Petra Hůlová

Die höchste Karte

2023 | Argo

An diesem Nachmittag nehmen David und ich alle Themen durch. Unter anderem reden wir über seine Blockaden bei einem Buch, an dem er gerade schreibt oder besser gesagt nicht schreibt und das ihn seit Monaten von Wand zu Wand taumeln lässt. Mit Marie spricht er grundsätzlich nicht über solche Dinge, was natürlich noch mehr Probleme mit sich bringt, und bevor wir den Fluss erreichen, kommt da noch die bevorstehende „skandalöse“ Vernissage von Irge zur Sprache. David und ich sind uns einig, dass das Wort „skandalös“ in unserem Land nicht erst heute, sondern schon vor mindestens zwanzig Jahren zum Werbeslogan geworden ist, und in der Schlange vor dem Stand mit dem angeblich besten Döner Kebab Prags können wir uns nicht einigen, ob Irge genervt davon ist, desinteressiert oder bewusst damit arbeitet.

Wir sitzen an der gleichen Stelle wie nach der Buchpremiere von den Außerirdischen Freundinnen, nur auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, und kauen schweigend an unserem Brot. David wischt mir mit einer Serviette die Knoblauchsoße vom Kinn. Im nächsten Moment brummt sein Handy, eine Nachricht trudelt ein.

„Sie will wissen, wann ich heimkomme.“

Ich beobachte den Ort auf der anderen Seite des Flusses. Würde er Marie anrufen, ginge es schneller, denke ich, aber stattdessen tippt David feige etwas in sein Handy. Nach ein paar Jahren werden die meisten Beziehungen, egal welche, zu diesem krampfigen Krieg. Eine Eitelkeit, die ich selbst einmal erlebt habe und seitdem fast vergessen konnte. Geblieben ist nur die Erleichterung, dass es mich nicht mehr betrifft.

Mein Ex-Mann war Ingenieur für den ökologischen Betrieb von Heizkesseln. Wir lernten uns kennen, als er kam, um den Bedarf für den Heizkessel in unserem Wohnblock zu berechnen. Damals war ich im Vorstand der Genossenschaft und immer noch eine begeisterte Aktivistin des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Der Tag, an dem wir die Wohnungen besichtigten, und als die Leute, die ich nur im Vorbeigehen auf dem Flur kannte, uns auf einen Kaffee einluden und an dem ich und mein zukünftiger Mann sie von den Vorteilen des sparsamen Heizens überzeugten, war der beste Tag unserer Beziehung. Als wir später am Abend bei mir zu Hause einen Wein entkorkten, hatte ich keinen Zweifel, dass Vladimír der Richtige war. Einen Monat später heirateten wir und zehn Monate später wurde Judita geboren. Sie ist nur ein Jahr älter als Ondřej, und es war ein Schock, als ich erfuhr, dass ich wieder schwanger war. Wenn ich jetzt zurückblicke, denke ich, dass es ein Glück war, die Kinder so schnell nacheinander zu bekommen.

Auf der anderen Seite des Flusses sitzen ein junger Mann und ein Mädchen auf einem Pullover, genau wie wir in der Nacht nach der Buchpräsentation, und genau wie wir damals streiten sie sich leidenschaftlich über etwas. Dann stupst das Mädchen den jungen Mann an und stößt ihn kurz darauf so heftig von sich weg, dass er fast in den Fluss fällt. Sie schiebt ihn immer wieder weg, während er versucht, sie zu umarmen. Er probiert es immer wieder und wird jedes Mal abserviert. Das sieht ziemlich komisch aus. Ich erinnere mich an den Moment, als mir als Schulmädchen zum ersten Mal bewusst wurde, dass Jungs mich verletzen können. Als ich zum ersten Mal merkte, dass es auch andere Argumente neben Worten gab. Nach und nach sind wir alle drauf gekommen und richteten uns darin ein.

David schaut von seinem Handy auf und sieht mich mit müden Augen an: „Sie sagt, sie möchte mit dir reden.“

„Marie?“

David nickt.

„Sie denkt, du wirst mir ins Gewissen reden.“

David hilft mir auf, fährt mit seiner Hand über meine Hose, um den Staub abzustreifen.

Der junge Mann und das Mädchen auf der anderen Seite des Flusses sind verschwunden.

In der Prosa, die ich jetzt schreibe, würde sich die Protagonistin fragen, ob die beiden jemals dort gesessen haben. Der Traum ist der allerpeinlichste narrative Zugang, denke ich, während ich nach Hause zu den Kindern gehe. Ich versuche, Gedanken über meine Arbeit auf die Zeit in meinem Büro zu beschränken, es sei denn, ich bin mit David zusammen. Nur so ist mein restliches Leben in den Griff zu bekommen, welches ich, wenn es nach meinem Sohn Ondřej ginge, ohnehin nicht habe. Ondřej ist sechzehn und gilt im Allgemeinen als verzogener Bengel, aber ich bin seine Mutter, also schiebe ich es lieber auf die Pubertät. Wenn ich mich bei meiner Mutter über ihn beschwere, sagt sie, die Hauptsache sei doch, dass Ondřej zumindest eine Beschäftigung habe, die ihn interessiert: Sein Zimmer ist übersät mit Comics, an denen er „arbeitet“. Keines davon bringt er jemals zu Ende, aber das habe ich ihm nur einmal gesagt. Er hatte sich grob vor mir aufgebaut und vorgeworfen, dass mir nichts gut genug sei. Das behauptet auch meine beste Freundin Irena. Dass ich Ansprüche an meine Kinder stelle, denen sie nie gerecht werden können. Ich weiß nicht genau, welche Ansprüche sie damit meint, außer den einen, dass sie nicht zu Arschlöchern heranwachsen sollen. Als ich Judita vor ein paar Monaten, kurz vor Beginn ihrer Aktivitäten, fragte, was ihr am meisten Spaß mache, und sie darauf erwiderte, dass es Einkaufen wäre, musste ich mich zurückhalten. Wenn ich mich also entscheiden müsste, ob ich aus meiner Tochter eine Palach-Nachfolgerin werden sollte oder eine konsumorientierte Idiotin…

Davids Hand streift mich leicht. Er verabschiedet sich von mir vor dem Haus.

Ich möchte ihn zu uns nach oben bitten, aber er ist in Eile, wegen Marie.

„Sie soll sich mal bei mir melden“, sage ich. „Ich nehme sie mal mit, ins Klakson.“

„Wohin?“

„Das ist so ein neues, hippes Lokal.“

David hört es entweder nicht oder es ist ihm egal.

„Ich werde bei Ota publizieren. Ich rechne mit dir. Haben wir gestern Abend abgemacht.“

Ich freue mich für ihn. Wir verabschieden uns mit Küsschen auf die Wange.

Für meine Kinder bin ich nur ein Sprungbrett. Eine Zitrone, die sie auspressen und wegwerfen können. Das ist bis zu einem gewissen Grad natürlich. Die Frage bleibt, wie immer bei allem, die des Maßes. Ich bezweifle, dass Judita sich bei ihrem Vater so aufspielt, da traut sie sich nicht.

 

* * *

 

Judita späht aus der Wohnungstür, kurz bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Sie hat das perfekte Gehör nach meiner Mutter.

Während meine Kinder aus dem gröbsten raus sind, hat David ein Kleinkind zu Hause. Kann auch das mir ins Gesicht geschrieben sein? Hunderte von schlaflosen Nächten, auf die wir nun mit Nostalgie zurückblicken, nur weil sie vorbei sind? David sagt, er würde nachts grundsätzlich nicht aufstehen, um nach seinem Sohn zu sehen.

Ich schaffe es nicht. Schon im Flur hab ich das Tablet meines Sohnes vor meinem Gesicht, und Ondřej brabbelt irgendetwas von einem Video. Er hat die ganze letzte Woche nicht mit mir gesprochen, hat sein Zimmer nicht wirklich verlassen, also versuche ich, eine halbe Stunde lang ehrlich seine Welt zu teilen, obwohl ich mich lieber mit ihm unterhalten würde. Außerdem lache ich an ganz anderen Stellen als er, aber der Song über den ufonischen Staat hat was, und ist schließlich auch Agitprop für die Umwelt. Ich weiß längst, dass es unsinnig ist, ihnen meine Welt anzubieten. Als ich früher versucht habe, den Kindern Schwarz-Weiß-Filme zu zeigen, fingen sie sofort an zu schreien und hörten im Grunde genommen auf verschiedenen Ebenen nicht mehr auf.

Mitten im fünften Video reißt Judita Ondřej das Tablet aus der Hand und sagt ihm, er solle „Rücksicht auf Mama“ nehmen. Sie meint es natürlich ironisch.

„Wo warst du?“, fragt mich Ondřej.

„In der Arbeit.“

„Das sagst du immer.“

„Ich arbeite die ganze Zeit.“

„Und das nennst du freiberuflich. Du bist das schlimmste Beispiel dafür, was es heißt, sein eigenes Ding zu machen. Alle denken, du hättest megaviel Zeit.“

Ondřej verzieht das Gesicht.

„Und das Beste daran ist, dass du sie tatsächlich hast. Du kannst absolut alles so einrichten, wie du willst, nur machst du es nicht. Du nennst dein Kämmerchen Arbeitszimmer, aber du gehst rein wie zur Arbeit, wie ins Büro.“

Ondřejs Vorstellung von Erwachsensein ist, dass man genug Zeit hat, um „sein eigenes Ding“ zu machen. Ich versuche ihm zu erklären, dass dem nicht so ist.

„Du verarschst mich.“

Ich spüre Wut aufsteigen.

„Na gut. Ich war mit einem Kerl zusammen.“

Judita erstarrt.

„Mit einem Kerl? Mit was für einem Kerl, Mama?“

Meine Tochter erklärt ihre Abneigung gegen Männer und gleichzeitig flirtet sie mit jedem von ihnen. Wahrscheinlich unbewusst. Wenn Judita heute noch klein wäre, würde ich ihr statt von Autofahrern, Polizisten, Politikern und Anwälten konsequent von Autofahrerinnen, Polizistinnen, Politikerinnen und Anwältinnen erzählen. Aber wahrscheinlich würde es trotzdem wenig helfen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass etwas von dem Flirten in Juditas Gesichtsausdruck bleibt, auch wenn sie mit mir spricht. Bei mir findet sie das natürlich geschmacklos. Logisch. Auch ich bin meine Abneigung gegen die Vorstellung vom Intimleben meiner Eltern bis heute nicht losgeworden. Meine Mutter aber ist im Gegensatz zu mir schon vor Jahren auf die „andere Seite“ übergetreten, da gibt es also nichts vorzustellen.

„Mama hat ihr eigenes Leben, lass sie doch.“

Ondřej springt Judita auf den Rücken, wirft sie in seiner üblichen Art auf den Boden und „entwaffnet“ sie.

Ich erhebe meine Stimme, aber sie ignorieren mich.

Judita brummt, dass sie sowieso schon lange dachte, ich hätte etwas mit David Karel am Laufen. Sie sagt, als sie ihn mal vor unser Haus begleitet hatte, rief ihn seine Frau an.

„Ich habe ihm über die Schulter auf den Display geschaut.“ Judita tritt mit den Füßen, damit Ondřej sie loslässt. „Da war eine Marie, und er hat sie weggedrückt“, schreit sie mir und ihrem Bruder gleichzeitig entgegen.

„Woher kennst du ihren Namen?“ Ondřej würgt Judita so, wie er es schon in der Grundschule getan hatte. Judita windet sich wütend.

„Sie heißt doch Marie, oder etwa nicht?“

Ich ziehe meine Schuhe vor dem Schuhschrank aus und gehe in die Hocke, um meinen Hallux zu begutachten. Die Schuhe, die ich von meinen geschwollenen Füßen streife, werden meine letzten sein, die spitz zulaufen. Die Eleganz ist mir die Schmerzen nicht wert. Wenn es unbequem ist, ja, aber nicht wenn es wehtut. Ich zähle, wie lange wir als Nation während der Maßnahmen hauptsächlich in Jogginghosen gelebt haben und es kam uns gar nicht komisch vor. Jogginghosen waren Retro-Nieten und bis Anfang der Zwanziger trugen sie in Tschechien nur Rumänen und Ukrainer. Mit Mitte zwanzig zieht so ziemlich jeder die Bequemlichkeit vor. Ich stehe vom Schuhregal auf und über der Schublade mit Mützen blickt das Gesicht einer Fremden aus dem Spiegel entgegen.

