PROLOG
In Al-Khalesa, dem arabischen Viertel der sizilianischen Stadt Palermo, lebte eine wunderschöne junge Frau. Sie war tugendhaft und liebte allein ihre Blumen. Als sie einmal auf dem Balkon die Hibiskus- und Jasminpflanzen goss, erblickte sie ein ansehnlicher sarazenischer Händler. Er entbrannte in einer verzweifelten Liebe zu ihr, die er weder mit Gebeten noch mit schwerem Wein zum Verlöschen bringen konnte. Immer wieder kam er unter den Balkon der Angebeteten, ließ sich auf ein Knie nieder und blickte verliebt hinauf, wo sie Rosen schnitt und den Orangenblüten ein Lied sang. Die junge Frau war nicht aus Eis, und schon bald öffnete sie dem charmanten Sarazenen Herz und Tür.
Die Liebe der beiden war tief und ihr Begehren leidenschaftlich und unersättlich. Das Paar verharrte in der Umarmung bis zum ersten Hahnenschrei und versprach einander Treue bis ans kühle Grab.
Dann musste die junge Frau feststellen, dass ihr Liebster vergessen hatte ihr zu sagen, dass er im Orient, wohin er bald zurückzukehren gedachte, Frau und Kinder hatte. Dies stürzte sie in Abgründe von Verzweiflung und Erniedrigung. Sie wartete, bis der Geliebte eingeschlafen war, und trennte ihm den Kopf vom Leib. So konnte er sie nie mehr verlassen. Aus seinem edlen sarazenischen Haupt machte sie sich eine Pflanzschale, in der sie Basilikum aussäte. Jeden Tag goss sie es dann mit ihren Tränen. Das Basilikum wuchs zu unerhörter Kraft heran und verströmte einen betörenden Duft, der sich Abend für Abend in Al-Khalesa ausbreitete wie zuvor das Stöhnen der beiden Liebenden. Das hatte zur Folge, dass jeder, der vorbeikam, für einen Augenblick innehielt und an den Moment zurückdachte, in dem er so sehr geliebt hatte, dass er sich zu sterben wünschte.
I.
Der Junge kratzt sich am Bein, da ist Schorf von letztem Mal, als er zu schnell vom Baum gesprungen war. Der Schorf fesselt ihn, konzentriert pult er ihn ab, bis er ihn ganz abreißt. Er zischt. Aus der Wunde quillt frisches Blut. Rot wie die gläserne Laterne am Hals von Izar, dem Händler.
„Kscht, oder ich schlag dich“, ruft der Junge dem Hund zu, der ihn unter dem Baum anbellt. „Wenn du uns verrätst, wenn wegen dir jemand unseren Baum entdeckt …“, knurrt der Junge den Hund an, wie er es beim Vater gesehen hatte, sodass der Hund den Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmt und verstummt, „dann bist du tot. Wenn du uns verrätst, geb ich dich an den Abdecker.“
„Ich muss gehen“, sagt der Junge und dreht sich zu seinem Freund um. „Wenn ich bis zur Hinrichtung nicht zurück bin, verprügelt mich der Vater. Ich komme morgen wieder.“ Er berührt ganz sanft die Vögelchen im Schoß seines Freundes, dann dessen Hand und springt hinab. Er landet mit der Leichtigkeit einer Katze. Der Hund hüpft an dem Jungen hoch, er könnte vor Freude verrückt werden.
„Kscht!“, ruft der Junge. Der Hund läuft vor ihm her nach Hause und dreht sich andauernd um. Manchmal hält er an, setzt sich und kratzt sich hinterm Ohr. Der Junge ist froh, dass der Hund mit ihm geht, auch wenn er Flöhe hat; sie müssen durchs Tal der verlorenen Kinder, und dort zieht es ihm immer ein bisschen die Arschbacken zusammen, also macht er sich mit Gesang ein wenig Mut. Aus dem Fels ragen hier steinerne Kinderköpfe heraus, die mit leeren Augenhöhlen aus der Vergangenheit vor sich hinstarren und aus deren Mund zwischen den Zähnen vertrocknetes Moos herauswächst. Sie sind so gruselig, dass die Jungen aus der Stadt immer erst dann einen Namen bekommen, wenn sie es geschafft haben, das Tal zu durchqueren, ohne sich in die Hosen zu scheißen. Der Junge geht schon lange diesen Weg, er könnte also seinen eigenen Namen schon längst haben, aber er kann es niemandem sagen. Sollte jemand erfahren, dass er immer durchs Tal der verlorenen Kinder geht, könnte derjenige den Baum mit seinem Freund entdecken. Das wäre das Allerschlimmste, was ihm passieren könnte.
