Klára Vlasáková

Körper

2023 | Listen

EINS

Die Körper alter Frauen existieren in Wirklichkeit gar nicht – es gibt eine Altersgrenze, zeitlich nicht genau definiert, dennoch feststehend, nach deren Überschreiten diese Körper nicht mehr sichtbar sind. Würde man alte Frauen nebeneinanderstellen und sie bitten, ihre Kleidung abzulegen, würde man darunter nichts sehen; nur eine Leere, die unterhalb des Halses beginnt und oberhalb der Knie endet, von wo aus sich die Beine sichtbar fortsetzen. Dieses flächendeckende Verschwinden interessiert niemanden, davon steht nichts in der Zeitung, man stößt nicht im Internet darauf, ja nicht einmal in Büchern, die sich ähnlichen Absonderlichkeiten der Welt immerhin tendenziell von Zeit zu Zeit widmen. Jeden Tag lösen sich tonnenweise Knochen und Muskelmasse und Hektoliter Blut in Luft auf! Und die Polizei befasst sich nicht damit, darüber wird nicht im Parlament debattiert, dazu finden keine Demonstrationen statt. Die Reaktion auf dieses so beispiellose Abhandenkommen von Materie ist bestenfalls ein herablassendes Lächeln.

Als Marie ihr Kleid am Rücken zumachen will, klemmt sie sich aus Versehen ein Stück trockene, faltige Haut ein. Das tut weh – und es erschreckt sie. Wie lange sieht ihr Rücken schon so aus? In welchem Jahr hat das angefangen, dass sich ihre normale geschmeidige Haut in einen trockenen Belag verwandelt, der sich allmählich über den ganzen Körper ausbreitet wie ein erbarmungsloser Ausschlag? Warum hat sie das nicht schon früher registriert? Warum hat sie das nicht irgendwie verhindert? Ratlos lässt Marie die Arme sinken. Wenn sie sich ein Jackett übers Kleid zieht, merkt es niemand, und sollte sie es später dennoch ausziehen, wird ja wohl niemand die paar noch offen stehenden Zentimeter kommentieren. Angerannt kommen und sagen: Du liebes Bisschen, wie sind Sie denn in dem Aufzug hier reingekommen! Sehen Sie zu, dass Sie verschwinden, aber lieber hintenrum, damit niemand Sie sieht. Rozálie wird das allerdings nicht gefallen, höchstwahrscheinlich macht sie ihr auch Vorhaltungen, wechselt in diesen unerträglichen leisen, zischenden Tonfall und presst sich an sie heran, so dicht, dass Marie auch nicht eine Silbe ihrer Kritik verpasst. Andererseits hat Marie nicht den geringste Zweifel, dass Róza sie so oder so zusammenstaucht; immer findet sich irgendwas, das ihr die Laune verdirbt und woran die Mutter schuld ist. Mama, bitte … – Mama, warum hast du das getan? – Mama, was hast du dir dabei gedacht? – Mama, wie bist du bloß auf so was gekommen?

Auf der Mama kann man letztlich alles abladen, sie ist breit und stabil genug gebaut und erträgt alle nur denkbaren vorgebrachten Beschwerden.

Marie lässt das Kleid also ein Stück offen. Von der trockenen, abgestorbenen Stelle am Rücken wird ihr übel und sie will sie so schnell wie möglich wieder vergessen, sie wegtun wie ein Stück altes Gerümpel, das längst ausgedient hat und das niemand mehr braucht, bloß ist so etwas unmöglich, sie muss ihre Haut tragen, muss ihre Strafe tragen.

