Julián war schließlich doch zurückgekommen. