (sowohl überaus lebendig wirkende Männer als auch regelrechte Wracks, man hatte also keine beschönigende Vorauswahl getroffen). Und schließlich hat mir meine Abteilungsleiterin zwei Stunden ihrer wertvollen Zeit gewidmet. Genau. Die Bewegung weiß ihre Mitarbeiterinnen nämlich zu schätzen, und dieser individuelle Zugang funktioniert auch im Verhältnis zu den Klienten. Wir alle sind einzigartige Wesen, und als ein solches muss auch ein jeder und eine jede von uns behandelt werden. „Falls wir nicht allumfassend wirken, hält sich dieser Diskurs auch weiterhin. Und kehrt dann wie ein Bumerang zurück, um Ihnen Ihren Schädel samt Hirn wegzuschießen; und außerdem ging es auch darum, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen“, hat mir die damalige Abteilungsleiterin gesagt, eine untersetzte Frau um die Fünfzig, die wie eine Fleischereifachverkäuferin ausgesehen hat, die in Wirklichkeit aber ein Fernstudium in Oxford absolviert hatte. Das Aussehen ist nämlich genauso irrelevant wie das Hierarchisieren je nach Ausbildung und Beruf. Meine jetzige Abteilungsleiterin wiederum ist wirklich mal Fleischereifachverkäuferin gewesen, und exakt das ist es ja, womit das Institut seine Bewerberinnen lockt: die Tatsache, dass es hier keinerlei gläserne Decke gibt, was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Meine Tutorin stand mir ganze zwölf sogenannte Schulungswochen zur Verfügung, und nicht selten muss ich an sie denken, wenn ich jetzt selbst als Tutorin Novizinnen betreue, unter denen immer häufiger auch Männer sind. Mit den Klienten sitzen wir im Haus D im Kreis. Haus D gehört zu meinem Arbeitsbereich und unterliegt der direkten Leitung durch die Regionaldienststelle der Bewegung. Von meinem Arbeitszimmer aus sehe ich Gewerbegebäude. Bevor Gedanke und Werk eingezogen sind, war dort das Fleischkombinat untergebracht. Und ein Erfolg der Bewegung ist es in der Tat, dass der Gedanke zum Werk geworden ist, und während ich den Klienten von einem kleinen Mädchen namens Rita erzähle, stieren nicht wenige unbeteiligt auf die Wand oder aus dem Fenster auf den Hof, in dem neuerdings Zierkirschen stehen (ginge man nach dem Gesumme der Bienen, könnte man sowohl die Bäume als auch die Bienen für echt halten). Meistens beginne ich folgendermaßen: „Rita hat lediglich über eine erhöhte Sensibilität verfügt in Bezug auf die Ungerechtigkeiten der Welt, mit der sie sich konfrontiert sah …“, und damit meine Zöglinge diesen Anfang auch gut verdauen, erzähle ich erst einmal von dieser Welt. Und davon, wie Rita als kleines Mädchen mit ihrer Mutter den Boulevard einer europäischen Großstadt entlang spaziert ist, auf dem unsere Geschichte beginnt und der – typisch für die Alte Welt – gesäumt war von schrecklichen Riesenreklametafeln. Und Rita hat auf eine dieser Reklametafeln gezeigt und ihre Mutter gefragt, was in der Alten Welt früher oder später ein jedes Mädchen seine Mutter gefragt hat, denn ein der Erziehung förderliches ethisches Umfeld hat damals noch nicht existiert, so dass diese Frage einfach gestellt werden musste. Eine Frage, die einem kleinen Mädchen eigentlich gar nicht einfallen sollte, und zwar nicht deshalb, weil ein kleines Mädchen nicht selbständig denkt, sondern schlicht deshalb, weil es für diese Frage keine Begründung gibt. Und ob das Mädchen diese Frage nun laut formuliert oder sie sich – eine furchtbare Antwort bereits ahnend – lieber verkneift, wobei sich diese Frage dann im Mädchenkopf festsetzt, also das ist letztlich egal. Ein der Entwicklung kleiner Mädchen förderliches ethisches Umfeld ist ein Umfeld, in dem sie sich selbst begreifen lernen als jemanden, der sieht, im Unterschied zu jemandem, der gesehen wird. Kleine Mädchen sollen