Schon sehr lange hat sie sich selbst nicht mehr richtig berührt. Sie tut nur das Allernotwendigste und versucht, ihren Körper möglichst nie mit bloßer Hand anzufassen. Beim Haare Färben trägt sie Einweghandschuhe, wenn sie sich einseift, streift sie sich einen groben Schwamm über. Meist lässt sich der direkte Hautkontakt irgendwie umgehen; nur wenn sie sich die Schamlippen auseinanderzieht, muss sie sie mit Daumen und Zeigefinger zur Seite drücken – und jedes Mal gibt sie sich Mühe, nur eine möglichst kleine Fläche ihrer Finger dafür zu benutzen. Jegliche Fürsorge, die sie sich selbst widmet, ist zwar gründlich, überschreitet aber nie das absolut nötige Minimum – es geht um Akte der Höflichkeit, die sozusagen der allgemeinen Auffassung davon entsprechen, wie man sich um sich selbst kümmert, sonst nichts. Marie kommt sich vor, als betreue sie eine fremde Person, weil es zu ihren Aufgaben gehört, und sie wird sie nicht los, so sehr sie sich das auch wünscht.

Einmal hatte sie gelesen, dass eine Frau ihren an Demenz leidenden Ehemann, den sie die drei letzten Jahre seines Lebens gepflegt hatte, mit einem Kissen erstickt hat. Die Frau habe vor Gericht ausgesagt, dass sie ihn nicht mehr habe anschauen können, es sei einfach nicht mehr gegangen. Oh, wie gut Marie sie verstanden hatte, auch wenn sie das laut niemals gesagt hätte. Natürlich wäre sie empört gewesen wie alle anderen. Das ist doch furchtbar, oder? Absolut entsetzlich, auf was die Leute manchmal so kommen.

Sie zieht das Jackett über und kämmt sich die Haare, im Kamm bleiben heute mehr von ihnen hängen als sonst. Sie befürchtet, in ein paar Jahren wie eine Puppe auf einem vermoderten Dachboden zu sein – wer ihr über den Kopf streicht, dem bleiben büschelweise Haare in der Hand. An den Haarwurzeln leuchtet ihr ein Streifen Grau entgegen. Sie hatte geplant, noch vor der Hochzeit zum Frisör zu gehen, um die eklatanten Anzeichen des Alters möglichst überzeugend zu kaschieren; bei denen kann man zum Glück noch etwas tun – das ist nicht so hoffnungslos wie mit den Lidern, deren ausgeleierte Haut ihr so stark gegen die Augen drückt, dass sie davon oft Kopfschmerzen bekommt; wie mit den hängenden Wangen, die entlang der Kieferknochen Falten schlagen und ihr die Anmutung einer traurigen Bulldogge verleihen; wie mit den Handrücken, die zerknautscht und trocken sind wie kleine Laubhaufen. Um die Haare kann man sich zum Glück leicht kümmern, ein Frisörbesuch genügt, damit die grauen Ansätze für ein paar Wochen wieder verschwinden. Allerdings hat Marie es diesmal nicht geschafft.

Ihre Frisörin, eine laute Person, die andauernd kaut und schmatzt, hat sich ihre Arbeitszeit so gelegt, dass sie schon am frühen Nachmittag nach Hause gehen kann, und sämtliche Zeiten, die Marie gepasst hätten, waren schon ausgebucht.

„Geht es wirklich nicht, dass Sie mich irgendwo dazwischenquetschen? Meine Tochter heiratet“, bettelt Marie.

„Nein, das geht nicht“, erwidert die Frisörin streng. Marie würde sie für ihren blasierten Unwillen am liebsten ausschimpfen, stattdessen verabschiedet sie sich höflich und will auflegen. Doch kurz bevor sie den Knopf drückt, fängt die Frisörin unaufgefordert an zu erzählen, warum sie so früh nach Hause geht: Ihr Sohn mache ihr Sorgen, er treibe sich mit seinen Kumpels herum und weigere sich, seinen Eltern zu sagen, wo sie hingehen. Oft rieche er nach Zigaretten und Alkohol und sie habe Angst, große Angst, wohin das noch führen könnte, also sei sie öfter zu Hause, um auf ihren Sohn nach der Schule ein Auge werfen zu können.

Marie hat kein Interesse an diesem Erguss von Aufrichtigkeit, also ist sie die ganze Zeit still und hofft, die Frisörin kommt von selber drauf. Allerdings erwartet die tatsächlich keine Reaktion. Marie hält das Telefon ein paar Zentimeter vom Ohr weg, sie spürt, wie sich in ihrem Körper Zorn ansammelt. Sie möchte die Frisörin unbedingt zum Schweigen bringen, diesen selbstmitleidigen Schwall kappen, aber etwas hält sie davon ab; einem Teil ihres ermatteten Geistes wird nämlich klar, dass wir das alle so machen – wir müssen uns versichern, dass uns die anderen noch hören, dass das, was wir sagen, tatsächlich bis zu ihnen vordringt, also wickeln wir sie in Worte ein und drücken zu wie eine Schlange: Können Sie mich jetzt hören? Jetzt? Und wie ist es jetzt? Jetzt können Sie mich ganz bestimmt hören, so ist es recht, und jetzt können Sie kaum noch atmen, so schön und aufmerksam, wie Sie mir endlich zuhören.

„Wenn er in der Wanne ist oder schläft, dann durchsuch ich sicherheitshalber seine Tasche und seine Sachen“, bekennt die Frisörin. „Da kann mir niemand einen Vorwurf machen. Ich bin seine Mutter! Ich muss schließlich Bescheid wissen!“

Marie hat keine Zweifel, dass die Frisörin ihre Sorgen mit dem Sohn gegenüber all ihren Kundinnen und Kunden erwähnt. Jede und jeder bekommen sie ein Stück gerecht portionierten Unglücks, bei fremden Menschen ist man schließlich auf der sicheren, der absolut sicheren Seite, solange man sie im passenden Moment mit unerwünschten Vertraulichkeiten überrumpelt. Alles, was sie dann fertigbringen, ist nicken und schweigen, was häufig aber das Maximum ist, was zwei Wesen füreinander tun können.

Marie würde es allerdings nie im Leben einfallen, der Frisörin anzuvertrauen, welche Probleme sie mit Róza hat. Es käme ihr einerseits unpassend und dumm vor, mit jemand Fremdem darüber zu sprechen, außerdem ist sie vollkommen überzeugt, dass es bei ihr und Róza um etwas anderes geht; bei ihnen glimmt schließlich unter der Zimperlichkeit, den Vorwürfen und Streitereien ein gesunder, lebensfähiger Kern. Manchmal bereitet es zwar Mühe, an den zu glauben, aber man müsste nur mit Kraft all die kurzatmigen Missverständnisse wegfegen, und er läge vor einem – in Gänze, stark, wunderschön. Allerdings ist Marie gleichzeitig auch klar – und daran denkt sie nur sehr ungern –, dass genau diese Schichten aus Gezerre ein Gewicht haben; sie drücken auf diesen Kern so gewaltig und so lange, dass er unter ihrer Last Risse bekommen könnte und schließlich eines Tages unwiederbringlich platzt, peng, peng und aus.

Sie putzt ihre Schuhe und steckt ein paar unerlässliche Dinge in die Handtasche: Lippenstift, Puderdose, Taschentücher, Róza hatte zwar behauptet, dass sie definitiv nicht vorhabe zu flennen, aber Marie weiß, dass jede auch noch so abgeklärte Braut letzten Endes die Rührung überkommen kann, und sie wäre gern diejenige, die ihrer Tochter nahe ist, eine solche Vorstellung bereitet ihr fieberhafte Freude, schließlich hat sie als Mutter dazu alles Recht, niemand sonst könnte diese Rolle ausfüllen.