Jedes Mal, wenn der Hund innehält und die Ohren spitzt, hält der Junge mit ihm inne. Wenn der Junge leise pfeift, erstarrt der Hund wie Lots Frau. Sie bewegen sich im Einklang wie zwei Arme ein und desselben Leibes.
„Das ist der Junge vom Jauchemann!“
Am Stadttor kommen sie problemlos durch, die Wachleute kennen sie, der Junge und der Vater kommen oft bei ihnen vorbei, wenn sie ihre Ware vor die Stadt zu den Bauern bringen. Als sie das letzte Mal hier durch mussten, war der Junge gestolpert und hatte den Eimer ausgeschüttet, er selbst war eingesaut und hatte sich wehgetan. Er hatte nicht geflennt, nicht einmal geschluchzt, rasch stand er auf und machte sich die dreckigen Knie sauber, während der Soldat mit dem zerrissenen Kittel am Stadttor lachte und mit dem Finger auf den Jungen zeigte. Der nahm seinen Eimer auf und beobachtete aus dem Augenwinkel den Vater, aber der tat so, als wäre nichts gewesen, und ging einfach schweigend weiter. Als der Wachmann ihnen hinterherrief, sie mögen das stinkende Zeug mitnehmen, er müsse noch stundenlang dort in der Sonne stehen, hatte der Vater dem Jungen ohne ein Wort die Hand auf die Schulter gelegt und sie dort liegen gelassen, bis sie außer Sichtweite der Wache am Stadttor gewesen waren.
Der Junge kommt am Hauptplatz angerannt, als die Hinrichtung gerade ihren Höhepunkt erreicht. Der Verurteilte, ein armer Tropf, der einem kostbaren Pfauen aus dem Burggraben den Hals umgedreht und ihn aufgegessen hatte, war sofort in Ohnmacht gefallen, als der Henker ihm die Finger gebrochen und mit einem Knüppel die Handgelenke zerschmettert hatte. Die Menge murrt enttäuscht, der Henker beschließt, den Unglücklichen wieder zu sich zu bringen, und beginnt mit dem Abziehen der Haut am Brustkorb, aber das ist sehr mühsam und der Verurteilte stöhnt nur leise. Die Fürstin in ihrem grünen Kleid steht auf und gibt dem Henker ein Zeichen, den Mann zu köpfen. Dann verlässt sie den Balkon. Durch die Menge geht erneut ein enttäuschtes Raunen. Als der Henker den düsteren Kopf des Hingerichteten in die Höhe hebt, stehen auf dem Platz nur noch ein paar Betrunkene herum.
***
Sonnabend, 4. Oktober, Tag des hl. Franz von Assisi
Zum Ablegen waren wir schon gestern bereit gewesen, als ein günstiger Wind wehte, doch der Aberglaube hatte es den Seeleuten nicht gestattet, am Tag der Kreuzigung des Herrn auszulaufen.
Ich kenne kein abergläubischeres Pack als Seeleute. Es gibt so viele Dinge, die ihrer Meinung nach Unglück bringen: etwa Rothaarige, sollte es einem nicht gelingen, als Erster das Wort an sie zu richten. Auch ich musste mit dem Kapitän feilschen, weil zwei Männer aus meinem Gefolge fuchsrotes Haar haben; vor dem Einschiffen mussten sie sich den Kopf mit einer Kappe bedecken und alle Männer der Besatzung, einer nach dem anderen, sagten erst etwas zu ihnen. Dass das nichts Nettes war, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Priester und andere Geistlichkeiten bringen ebenfalls Unglück. Eine Frau an Bord hat die Macht, die gesamte Überfahrt scheitern zu lassen. Man darf nicht an einem Freitag in See stechen, aber auch nicht am Donnerstag, das ist Thors Tag. Der zweite Montag im August ist der Tag, an dem Sodom und Gomorra zerstört wurden, das geht auch nicht. Die Seevögel tragen die Seelen ertrunkener Matrosen, daher dürfen sie nicht getötet werden. Wenn man pfeift, ruft man Gewitter herbei.
Seeleute sind sämtlichen Elementen jederzeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und so hängen sie an jedem noch so kleinen Bildchen von Sicherheit, das auf ihren Körpern eintätowiert ist, sodass niemand es ihnen nehmen kann. Die Motive der Tätowierungen unterscheiden sich je nachdem, wohin die Matrosen fahren, aber alle haben welche. Die mit einem eintätowierten Schwein oder Huhn glauben, dass der Herr, sollten sie Schiffbruch erleiden, diese Tiere, die nicht schwimmen können, von oben im Meer sieht und sich erbarmt, dass er sie in seine gütigen Hände nehmen und auf festem Boden absetzen werde. Der Anker ist ein Symbol, das einen Seemann, falls er über Bord geht, in der Nähe des Schiffs halten würde. Das Bild einer Windrose wiederum soll verirrte Seeleute sicher nach Hause führen.
Wie gesagt, sie sind abergläubischer als Betschwestern. Daher konnten wir nicht schon am Freitag ablegen, obwohl ein günstiger Wind wehte, und haben bis Sonnabend gewartet, als die Meeresoberfläche einem venezianischen Spiegel glich. Die Segel hingen schlaff herab wie der Penis eines alten Mannes, sodass der Kapitän anordnete sie einzuholen. Unsere Brigg Fortuna, gebaut für starken Wind, stand mitten auf dem Meer, festgeklebt wie eine Fliege in einer Schale Honig.
Die Seeleute haben allerdings zu ihrem Aberglauben allen Grund; auf hoher See ist schon so manche Expedition gescheitert. Der Visigothen-Heerführer Alarich könnte davon berichten. Er führte den ersten Barbarenstamm an, der Rom eroberte, doch an der darauffolgenden Überfahrt zu den römischen Provinzen in Afrika scheiterte seine Flotte und Alarich verschied kurze Zeit später.
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Sonntag, 5. Oktober, Tag des Herrn
Die Besatzung murrte, dass die Flaute nur ja nicht zur Windstille werden möge wie am Ufer des Äquatorkönigreichs, wo die Fortuna vor einiger Zeit so unglücklich festgesessen hatte, dass sie zum Opfer von Piraten auf schnellen Ruderbooten geworden war. Unser Kapitän hatte aber Verstand genug, seine Männer zu beschäftigen, und so haben sie unter Deck Gerste verlesen, während zwischen ihren Füßen ein schwarzer Kater herumspazierte und die Ohren spitzte, ob aus dem Haufen nicht vielleicht ein aufgeschrecktes Nagetier herausgerannt käme. Jede Stunde übergossen die Männer das Deck aus Eimern mit Salzwasser und schrubbten es mit groben Büscheln aus dem Schweifhaar des Amazonas-Lemoleus. Der Rest der Besatzung reparierte die eingerissenen und ausgefransten Segel mit Hilfe von Nadel und gewachstem Faden und einer Lederabdeckung für die Handfläche, in deren Mitte sich eine kreisrunde Messingscheibe befindet, mit der der Seemann Druck auf die dicke Nadel ausübt, um sie durch den derben Stoff zu bekommen. Gern sah ich zu, wie ihnen ihr Werk unter den Händen voranging. Einige sangen leise vor sich hin, andere arbeiteten schweigend und wischten sich hin und wieder den Schweiß von der Stirn. Die Sonne wärmte wie im Sommer, und das machte einen rasch müde.
Ich sah, wie sie nach dem ewigen Licht in der roten Karaffe an meinem Hals schielten. Alle schielen sie dorthin, immerzu, der Ruf dieses Lichts eilt mir voraus, genauso wie der Glaube an seine Wunderkraft. Aber mein Gefolge aus hochgewachsenen und schweigsamen Wikingern gestattet es ihnen nicht, sich mir zu nähern. Ich muss nichts tun, ich muss nichts sagen, und die Besatzung hat mir gegenüber Respekt, was ein Erfolg ist, den ein Normalsterblicher schwerlich erreicht. Das wird ihnen jeder Reisende sagen, der jemals auf hoher See war.
Der Kapitän ist ein belesener Mann, vor dem Schlafengehen lud er mich in die Kapitänskajüte auf ein Glas Al-kuhul ein, den ich ihm zuvor verkauft hatte, und er bestand darauf, dass ich ihm von meinen Reisen erzählte. Gelegentlich bekreuzigte er sich, wenn ihm meine Erzählungen allzu dramatisch erschienen oder wenn ich ihm von Gottlosen berichtete, die den Sonntag nicht heiligten und mit entblößten Hinterteilen herumliefen, oder vom Menschenfresserstamm der Laistrygonen. An jenem Abend wurde der Kapitän in seiner Kajüte vom Bootsmann aufgesucht, der sich zu ihm hinabbeugte und ihm zuflüsterte, dass bei einem der Männer ein grauer Ausschlag aufgetaucht sei. Er hätte nicht flüstern müssen; ich konnte ihn gut hören, außerdem war mir der Unglückliche zuvor selber schon aufgefallen und ich hatte den Männern aus meinem Gefolge gesagt, sie mögen sich ihm nicht nähern. Der Kapitän bat mich, ihm von dem Gauner und Piraten Stenka Rasin zu berichten, über den jetzt überall gesprochen wurde, weil er sich gegen den Zaren erhoben und sich die Exkommunikation eingehandelt hatte. Da gibt es viel zu erzählen über den Kosakenhelden, den die eigenen Anführer verrieten und dessen Bruder während des Feldzugs gegen die Polen hingerichtet wurde, sodass Rasin sich ein für alle Mal von der absolutistischen Macht des Zaren abwandte.
„Was würdest du tun, wenn dir jemand den Bruder hinrichtet?“, fragte der Kapitän und fuhrwerkte sich mit einem silbernen Zahnstocher im Maul herum.
„Ich habe keinen Bruder“, antwortete ich und erzählte weiter. Stenka Rasin war mit seinen Mannen auf der Wolga zu einer Expedition nach Persien aufgebrochen. Er hatte den Segen des Zaren bekommen, denn sein Ziel war es, christliche Seelen aus der muselmanischen Knechtschaft zu befreien.
Der Kapitän nickte, diese Geschichte kannte er, wie oft hatte er schon von Christen in den Fesseln Fremder gehört?
Und Stenka Rasin mordete und plünderte, und bei Raubzügen von seiner Schweineinsel aus verheerte er die gesamte persische Küste. Er befreite viele christliche Seelen aus dem muselmanischen Joch und der Zar persönlich dankte ihm und begnadigte ihn für alle zuvor begangenen Verbrechen. Rasin raffte Güter in unerhörter Höhe zusammen, sodass er reicher war als der Zar selber. Ein Mensch, der viel Geld hat, hat allerdings auch viele Feinde – und der schlimmste von ihnen ist das eigene Gewissen.
Bei einem Raubzug nahm Rasin die Tochter eines persischen Fürsten und ihren Bruder gefangen. Letzteren schenkte er dem Zaren, aber die Prinzessin behielt er, um sie zu seiner Gespielin zu machen. Er fuhr mit ihr auf einem Schiff die Wolga hinauf und liebkoste lange ihren jungen Körper, er überschüttete ihn mit Küssen bis zur Besinnungslosigkeit und beschloss, sie zur Frau zu nehmen. Aber seinen Mannen gefiel das nicht, sie sagten zu ihm: „Stenka, unser Ataman, weißt du, wie trügerisch es ist, eine Frau an Bord zu haben? Weißt du etwa nicht, wie von der Liebe das Hirn weich und die Hand mit dem Säbel schwach wird?“ Und Stenka weinte, nahm seine Prinzessin in die Arme, küsste sie auf die Stirn und warf sie hinab in die kalten Fluten der Wolga. Das Gewand der Fürstentochter war mit Silber, Gold und Edelsteinen durchwirkt, sodass sie im Schaum der Wellen nur kurz aufblitzte und dann im Wasser des breiten Stroms versank. Stenka Rasin wischte sich eine Träne weg und befahl der Besatzung, gen Astrachan zu fahren.
„Wohl wahr“, brummt der Kapitän der Fortuna. „Ein Weib hat im Krieg und an Bord eines anständigen Schiffs nichts zu suchen.“
„Das ist kein Aberglaube“, fügte er hinzu, als er sah, dass ich nichts sagte, „doch das müsstest du mal sehen – sobald ein Rock an Bord ist, fällt den Männern alles aus der Hand, sie schaffen es nicht, schnell genug beiseite zu springen, wenn sich das Ankerseil abwickelt, und sie registrieren Befehle nicht. Was soll man mit so einer Besatzung anfangen? Das würde doch alle ins Verderben stürzen.“
Der Kapitän stellte die Flamme der Lampe kleiner, Öl ist kostbar. Die Kajüte versank im Dunkel. In der Windstille konnte man bei glatter See hören, wie sich an Deck jemand übergab.
Stenka Rasin rief einen Feldzug gegen Astrachan aus. Da er sich mit seinen Eroberungen in Persien russlandweit einen Namen gemacht hatte, schlossen sich ihm nach und nach Sympathisanten, Leibeigene und Unterdrückte aus Nah und Fern an. Sie plünderten Zarizyn und Astrachan, den lokalen Wojwoden nahmen sie gefangen und warfen ihn von einem Turm und riefen einen Kosakenstaat aus. Mit der Verwaltung der eroberten Städte betraute Rasin seine Leute und verleibte sich immer weitere Gebiete ein. Das von den Kosaken angeführte Volk erhob sich gegen den Adel.
„So eine Schamlosigkeit“, sagte der Kapitän leise.
Der Aufstand wurde zu einer großen Schlappe. Der Moskauer Patriarch verhängte den Kirchenbann über Stenka Rasin und der wütende Zar sandte eine sechzigtausend Mann starke Strafexpedition gegen ihn aus. Das war eine gewaltige Schlacht, die einen ganzen Monat dauerte. An die fünfzehntausend Kosaken fielen und Rasin wurde im Kampf schwer verwundet. Durch den Verrat eines anderen Kosaken-Atamanen geriet Rasin in Gefangenschaft. Alle gefangen genommenen Sympathisanten des Aufstands wurden hingerichtet. Die Wolga färbte sich rot vom Blut.
Der Kapitän seufzte traurig.
Rasin wurde zur exemplarischen Hinrichtung nach Moskau gebracht. Man führte ihn zur Richtstatt auf dem Roten Platz vor Alexei I. höchstselbst. Die Verlesung des Urteils dauerte so lange, dass man dem Zaren und seinem Gefolge einen Imbiss bringen musste. Rasin stand die ganze Zeit über reglos da. Dann wandte er sich der Basilius-Kathedrale zu und flüsterte: „Vergebt mir.“ Dasselbe flüsterte er in alle Richtungen mit Ausnahme der Tribüne, wo der Zar saß. Dann hieb der Henker ihm auf Geheiß des Herrschers den rechten Arm bis zum Ellbogen ab, anschließend das linke Bein bis zum Knie. Rasins jüngerer Bruder warf sich vor dem Monarchen auf den Boden und flehte um Gnade, so ein barbarisches Vorgehen widerspräche schließlich den Gesetzen des Zaren. Der schon halbtote Rasin fuhr seinen Bruder an: „Schweig, du Hund!“ Das waren seine letzten Worte. Danach wurde ihm vom Henker der Kopf abgeschlagen und sein Leib zur Abschreckung gevierteilt.
„Jawohl“, nickte der Kapitän, als ob er das Ende der Geschichte längst kennen würde. „Der Zar konnte nichts anderes tun. Er musste seine Herrschaft verteidigen, jeden Aufsässigen erwartet Vergeltung. Damit hat der Pirat gewiss rechnen müssen.“
„Sicherlich. Ich überlege allerdings, ob er etwas bedauert hat. Die durchtrennten Kehlen von Feinden und unschuldigen Soldaten, den Mord an seiner Geliebten … Und seine letzten Worte lauteten in Wirklichkeit: ‚Vergebt mir.‘ Er hat um Vergebung für seine Sünden gebeten, die ihm nicht mehr zuteilwerden konnte … Niemand hat mehr das Kreuz über ihm geschlagen, der Weg in den himmlischen Blumengarten blieb ihm versperrt …“
„Gewiss, man wünscht sich immer das, was man nicht hat. Was man hat, braucht man sich nicht zu wünschen. Was wünschst du dir am meisten, Izar?“
Ich sagte, dass ich mir am meisten wünschte, zu schlafen, verbeugte mich vor dem Kapitän zur Verabschiedung und begab mich in meine Kajüte. Die ganze Nacht wälzte ich mich hin und her.
***
Montag, 6. Oktober, aus Gottes Gnaden
Am dritten Tag gab es einen blutroten Sonnenaufgang und die Seeleute prophezeiten erneut Unglück. Der Kapitän erlaubte ihnen, nach zwei Tagen Flaute zu pfeifen, um den schlafenden Wind herbeizurufen. Der Bootsmann streichelte sanft über den Mast. Als ich ein paar Momente später vom Heck aus ins Wasser urinierte, zupfte bereits ein schwaches Lüftchen an meinem Strahl. Wie Affen kletterten die Matrosen die Masten hinauf und lösten an den Rahen das Tauwerk für die schweren Tuchbahnen. Die Fortuna holte mit ihren Segeln tief Luft und machte auf dem Meer einen Satz wie ein junges Mädchen, das der Bräutigam gerade zum Tanz aufgefordert hat. Auf einmal gab es überall zu tun. Der Bootsmann, von dem wir bisher fast nichts gemerkt hatten, erteilte Befehle nach rechts und nach links. Das Schiff brauste davon mit der Geschwindigkeit von sieben Knoten. Der Kapitän kratzte sich zufrieden im Schritt und sagte, dass wir, sollte der Wind durchhalten, schon morgen auf der Insel sein könnten. Er fragte mich, ob das Ding, in das hinein ich mir ständig Notizen mache, ein Stammbuch sei – dass ein solches einige hochwohlgeborene Herren auf dem Festland jetzt mit sich führten. Und ob er mir etwas hineinmalen solle, wobei er mit tiefer Bauchstimme lachte. Ich bedankte mich höflich. Er fragte, ob ich es ihm zu lesen gebe.
„Das ist ein ganz normales Notizbuch, Kapitän, nur langweilige Anmerkungen eines alten Mannes.“ Ich lächelte unaufrichtig und schob mir das Buch unter den Mantel.
Der Kapitän schüttelte den Kopf, war aber viel zu beschäftigt mit dem Geschehen an Bord, um länger in mich zu dringen.
Beim Ablegen hatte die Besatzung aus fünfzehn Mann bestanden, bei der Ankunft nur noch aus dreizehn. Dem mit dem Ausschlag rann bald Blut aus einem Ohr, also warf man ihn achtern über Bord. Es gab nicht einmal die traditionelle Seebestattung, für die der erfahrenste Mann der Besatzung den Toten statt in ein Leichentuch in ein Segel oder in seine eigene Hängematte einnäht und den letzten Stich durch die Nase des Leichnams hindurch macht – damit kein Zweifel bliebe, dass er tatsächlich tot war, und vor allem, damit der Verstorbene sicher mit seinem Leichentuch vernäht wäre und dem Schiff nicht folgen würde.
Bei dem zweiten Matrosen warteten sie gar nicht erst, bis er zu bluten begann. Kaum tauchten auf seinem Gesicht violette Geschwüre auf, schnappten sie ihn und schleppten ihn zur Reling. Er brüllte wie am Spieß, und noch bevor sein Körper auf dem Wasser aufschlug, war das Meer bereits durch die Mäuler von Haifischen, Krokodilen und anderem Getier aufgewühlt. Die übrigen Besatzungsmitglieder knieten nieder und beteten zum heiligen Erasmus von Antiochia. Ich befahl meinen drei Wikingern, sich an den Bug zu stellen, auf dass der Wind sämtliches ungesundes Miasma verbliese, das Quelle von Krankheiten ist. Zwei Männer der Besatzung übergaben sich ins Meer. Vögel und Fische stürzten sich auf das Erbrochene, als wäre es himmlisches Manna. Das ist der Kreislauf des Lebens, den uns Gottes Gnade beschert.
Morgen feiern wir den Jahrestag der Schlacht bei Lepanto, wo die vereinten Seestreitkräfte der Heiligen Liga der Hauptflotte des Osmanischen Reich eine vernichtende Niederlage beigebracht und so den Befürchtungen aller guten Christenmenschen vor einem türkischen Angriff im Mittelmeer ein Ende gesetzt hatten. Deo gratias.
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Dienstag, 7. Oktober, Festtag der Jungfrau Maria, Königin vom heiligen Rosenkranz
Am nächsten Morgen tauchte am Horizont die Insel auf. Sie war von Sonne übergossen. […]
Übersetzung aus dem Tschechischen: Mirko Kraetsch