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Unterwegs zwischen den Klischees

Deutsch-tschechische Autorenfluchten früher und heute

Von Martin Becker

Mit Tränen in den Augen: Fast in Prag.

Mit Tränen in den Augen: Fast in Prag.

Eigentlich ist es immer das gleiche Spiel: Kaum habe ich meine Prager Bleibe verlassen und sitze im Zug nach Deutschland, bestenfalls im Speisewagen beim letzten Bier vor der Grenze, dann werde ich schwermütig. Dann will ich gleich wieder zurück und mit dem Pfiff des Schaffners in allerletzter Sekunde in Děčín aus dem Zug springen, und mir – schon zu diesem Zeitpunkt vor Sehnsucht heulend – sämtliche Kleider vom Leib reißen, um nackt in der Elbe über die Moldau vollkommen unterkühlt das heiß geliebte Prag zu erreichen. Hochnäsig und abschätzig laufe ich nach meiner Rückkehr durch Leipzig und schimpfe leise oder laut vor mich hin: diese Provinz, dieser Mief, dieser deutsche Unsinn sondergleichen – und wie die Sachsen dann auch noch gewählt haben!

Nun ja, der Ehrlichkeit halber muss ich auch die andere Seite darstellen: Bin ich wieder in Prag, dann dauert es meist nur wenige Tage, bis ich Heimweh habe, bis ich denke, ach, Leipzig, wir kennen uns schon so lange, verzeih mir die Beschimpfungskaskaden, ich tue wirklich alles für dich, wenn du mich beizeiten zurück nimmst. Meist bin ich dann furchtbar verkatert und verfluche nicht nur das Prager Bier, sondern vor allem diese mir auch nach Jahren noch abstrus fremde Sprache, in der ich dem Paketboten am Telefon radebrechend-tschechisch erkläre, dass meine Klingel nicht funktioniert und er mich bitte anrufen soll – er wiederum aber auch am dritten Tag in Folge nur lapidar mitteilen lässt, er habe mich leider nicht antreffen können. Und dann denke ich: Dieser Lärm! Diese Kafkaesken! Und wie die Tschechen auch noch gewählt haben!

Ich bin also nicht hier. Ich bin also nicht dort. Ich befinde mich in einem ständigen Dazwischen, zu allem Überfluss selbst gewählt. Machen wir uns nichts vor, ich fliehe. Ständig von A nach B, um mich in B wieder furchtbar nach A zu sehnen und umgekehrt. Wer unterwegs ist, ist ruhelos – obwohl er vielleicht eigentlich nur die Ruhe sucht. Ein wunderbar selbst kreiertes Dilemma also, von dem ich dachte, dass ich es zumindest mit meiner narzisstisch-ironisch-jammerlappigen Betrachtung ganz allein so empfinde.

Aber dann kam kürzlich mein Geburtstag, und mit ihm kam Jaroslav Durych, der hier an einigen Stellen ja schon erwähnt wurde. Militärarzt und renommierter Vertreter der tschechischen katholischen Literatur im 20. Jahrhundert, lese ich über ihn. Und, dass er durchaus streitbar war. Was Durych so gemacht hat wie ich: Er ist mit dem Zug von Prag an Moldau und Elbe entlang nach Deutschland gefahren. Er wollte erst nicht hin. Aber so was von gar nicht.

„Unerkannt durch Deutschland“ heißt sein fast magischer Bericht dieser Reise, die er 1925 unternahm – nur und ausschließlich, weil er über Wallenstein recherchieren und einen Roman schreiben wollte. Und so liest sich das dann auch: Durych sehnt sich ewigen Regen herbei, während er durch Deutschland fährt. Er empfindet das Nachbarland als humorlose Hölle voller Gestalten, die in allen Disziplinen brillieren – nur in der Kunst des Lächelns leider nicht. Und so geht diese wilde Reise los, assoziiert sich der Autor um Kopf und Kragen, ist er vollkommen verloren, wie man es tatsächlich nur sein kann, wenn man Sehnsucht im Kopf und Unbehaustheit im Herzen hat.

Das Grandiose an dem Buch: Es ist verdammt lustig und unfassbar modern. Weil Durych sich selbst immer wieder aufs Korn nimmt, weil er genau den narzisstisch-ironisch-jammerlappigen Tonfall anschlägt (das meine ich im Gegensatz zu mir im Falle dieses Autors ganz und gar positiv), wie man ihn für das Unterwegssein zwischen deutsch-tschechischen Klischees gut gebrauchen kann.

Nur ein Beispiel, ich kenne es gut, natürlich aus umgekehrter Richtung: Da sitzt der Erzähler im Zug kurz vor der deutschen Grenze und beschreibt eine Familie auf den Abteilplätzen gegenüber, wie sie deutscher nicht sein kann. Kalt. Humorlos. Rein funktional. Mutter. Vater. Tochter. Als der Erzähler das Mädchen anlächelt und das Mädchen es versuchsweise wagt, das Lächeln zu erwidern – da grätscht die Mutter dazwischen, könnte sie es, dann würde sie der Tochter ein Tuch um die Augen binden. Und dann kommt das, was „Unerkannt durch Deutschland“ so besonders macht: Der Erzähler beobachtet, wie diese urdeutsche und sämtliche Klischees bestätigende Familie kurz vor Děčín aufsteht, das Abteil verlässt – und sich in muttersprachlichem Tschechisch unterhält.

Natürlich wandelt sich Durychs Abneigung während seiner Reise durch Deutschland. Denn es war doch eigentlich immer schon das gleiche Spiel: Am Ende will er gar nicht mehr weg aus der vermeintlichen Fremde.

 

mb1982