Sie zieht die Wohnungstür hinter sich zu, schließt sorgfältig ab und fährt mit dem Aufzug nach unten. Auf dem Kabinenboden liegt ein zertretenes Stück Hörnchen. Es macht Marie sauer, dass jemand so einen Saustall hinterlässt und die anderen latschen noch darauf rum, ohne nachzudenken, ohne Gewissensbisse. Aber was soll’s, sagt sie sich bitter, diese Kabine teilen wir nur für einen Moment und dann schließen wir uns alle in unsere hübsche Wohnung ein, in unseren kleinen Käfig, den wir schön sauber halten und adrett nach unseren Vorstellungen einrichten, nichts, was sich vor der Tür abspielt, ist von Belang. Das geht mich doch nichts an, murmeln die Nachbarn vor sich hin: Mich – doch – nicht.

In letzter Zeit macht Marie mit dem Handy Fotos von Zigarettenkippen, Kaugummis und Taschentüchern, die jemand auf die Straße geschmissen hat, und sie stellt eindeutig fest, wie es immer mehr werden. Einige Male hat sie auf dem Straßenpflaster sogar tote Vögel gesehen, die dort wie gruselige vergessene Spielsachen herumlagen; das beunruhigt sie jedoch immer wieder so sehr, dass sie sich ihnen nicht einmal nähern kann, geschweige denn, sie fotografieren. Sie stellt sich vor, dass der ganze Abfall eines Tages die Menschen verschüttet, die Müllwelle steigt bis hinauf zu den Fenstern an, dann drückt sie die Scheiben ein und strömt ununterbrochen nach drinnen, in die ganzen schnuckeligen Kuschelnestchen.

Vor ein paar Monaten hatte sie die Fotos sogar ans Bezirksamt geschickt, angehängt an eine E-Mail, dass man in so einem Umfeld doch nicht atmen könne, aber niemand hatte ihr geantwortet; wahrscheinlich sind sie alle längst an diesem Gerümpel erstickt und liegen jetzt neben ihren Rechnern, reglose Körper, die Köpfe in die Tastaturen versenkt.

Diese Vorstellung behagt Marie auf seltsame Weise.

Als sie auf die Straße tritt, blendet sie ein stechendes, kompromissloses Licht. Die Sonnenstrahlen fallen ihr auf den Rücken, dann lösen sie sich auf, gleiten sanft die Wirbelsäule hinab und hinterlassen eine tröstliche Wärme, als hätte jemand ihr die Haut mit kostbaren Salben eingerieben.

Ihr Körper, den wochenlang niemand berührt hat und der mit jedem verflossenen Tag, mit jeder Stunde, jeder Minute nur weiter in sich zusammengesackt ist wie ein altes, morsches Haus, taucht auf einmal vollkommen in das gnädige Strahlen und die Wärme ein – endlich geliebt, endlich umsorgt.

*

Die Luft im Auto ist schwer, auch die uralte Klimaanlage sorgt nicht für Frische. Marie kommt es so vor, als würde ihr sorgfältig geschminktes Gesicht ganz langsam zerfließen. Rouge, Puder und Lippenstift rutschen die alte, ausgeleierte Haut hinab und lassen nur schwache, traurige Schlieren zurück. Ihr ist sehr wohl klar, dass es einfacher gewesen wäre, ungeschminkt zu gehen, bloß hätte sie ohne Make-up zum Ausdruck gebracht, dass sie es aufgegeben hat; dass sie auf jenen dekorativen Aspekt des Frauseins verzichtet, der zwar überflüssig ist, in ihrem Fall sogar Unheil anrichtet, durch dessen Akzeptanz eine Frau aber verständlich wird, lesbar, annehmbar. Eine Frau maskiert sich mit Farben ja nicht, um sich abzusondern, sondern um so natürlich wie möglich mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Marie reibt sich die Puderreste von der Stirn und ist fest entschlossen, ihr Make-up, kurz bevor sie aus dem Auto steigt, in Ordnung zu bringen.

Seit sie in Rente gegangen ist, muss sie jede Krone dreimal umdrehen. Wenn sie sich nicht mit Kinder Hüten etwas dazuverdienen würde, wüsste sie nicht, wie sie jeden Monat alle Ausgaben finanzieren soll. Lieber will sie nicht daran denken, wie lange sie noch fähig wäre zu arbeiten. Sie sieht sich selbst als Maschine, die nicht ins Stocken geraten darf.

Die Miete steigt jedes Jahr ein bisschen. Die Summe prangt selbstzufrieden auf dem Vertrag, der jeden Winter erneut unterschrieben werden muss. Einmal ist die Inflation schuld, mit der die Eigentümerin herumfuchtelt wie mit einem scharfen Säbel, ein andermal wiederum der übliche Marktpreis, und manchmal verknüpft ihre Vermieterin beide Argumente raffiniert. Marie denkt hin und wieder darüber nach, was alles sie bei Bedarf verkaufen könnte – den von ihrer Mutter geerbten Schmuck, sicher, dann ist da noch das Auto. Bloß würde sie dafür mehr kriegen als ein paar Tausender? Und vor allem – Marie will nicht auf das angenehme Gefühl verzichten, jederzeit wegfahren zu können, egal wohin oder warum, das Wesentliche ist, dass es diese Möglichkeit einfach gibt. Sie hat die Wahl, nach wie vor noch.

Marie schaltet das Radio ein. Auf einem Sender, bei dem kein Wert auf Musik gelegt wird, läuft gerade ein Interview mit irgend so einer Schlaubergerin, von der Marie ihr Lebtag noch nichts gehört hat. Der Stimme nach kann sie nicht viel älter als dreißig sein, und sie spricht davon, wie mit dem Verschwinden und Aussterben ganzer Arten das Risiko steigt, dass es zu einem Kollaps und großen, nicht vorhersehbaren Veränderungen kommt, zum Beispiel zu bisher nicht gekannten Krankheiten. Marie findet es erstaunlich und ein bisschen verdächtig, dass die Frau selbstbewusst über so komplizierte Dinge redet, ohne dabei zu zögern oder zu zweifeln; sie spricht flüssig, als hätte sie sich vorher alles auf einen Zettel geschrieben und würde das jetzt nur vorlesen. Wo nimmt die junge Frau das Selbstvertrauen her, mit so einer Ungezwungenheit aufzutreten? Wie kann sie das alles eigentlich wissen? Peinigt sie nicht, so wie Marie, das permanente Gefühl, dass ihre Worte niemanden interessieren, und dass, wenn doch jemand begeistert wirkt, er sein Interesse nur geschickt vortäuscht? Die selbstsichere Stimme der Frau im Radio macht Marie traurig, sie öffnet in ihr einen Abgrund, in den sie nicht hineinschauen möchte. Das Interview ist zum Glück bald zu Ende und es kommen Nachrichten. Eine Meldung informiert über einen Mann, der sich aus Protest selbst angezündet hat, aber Marie entgeht, gegen wen oder was – die Sprecherin vernuschelt das Satzende und schluckt eigenartig, als sei sie sich seiner nicht sicher oder wolle gar absichtlich über den Anlass schweigen. Marie kommt sofort in den Sinn, dass der Betreffende sicher jemanden hinterlassen hat. Seine Frau? Kinder? Geschwister und vielleicht sogar die Eltern? Wenn er schon protestieren wollte, hätte er sich doch eine Methode aussuchen können, mit der er niemanden verletzt. Außerdem wird in den Nachrichten wie üblich vor allem darüber geredet, wie er sich aus dem Leben befördert hat, nicht über den Grund des Protests – so gravierend er auch gewesen sein mag. Das geht doch nicht, einfach so verschwinden und keine Verantwortung für diejenigen fühlen, die hier zurückbleiben.

Ihr Kopf beginnt zu hämmern, also schaltet sie die Nachrichten lieber aus, schließlich geschieht alles Wesentliche so oder so auch ohne ihr Zutun, ohne ihre Einwilligung.