Otas großzügige Wohnung täuscht über den Schein hinweg. Sie sieht aus, als wäre sie wie geschaffen für große gesellschaftliche Ereignisse. Aber nichts dergleichen findet hier statt, nur in Ausnahmefällen, und zu den Ausnahmen werde ich nicht eingeladen, denn Žofie ist die Königin solcher Partys. In den letzten Jahren finden sie ohnehin nur statt, wenn es die „Situation erlaubt.“

Mein Gefühl, dass in diesen Räumlichkeiten etwas Großes passieren wird, hat nur mit meiner Wollust zu tun. Das Riesensofa ist auf alle Fälle majestätisch.

Das Tageslicht fällt im richtigen Winkel auf zwei große Ölgemälde verstorbener tschechischer Maler, deren Preis sich in den letzten Jahren etwa verdreifacht hat. Als Ota und ich anfingen, standen hier Regale mit Millionen von CDs. Jetzt stehen an ihrer Stelle nur noch unauffällige Lautsprecher. Die riesige Bibliothek, die vor fünf Jahren noch eine ganze Wand des Wohnzimmers ausfüllte, ist verschwunden. Alles, was geblieben ist, sind Bücher aus Otas Verlag. Die Regale mit Büchern darin sehen aus wie bloße architektonische Dekoration. Auch hier ist Ota am Puls der Zeit.

Einst galt das Ende der großen Bibliotheken als Vorbote für das Ende der Literatur. Es kam aber nicht. Bücher werden weiterhin gekauft und gelesen. Dass die Menschen zu Hause keine egomanischen Denkmäler aus ihnen bauen, um vor Besuchern anzugeben, das würden die Autoren der besten Werke nur begrüßen, fällt mir ein, kurz bevor ich mit Ota Sex habe, aber ich behalte es für mich. Solche Momente sollte man in Otas Alter lieber durch nichts komplizieren, und mir fällt ein, dass es zu den Vorzügen einer Frau in den Fünfzigern gehört, dass ihre Erregungsstörungen nicht mehr ganz so grundlegend sind und sie sich mit Gleitgel operativ lösen lassen.

Ich liege auf Otas Bett, untypischer Weise auf der Bettdecke, und bin nackt. Ich betrachte die Decke über mir und drehe mich mit ihr im Kreis. Ota und ich hatten es gestern Abend ein bisschen übertrieben mit dem Alkohol. Žofie und die Kinder sind schon am Nachmittag zum Wochenendhaus abgereist, und die Eröffnung von Irges Ausstellung, in der alle möglichen hygienischen Geräte präsentiert wurden, die mit unverfälschten Eulenflügeln gekrönt waren, wurde mit Otas Einladung zu einem Drink fortgesetzt, unter dem Vorwand, dass wir noch „an der Werbestrategie feilen“ müssten, eine Phrase, die er vor Leuten benutzt, wenn er andeuten will, dass er am liebsten sofort mit mir verschwinden würde.

Ich wische mit meinem Toastbrot die Ölreste von den getrockneten Tomaten vom Teller, während Ota sich ein paar Meter von mir entfernt konzentriert ankleidet. Er ist kurzsichtig, seine Brille liegt auf einer kleinen Kommode neben dem Hemdenständer, unter dem der Miniatur-Geländewagen seines jüngsten Sohnes parkt. Als ich jung war, haben mich die Spielsachen in den Wohnungen meiner Liebhaber immer gegruselt, weil sie sagten: Das ist ein Schwindel, das ist alles nur Schein. Mit jenem Provisorium war ich jedoch bis auf wenige Ausnahmen einverstanden. Niemand brauchte mir zu erzählen, wo mein Platz wäre. Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht ab und zu gewehrt hätte. Aber de facto war mit das so ganz recht.

Was ich hasste, war Täuschung. Als mich zum Beispiel Vágners Frau anrief, um mir mitzuteilen, dass Vágner sowohl mit mir als auch mit ihr schlief, während er behauptete, sie hätten sich getrennt, war es für mich an diesem Morgen vorbei. Eines der Dinge, die ich an Jan schätzte, war, dass er mir nie etwas vormachte. Er teilte mir klipp und klar mit, wie es war und dass es sich nicht ändern würde. Später sprach er anders, aber soweit ich weiß, hat er mich nie offen angelogen. Abgesehen von den Zeiten, in denen er meinte, wir müssten Schluss machen, aber lange Zeit glaubte keiner von uns beiden daran.

Otas massiger nackter Körper rührt mich. Die Erschlaffung, die mit dem Alter kommt, hat etwas von der Weichheit eines Kindes an sich. Früher machten wir es gerne gleich nochmal, manchmal auch dreimal hintereinander. Als ich verheiratet war, haben wir nicht miteinander geschlafen. Etwa fünf Jahre lang beschränkte sich unser Verkehr auf den gelegentlichen Arbeitskaffee, wenn ein Buch kurz vor der Veröffentlichung stand, oder zwei Flaschen Wein nach der Buchpremiere, aber ansonsten hatten wir unser eigenes Leben. Kurz nach meiner Scheidung fielen wir wieder in unsere alten Gewohnheiten zurück. Andere Pausen füllte ich mit meinen „Liebschaften.“ Wenn ich mich verliebe, interessieren mich alle anderen Männer nicht mehr. Aber Ota und ich scherzten oft über seine Abenteuer. Ich zog ihn damit auf, dass er sich nur an die „eine Nacht“-Regel hielt, damit ihm das Ganze nicht über den Kopf wuchs, und Ota verteidigte sich, indem er alles aufzählte, was an jungen Mädchen am nächsten Morgen unerträglich war. „All die Dinge, die den Vorabend so glamourös machen“, behauptete er, und ich konterte, dass mein Ex-Mann seine eigene Meinung von solchen Dingen hatte. Anfangs war er von der „musischen Ader“ meiner Persönlichkeit völlig fasziniert, und die allmähliche Ernüchterung fiel mit der Dauer unserer Ehe zusammen.

Das Telefon klingelt. Ich beobachte Otas Rücken. Er wendet sich mir zu und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Ich habe kein Problem damit. Ich nehme auch jederzeit wichtige Anrufe entgegen, und dieser ist offensichtlich eine Business-Angelegenheit.

„Ja, sie ist zufällig hier bei mir“, höre ich Ota sagen. „Ich seh mal, wie es bei ihr aussieht.“ Die Stimme am Telefon bietet mir eine anständig bezahlte Teilnahme am Festival an, aber ich weigere mich, zusammen mit Kanda bei einer Veranstaltung aufzutreten. So arm dran bin ich auch wieder nicht.

„Ich dachte, ich würde nach der Wende höchstens noch ein oder zwei Jahre im Verlagswesen tätig sein“, sagt Ota aus der Küche. „Ich wollte nebenbei noch ein paar Bücher veröffentlichen, bevor ich mit dem Studium fertig wäre…“ Sobald Ota damit anfängt, weiß ich, dass er eine seltsame Sehnsucht verspürt, die ich nie verstanden habe. Als ob er es bedauern würde, etwas zu tun, was ihm Spaß macht und mit was er sich durchgesetzt hatte, auf Kosten von etwas, von dem er nicht weiß, was es sein könnte. Als ob der Phantomschmerz auch die unerfüllten und unausgesprochenen Wünsche erfasst hätte. Oder ging es einfach nur darum, dass es in einem bestimmten Alter definitiv zu spät ist, um etwas Neues anzufangen?

Ich liege zusammengerollt wie ein Embryo auf Otas Bett und betrachte meine Bauchfalten. Ich bin schlank wie immer, aber die Falten liegen anders und sind durch Querfalten verbunden. Es heißt, dass man im späteren Leben wegen des verlangsamten Stoffwechsels doppelt so viel trainieren und doppelt so wenig Kalorien zu sich nehmen muss, um sein Gewicht zu halten. Es gab eine Zeit, da war ich fasziniert von der Idee, dass ewige Jugend zu erhalten bedeutete, weniger zu essen und mehr Sport zu treiben.

