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Tag und Nacht mit einem Prager Schläger

Das Hörspiel „Nationalstraße“ nach dem Roman von Jaroslav Rudiš

Von Martin Becker

Jaroslav Rudiš und Martin Becker im Hörspielstudio des WDR

Jaroslav Rudiš und Martin Becker im Hörspielstudio des WDR

Kürzlich habe ich zwei Wochen mit einem üblen Typen verbracht. So ein Typ, wie man ihn ab und zu in den Nonstops der tschechischen Hauptstadt treffen kann. So ein Typ, der von sich selbst behauptet, kein Nazi zu sein – mit einem besoffenen Hitlergruß aber nicht so richtig Probleme hat. So ein Typ, der rechte Sprüche klopft, aber mit den Rechten nichts zu tun haben will, einer, der sich abgehängt fühlt, ein Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Sager, einer, der nur noch mit einem Schlag ins Gesicht zeigen kann, wie das Leben geht.

Es ist ziemlich anstrengend, Tag und Nacht mit so einem Prager Schläger zu verbringen – aber immerhin, es war in dem Sinne keine direkte Konfrontation. Für den Westdeutschen Rundfunk habe ich den Roman „Nationalstraße“ von Jaroslav Rudiš als Hörspiel bearbeitet und selbst Regie geführt. Also waren wir tatsächlich eingepfercht in einem Funkhausstudio im Keller, dieser Typ namens Vandam, Protagonist und Oberprügler des Romans, und ich, der sich natürlich noch nie in seinem Leben richtig geprügelt hat.

Zwei Wochen lang suchte ich gemeinsam mit dem Team nach Geräuschen von zerberstenden Krügen und brechenden Nasen, verglichen wir die Frequenz amerikanischer Polizeisirenen mit dem tschechischen Einsatzsignal, überlegten wir, ob das Hintergrundgemurmel einer deutschen Kneipe das Gebafel einer tschechischen Kneipe ersetzen kann.

Das Interessante an der Hörspielproduktion war: Ich musste niemandem viel erklären. Obwohl die meisten der Schauspielerinnen und Schauspieler noch nie oder selten in Tschechien waren, obwohl die „Nationalstraße“ und somit der Beginn der „Samtenen Revolution“ gerade im Westen Deutschlands nicht unbedingt zum historischen Standardrepertoire gehört, verstanden alle an dem Projekt Beteiligten auf der Stelle, was für eine Geschichte im Stück erzählt wird: eine sehr mitteleuropäische und sehr alltägliche nämlich, betrachtet durch das Brennglas der Romanform, zugespitzt durch zu viele Schnäpse in zu vielen Nonstop-Bars der Prager Außenbezirke.

Jaroslav Rudiš hat mit seinem Vandam einen literarischen Anti-Helden erfunden, geformt nach einem realen Vorbild, geschrieben aus Geschichten, die es nur in der Wirklichkeit geben kann. Der Roman ist schon mehrere Jahre alt – und doch fühlte es sich beim Machen des Hörspiels an, als würde das Buch und zugleich dieser Typ mit der Zeit mehr und mehr an Gültigkeit gewinnen.

Nachdem ich zwei Wochen lang akustisch einem Schläger beim Schlagen geholfen hatte, nachdem mir dieser Mensch auf unerklärliche Art ans Herz gewachsen war, all seiner Grobheiten zum Trotz, nachdem zugleich dieses unlösbare Resträtsel blieb, warum dieser Typ nur so ist, wie er ist, wurde das Hörspiel in Deutschland gesendet, fand die Geschichte von Vandam auch den Weg zu denjenigen, die den Roman nicht kannten.

Kurze Zeit danach fanden in Deutschland die Bundestagswahlen statt. Und im Fernsehen gab es Demonstrationen zu sehen, Archivbilder und Aktuelles, mitunter mit solchen Typen wie Vandam, tschechisch, deutsch, mitteleuropäisch, welche Rolle spielt das schon. Jedenfalls hätte ich all die gefühlt abgehängten Vandams an jenem Abend gern gefragt, warum sie so sind, wie sie sind, wo ich sie doch eigentlich im Grunde gar nicht unsympathisch finde, jedenfalls nicht alle und nicht per se, doch wahrscheinlich gibt es auf manche Rätsel einfach keine Antwort, bleibt uns als Erklärungsversuch nur die Literatur, bevor sie erneut in Überschall von der Wirklichkeit überholt wird.

Link zum Hörspiel auf den Seiten des WDR

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