lernen, selber zu sehen, und nicht nur zusehen, wie man sie sieht und wie man ihre Mütter sieht und wie ihre Mütter sich meistens eher darum scheren, ob sie denn auch ausreichend sexy sind. Und bevor sich die kleinen Mädchen in der Alten Welt an all das gewöhnt hatten, haben sie das erst mal mit großen Augen bestaunt, waren dann aber vor lauter Grauen über das eigene Geschlecht aus diesem Staunen auch gleich wieder draußen; dies also ein Akzeptieren von Fakten, so wie sie sind, und zwar zum eigenen Besten. Also, einfacher ausgedrückt für die weniger Hellen: zum eigenen Besten sich den Weg zur eigenen Hölle mit guten Vorsätzen pflastern. Gern wurde (freilich hinter vorgehaltener Hand) behauptet: Der Wert einer Frau nimmt nach ihrem zwanzigsten Lebensjahr rapide ab, also alle zwei Stunden Halbwertzeit. Und das volle Ausmaß dieser Bescherung wurde einer Frau erst beim Gongschlag bewusst, nach dem vermeldet wurde: „Gesicht und Figur: bitte abschreiben“, was dann hieß, dass der Weiblichkeitswert der Betreffenden gegen Null ging (beim Verkauf von Östrogen-Pillen haben Pharmaunternehmen in der Zeit, als die Bewegung ihre ersten bescheidenen Erfolge gefeiert hat, maximale Verkaufszahlen erzielt). Den Besitz eines hinreichend hässlichen Frauengesichts war die Alte Welt für gewöhnlich imstande, bereits Jahre vor Einsetzen des eigentlichen Alterungsprozesses zu konstatieren, also wenn der Körper der betreffenden Frau noch in einer durch eine dreifache Lycra-Schicht verstärkten Hosen zusammenhielt, das Gesicht aber keiner mehr für schön hielt; und einige Untersuchungen aus der Zeit noch vor der Bewegung haben sich damit beschäftigt, was mit Frauen geschieht, die aufgrund ihrer Hässlichkeit jegliche Weiblichkeit einbüßen – eine Weiblichkeit, die im Übrigen keiner definieren konnte ohne den schnöden Verweis auf Anmut, die ohne Jugend schlicht nicht zu haben ist – eine Jugend wiederum, die gewisse unbeugsame Frauen dadurch für sich beansprucht haben, dass sie sich halt ganz einfach jung fühlten; aber während die Medien-Propaganda diese Frauen in ihrem Jungfühlen noch zu bestärken pflegte (Mitarbeiter mit Depression sind nämlich weniger leistungsfähig), vertraten Kosmetikindustrie und plastische Chirurgen die These, dass ein bloßes „Fühlen“ hier auch nicht mehr helfe. Frauen sollten ihr Alter vielmehr weitestgehend verbergen, und zwar nicht nur, weil den Vaginen von unverhohlen alten Frauen keinerlei Penis jemals mehr eine Erektion zu erweisen in der Lage sei, sondern vor allem, weil das Ganze so fatal mit Liebe zusammenhänge. Kurzum war die Zeit nicht nur reif für eine Reform, sondern sie schrie förmlich danach. Wiewohl einige ja lediglich von irgendwelchen Abweichungen sprachen, angeblich bedingt durch von der Umweltverschmutzung hervorgerufene hormonelle Schwankungen. Früher sei die Libido älterer Frauen angeblich weit schwächer gewesen (wobei Theoretikerinnen der Bewegung darauf hingewiesen haben, dass diese Libido früher einfach verschwiegen worden ist); eine Libido also, die in der Alten Welt Frauen ab einem gewissen Alter einfach abgesprochen wurde, denn bei älteren Frauen hielt man den Wunsch, jemandes Begehren zu wecken, für lächerlich, und deren intensive Lust auf einen wehrlosen Anderen für belastend. Einziger entlastender Umstand in den Augen der Alten Welt war ein trügerisches weibliches Äußeres. Mit dem durften Frauen betrügen, um sich ihr Recht auf Liebe zu sichern. Ganz genau, so verzweifelt war man damals. Man musste sich endlich neu orientieren, ein ganzes Jahrtausend lang hatte man ja schlicht „drauf geschissen“ – und ja, dass wir vulgär seien, wurde uns auch vorgeworfen. Ich sage „uns“, denn auch ich bin ja eine Vertreterin des großen Gedankens. Damals