„Und, fährst du nach Polen?“, fragt Ota.

Ich habe schon lange aufgehört, die Situation zu verfolgen. Meine tägliche Routine verlangt es nicht und vor jedem Wegfahren ist es sowieso anders.

Vor zwei oder drei Jahren machte ich eine schwere Krise durch, als meine kreative Arbeit, die ich früher mit einer euphorischen Achterbahnfahrt zum Mittelpunkt der Erde und zum Mond verglichen hätte, zu einer mentalen Folter in einem spartanischen Büro mit uninteressanten Zooms und Rechnungen in unendlicher Dankbarkeit für das unangemessen geringe Geld wurde. Sagen wir, es machte für mich insgesamt Sinn, und so hätte ich logischerweise auch ab und zu dafür bezahlen müssen, aber dann kamen die Zweifel, ob man unter diesen Umständen überhaupt von Sinn sprechen konnte. Die erste Person, der ich dies anvertraute, war Ota, denn mit David wäre es nicht gut gegangen. Zwischen uns musste der Sinn unserer Arbeit absolut bleiben, unter allen Bedingungen. Entweder – oder, es ging um alles. Eine Zerbrechlichkeit, der wir standhalten und schützen mussten. Die ungeschriebene Vereinbarung zwischen David und mir lautete: Jeder von uns muss sich mit seinen eigenen grundlegenden kreativen Zweifeln auseinandersetzen. Ota machte mir sehr deutlich, dass er absolut nicht verstand, was mich beschäftigte. Mir wurde klar, dass Unverständnisse manchmal ermutigender sein können als alles andere.

„Natürlich fahre ich hin“, sagte ich zu Ota. Die Bedingungen, die mit der Reise nach Polen zu tun haben, sind immer noch unerträglich.

„Besser wir es sowieso nicht“, sagt Ota und lacht gurgelnd. Als die Epidemie vor fünf Jahren begann, ahnte niemand, was sich für immer verändern würde.

Am nächsten Tag gehen Ota und ich den breiten, von Bäumen gesäumten Weg entlang in Richtung seines Büros, das zwanzig Minuten von seinem Zuhause ist, wenn man langsam geht. Ein tägliches Minimum seiner Schritte überprüft seine App. Ota kann sie nicht genug loben. Ich bin überzeugt, dass er deshalb nie krank ist, weil er sich immer wohl in seiner Haut fühlt.

Im Gehen zückt Ota sein Handy und flötet: „Hlinovská… Ich habe gehört, dass du endlich aus dir herausgekommen bist und allen den Wind aus den Segeln genommen hast, nachdem die Kritiker an deiner letzten Prosa gezweifelt haben. Und hier Hanych: Novak übertrifft sich selbst, er ist zurück, in Bestform.“

Als Ota jung gewesen ist, spielt er Eishockey. Er war ziemlich gut darin, und diese paar Jahre intensiven Sports sind trotz seines Übergewichts an seinem Körperbau abzulesen. Außerdem wirkt Otas gewisse Grobschlächtigkeit, die so gut zu seinem bäuerlichen Aussehen passt, auf das Publikum absolut unwiderstehlich. Obwohl er sehr belesen ist, leidet er nicht an Selbstüberschätzung.

„Das führt nur dazu, dass man sich umbringen oder er einem nicht mehr stehen will, was nach einer Weile auf dasselbe hinausläuft“, sagte Ota zu mir, als ich ihm zu seiner Entscheidung, David herauszugeben, gratulierte und erwähnte, dass es ihm im Moment nicht gut gehe.

„Wie wäre es, wenn ich euch beide zusammen irgendwo hinschicken würde? Ihr würdet ein gutes Paar abgeben und es würden mehr Leute kommen.“

 

* * *

 

Während wir uns ein paar Tage später bei ihm zu Hause ausziehen, denkt Ota laut darüber nach, welche Art von Social-Media-Kampagne er für unsere Tour machen würde. Denn die Anerkennung von Hanych und Hlinovská ist zwar schön, wirkt sich aber im Grunde nicht auf den Verkauf aus.

Grundsätzlich spreche ich nicht mit Ota über meine Arbeit. Er veröffentlicht sie nur, macht Werbung dafür und kümmert sich um das Lektorat. Er kann sich auch nach vielen Jahren der Zusammenarbeit bedenkenlos von Autoren trennen. Laut Ota ist es eine Sache der Intuition, die er nicht analysieren möchte. David sagte über ihn, dass Ota seine Entscheidungen nur deshalb nicht erklären kann, weil er niemandem ins Gesicht sagen will, dass der Text seiner Meinung nach nichts wert ist. Die Autoren, denen er einen Korb verpasst hat, behaupten, dass Otas so genannte Intuition perfekt mit der Leserschaft übereinstimmt. Das Profil von Otas Verlag kündigt etwas anderes an, aber natürlich hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung.

Auf der Straße, auf dem Weg zu Otas Büro, stoßen wir fast mit einem Mädchen zusammen, das beim Gehen auf ihr Handy starrt.

„Hallo, Emma“, sagt Ota und distanziert sich auf eine seltsame Art und Weise von mir.

„Ich dachte, ihr wärt auf die Hütte gefahren. Fanča meinte, ihr würdet ein paar Bäume geliefert kriegen.“

Aber natürlich. Die Komödie vom Verleger und „seiner“ Autorin, die man auf einer Abendveranstaltung spielen kann, versteht eine Bekannte von Otas ältester Tochter Františka vielleicht nicht. Und zudem befindet sich ihre Umlaufbahn gefährlich nahe an Otas Familienkörper.

„Ich fahre erst morgen hin, ich habe hier noch etwas fertigzumachen.“

„Wohin geht ihr?“

„Sylvie begleitet mich zur Arbeit.“

„Das würde mir auch gefallen, am Nachmittag zur Arbeit zu gehen.“ Das Mädchen grinst schelmisch.

„Mir auch“, entgegne ich.

Ich lache über meine eigene dumme Lüge. Ich arbeite grundsätzlich schon seit dem frühen Morgen, aber als ich Anfang zwanzig war, war es natürlich ein Traum, nicht für Vorlesungen aufstehen zu müssen.

„Ich habe eines Ihrer Bücher gelesen. Wir hatten es als Pflichtlektüre für die Abiturprüfung“, sagt Ema schüchtern.

Ota hält den Abstand zu mir, den man bekommt, wenn man einen Schritt von jemandem weggeht, zu dem man offensichtlich gehört.

„Und wie hieß das Buch?“, fragt Ota.

Das Mädchen errötet.

„Aber es hat dir doch gefallen, oder?“ Ota versucht ihr freundlich aus der Klemme zu helfen.

„Mir hat das Mädchen gefallen. Sie war mir sehr ähnlich ich.“ Emas gerät ins Träumen.

Das ist der Grund, warum ich schreibe, denke ich. Das Wesentliche entsteht erst, wenn man mit dem Leser interagiert. In meinem Kopf läuft er mit meinem Buch in die Badewanne in seiner Wohnung. Die einzig wahre Antwort auf die Frage, ob ich mir meine Leser in irgendeiner Weise vorstelle, ist, dass in meiner Vorstellung alle immer genau das Gleiche zur gleichen Zeit tun: irgendwo lesen, was ich geschrieben habe.

„Und wo willst du hin?“ fragt Ota freundlich.

Ema scheint entweder nicht zu hören oder sie stört sich an Otas Jovialität.

„Richten Sie Fanča aus, dass wir am Montag eine Probe haben?“, stottert sie bittend und Ota nickt eifrig.

 

* * *

 

Am Morgen eile ich zum Zug, um zum Festival „Frauen im Postfeminismus“ in eine regionale Stadt zu fahren.

Die Tatsache, dass das Honorar an erster Stelle steht, versuche ich aus Höflichkeit zu verbergen, was nicht ausschließt, dass ich mich im Falle einer interessanten Veranstaltung nicht mit den Reisekosten und einem lächerlichen Taschengeld begnügen würde. Für die Zeit, in der ich Freude daran hatte, mir selbst zuzuhören, schäme ich mich, wenn ich ganz ehrlich bin.

Wenn die Veranstaltung gut bezahlt ist, lehne ich so gut wie nie ab. David und ich sind uns einig, dass rücksichtslose Ehrlichkeit in der kreativen Arbeit und notwendiger Lebensunterhalt zwei verschiedene Dinge sind, die in einem ethischen Sinne nichts miteinander zu tun haben.

Hastig ziehe ich mich an. Obwohl die Moderatorin die Fragen im Voraus verschickt hatte, hatte ich keine Zeit, sie zu lesen, und jetzt werde ich es ohne meine Brille nicht mehr schaffen, das nachzuholen. In meinem Kopf hallt das zwei Jahre alte „Hallo, Oma“ nach, als Ondřej mich zum ersten Mal mit Brille gesehen hatte. Danach habe ich ein paar Tage lang aus lauter Trotz ohne gearbeitet, sogar im Büro, unter schrecklich verschwommenen Bedingungen. Die Zeiten ähnlicher Posenmacherei sind auch vorbei. David hatte mir sogar einmal ein Kompliment zur Brille gemacht, wahrscheinlich aus Höflichkeit, und Ota scherzte, er habe sich schon immer gewünscht, „mit seiner Russistin zu schlafen“.

Die Moderatorin auf der Landesmesse stellt meine Außerirdischen Freundinnen als „einen außergewöhnlichen Beitrag zur zeitgenössischen Genderdebatte“ vor. In gewisser Weise tröstet mich die Tatsache, dass auch sie eine Brille trägt, obwohl sie nicht einmal wie dreißig aussieht.

„Die Aufmerksamkeit, die der Geschlechtererziehung in den letzten Jahren in den Schulen zuteil geworden ist, ist beispiellos“, beginne ich meine kurze Einführung, und zum dritten Mal innerhalb des letzten Monats erzähle ich die Geschichte, wie meine beste Freundin Irena ihrem Enkel eine Kinderküche gekauft hatte. Es folgt das erwartete Gelächter einiger alberner Leute im Publikum; man muss bedenken, dass wir mehr als hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt sind.

Ich wende mich an den älteren Mann in der ersten Reihe, der ununterbrochen gedämpft kichert.

„Finden Sie etwas daran lustig, dass ein Junge Kochen spielt?“

Der Mann murmelt unbeholfen, dass er eine Tochter habe und daher nicht viel über Jungen wisse, also frage ich ihn, ob er es in Ordnung findet, sich um seine Tochter zu sorgen, wenn sie abends allein ausgeht.

„Das darf sie nicht, Lucka ist erst zwölf“, antwortet ein Mann, der mindestens siebzig Jahre alt ist. Ich stelle ihn mir als jungen Mann vor, der am Sandkasten blöd herumsteht, wo die Mutter seiner Lucka mit einem kleinen Mädchen spielt, und ich könnte eine Eselsbrücke von diesem Punkt zur ersten Hälfte der Geschlechtertragödie machen, aber ich möchte die Botschaft der Außerirdischen Freundinnen, die daran glauben, dass Veränderungen möglich sind und dass wir gerade sogar leben, verstärken und nicht untergraben. Das Buch ist dazu da, um im Nachhinein gekauft zu werden, nicht umgekehrt, und obwohl ich nicht an eben jene Veränderung glaube, würde ich sie genauso begrüßen wie die Frauen, die mich für eine „falsche“ Feministin halten, nur weil ich meine rosarote Brille für andere Anlässe aufhebe.

In der zweiten Hälfte der Debatte erhält das abgedroschene Bonmot, dass es an der Zeit wäre, dass Männer zu Hause aufhören, „zu helfen“, und anfangen, „etwas zu tun“, einen kräftigen Applaus von den Provinzfrauen im Publikum. Und als sich der Mann mit dem Einwand zu Wort meldet, er würde ja gern im Haushalt helfen, aber seine Frau lasse ihn nicht in die Küche, kann sich auch die bisher steife Moderatorin ihr Lachen nicht verkneifen.

 

Aus dem Tschechischen übersetzt von Hana Hadas