Sie fährt von der Autobahn ab, der Weg führt sie zwischen Wäldern und Feldern hindurch. Sie lässt das Seitenfenster herab und atmet den Duft der Fichten ein, sie schaut zu, wie das weiche Licht zwischen ihren Ästen hindurchströmt und sich in kleine goldene Teiche aufteilt, die an den Baumstämmen und den Nadeln Wellen schlagen. Ihr schnürt sich in diesem Moment die Kehle in einem unvermuteten Glücksgefühl zusammen, das sie mit Wucht und aus heiterem Himmel trifft, als wäre ihr ein Lastwagen hinten reingefahren. Die vorausgegangene Beklemmung ist spurlos verschwunden.

Für diesen kurzen Moment fühlt sie sich mit all dem verbunden – die Zweige sind ihre Finger und durch die strömen die Säfte, ihre Haare flattern im Wind zusammen mit Spinnweben und gelblichem Flaum, ihre Füße wachsen tief in den Erdboden hinein, wo sie sich fest mit den Wurzeln verflechten. Marie spürt, dass nichts Schlechtes ihr etwas anhaben kann – es gibt niemanden, der ihr in diesem Augenblick ein Leid zufügen könnte. Direkt danach schwappt allerdings dieses berauschende Gefühl einfach so in noch eins und noch eins hinüber, bis von dem Ganzen schließlich nur ein paar vereinzelte Wellenschläge übrigbleiben. Nun ist wieder bloß noch sie selber hier, sie und das Auto, das Auto und sie.

Als sie endlich vor Ort ankommt, sieht sie schon von Weitem eine lange Reihe abgestellter Autos. Sie parkt an ihrem Ende. Rasch korrigiert sie ihr Make-up und passt dabei gut auf, nur einzelne Teile ihres Gesichts anzuschauen, als würde sie selbst es mit Hilfe des Rückspiegels kaltblütig in Stücke schneiden; der Anblick des unbefriedigenden Ganzen könnte sie enttäuschen und allzu sehr aufregen.

Als sie aus dem Auto steigt, sieht sie, dass es bis zum Teich noch ein ordentlicher Fußmarsch ist. Róza hat in dieser Hinsicht klare Vorstellungen gehabt – sie wollte, dass die Hochzeitsgäste weit entfernt vom eigentlichen Ort der Zeremonie parken, sodass die Autos auf den Fotos nicht stören.

„Es ist nur ein kurzes Stück, das wird hoffentlich niemandem Probleme bereiten“, stand in der E-Mail, die sie vor einer Woche an alle Gäste geschickt hatte. Marie war pikiert, dass sie nur diese Gruppennachricht bekommen hatte – sie war lediglich eine weitere Empfängerin, sonst nichts, aber sofort ermahnte sie sich, dass ihre Tochter sich unter der Last ihrer Pflichten bestimmt schon durchbiegt und keine Zeit hat, jedem Gast einzeln zu schreiben. Außerdem hatte sie, als sie die Adressen durchgegangen war, dort auch die von Štěpáns Eltern gefunden. Der Familie des Bräutigams war also dieselbe Behandlung zuteil geworden wie ihr selbst und es war kleinlich gewesen, sich mit so was überhaupt zu befassen.

Sie schlägt den leicht abfallenden Weg ein. Der Himmel ist dermaßen blau und rein, dass es so aussieht, als hätte ihn jemand speziell für heute blankgescheuert. Genau so soll der Tag, an dem ihr Mädchen heiratet, aussehen, denkt Marie, genau das hat sie sich verdient.

Sie schaut sich um, entdeckt aber niemand Bekanntes. Von Rózas Seite aus sollte lediglich sie kommen. Maries Mann, der Brautvater, ist vor drei Jahren gestorben, Rózas Großeltern, als sie noch klein war. Die Verwandten väterlicherseits leben überwiegend am anderen Ende des Landes, und obwohl sie ursprünglich kommen wollten, ist allen dies und jenes dazwischengekommen: Rózas Cousine darf wegen einer Risikoschwangerschaft nicht reisen, ihr Cousin hat einen Job im Ausland angenommen und kann es sich in der Probezeit nicht erlauben, nach Tschechien zu kommen, und ihre Tante, die Róza abgöttisch liebt, ist im Krankenhaus und bekommt ein neues Hüftgelenk. Róza hat das alles mit Ruhe und Verständnis hingenommen, was Marie bewundert. Niemandem hat sie etwas vorgeworfen, allen hat sie geantwortet, dass ihr das nichts ausmache und sie auch später gemeinsam nachfeiern könnten.