war ich freilich noch ein kleines Mädchen. Mein Grundgefühl während meiner Kindheit entsprach dem im Auto mit meiner Mutter, wenn wir völlig orientierungslos herumgekurvt sind über weit verzweigte, schlecht asphaltierte Landstraßen, und wenn weder das letzte noch das gegenwärtige noch das folgende Dorf so hieß wie das Dorf, bei dem wir auf die Bundesstraße hätten auffahren sollen. Ihr Navi hat meine Mutter immer ausgeschaltet, um sich, wie sie sagte, darauf vorzubereiten, dass Hacker dereinst per Rundumschlag alle Elektrogeräte außer Gefecht setzen. Und während sie auf den Regen und die Dunkelheit schimpfte, hatte ich ein bisschen Schiss, freute mich aber zugleich über unser Abenteuer. Den Klienten pflege ich zu sagen: „Die Frage, die Rita damals ihrer Mutter gestellt hat angesichts der Reklametafel beim Spaziergang über diesen Boulevard, lautete: ‚Mami, warum ist diese Frau denn nackt?‘“ Ob die aus dem dargestellten Mini-BH herausquellenden Brüste und der in einem viel zu knappen Höschen steckende Hintern nun eine Werbung waren für Erdnüsse, Kräuterbutter, Malerbedarf oder das allerneueste Blutdruck-Messgerät, ist nicht überliefert, aber Ritas Frage wurde zum Meilenstein. Denn just diese Frage hat Rita später als Auslöser der Erkenntnis gewertet, die schließlich zur Gründung der Bewegung geführt hat. Als Erwachen aus einem ewig währenden tumben und so erniedrigenden Schlaf. Als symbolischen Beginn der Revolution. Es gibt ja welche, die behaupten, Ritas Geschichte sei von Anhängern der Bewegung schöngeredet worden. Dass man sie mit einem falschen Heiligenschein versehen habe. Und ihr Schicksal als Mutter der Bewegung verfälscht, erfunden und mindestens zur Hälfte erstunken und erlogen, um ganz pragmatisch zu manipulieren und zu glorifizieren und dem Beginn des gesellschaftlichen Umsturzes einen Sinn zu verleihen, der ihm ansonsten abgehe. Diesen Leuten hat das Ganze einfach nicht in den Kram gepasst. Anstatt denen hier jetzt aber Paroli zu bieten, sage ich lediglich: Die Geschichte, die ich hier erzählen werde, erzähle ich so, wie ich sie kenne. Und die Dinge, die ich schildern werde, habe ich entweder gehört oder gelesen oder selbst erlebt, ich werde also nichts übertreiben, verdrehen oder beschönigen, und falls sich dann doch irgendetwas anders zugetragen haben sollte, ändert das nichts an den Schlüssen, die wir gezogen haben. „Das Schweigen meiner Mutter war ein finsteres“, erzählte Rita später mit einem Lächeln auf dem einen oder anderen Treffen der Bewegung, wo sie diese Geschichte aus ihrer Kindheit zum Besten gegeben hat. Mit einem Lächeln, das auf zahlreichen Fotografien und Fernsehaufzeichnungen erhalten geblieben ist, und zwar zu einer Zeit, als sich die Bewegung bereits durchgesetzt hatte auch an prestigeträchtigen Universitäten, deren Ehrendoktorwürden Rita immer wieder mit eben diesem Lächeln abgelehnt hat. Es widersprach nämlich ihrer Geisteshaltung und Zielsetzung, mit Institutionen zusammenzuarbeiten, die trotz ihrer intellektuellen Bestrebungen in all den Jahren ihres Wirkens nicht in der Lage gewesen sind, das zu realisieren, was Rita, einem Mädchen aus einfachsten Verhältnissen und ohne finanzielle Mittel, gelungen ist, nämlich der Fratze der Alten Welt einen Spiegel vorzuhalten, in dem sich diese Fratze lediglich selbst anstarrt, und nur deshalb brach schließlich Panik aus. Der den Passanten präsentierte nackte weibliche Leib hat in der Alten Welt lediglich dem Geschäft und Verkauf von Waren gedient, und nicht nur, dass sich keiner an diesem unethischen Umfeld gestört hat, nein, es wurde nicht mal irgendwer zur Rechenschaft gezogen. Die Bewegung hat also gar keine andere Wahl gehabt.

 

aus dem Tschechischen von Doris Kouba