Den Mangel an Verwandtschaft auf ihrer Hochzeit versucht Róza aus ihrem Freundeskreis zu kompensieren, manche von ihnen kennt Marie: Šárka, die Trauzeugin, oder ehemalige Mitschüler. Rózas Kommilitonen von der Uni hätte sie allerdings nur mit Mühe identifizieren können.

Einigen war sie auf einer Geburtstagsfeier ihrer Tochter vor ein paar Jahren begegnet, andere kennt sie von Fotos, aber in dieses Kapitel von Rózas Leben gehört sie als Mutter schon nicht mehr mit hinein, und dorthin eingeladen hatte sie ihre Tochter übrigens auch nie; Marie konnte nur behutsam Fragen stellen und musste dabei gut aufpassen, um Róza nicht mit übertriebener Neugier zu reizen. Dennoch war sie an einige wertvolle Informationen herangekommen – sie wusste, dass Róza sich in einem Kreis von fünf, sechs Menschen bewegt, mit denen sie die Wochenenden und einige Feiertage verbringt, sie unternehmen gemeinsame Ausflüge oder machen günstig Kurzurlaub.

Sie ist froh, dass ihre Tochter zufrieden ist und ein Leben lebt, das ihren Vorstellungen entspricht. Es gibt allerdings eine Sache, über die Marie sich ärgert, wobei sie sich gleichzeitig für dieses Gefühl schämt und niemals mit irgendwem darüber reden würde: Róza hatte sich in ihrer Studienzeit einen nachsichtigen, leicht herablassenden Tonfall zugelegt, in den sie jedes Mal verfällt, wenn sie mit ihrer Mutter über ein etwas komplizierteres Thema spricht als das Aufzählen von Neuigkeiten aus der Verwandtschaft. Marie hat den Eindruck, dass ihre Ansichten Róza wütend machen und nur absolute Selbstbeherrschung es ihr ermöglichen, Zeit mit der Mutter zu verbringen. Dabei gibt Marie sich wirklich Mühe, zu Nachrichten und aktuellen Themen auf dem Laufenden zu bleiben, aber jedes Mal, wenn sie eine ihrer Erkenntnisse Róza gegenüber voller Stolz ausführen will, fängt die an, ungeduldig und hektisch zu nicken, und auf ihrem Gesicht macht sich ein unnatürliches steifes Lächeln breit, als hätte es jemand dort hintätowiert. Es ist offensichtlich, dass sie sich wünscht, ihre Mutter möge so schnell wie möglich damit aufhören, dieser Wunsch schlägt wie Flammen aus ihren Augen: Ach bitte, bitte, bitte, sei endlich still, sei doch vernünftig. Marie versucht bei jedem dieser beschämenden Scharmützel so zu tun, als bemerke sie Rózas Reaktion nicht, aber diese grelle Erniedrigung brennt sich ihr immer und immer wieder in die Netzhaut ein.

Schon bald hatte sie also in den Gesprächen mit Róza keine neuen Themen mehr angeschnitten, sie wartet nun nur noch geduldig, womit ihre Tochter von sich aus kommt. Sie tritt in der Landschaft ihrer Konversation umsichtig auf, auch der kleinste unüberlegte Schritt könnte nämlich bedeuten, dass sie auf eine zerstörerische Mine tritt, die die gesamte sorgfältig eingerichtete Waffenruhe in die Luft jagt.

Marie ist sich nicht sicher, ob Róza diese Veränderung in ihrer Kommunikation überhaupt registriert hat.

Aus dem Tschechischen übersetzt von Mirko Kraetsch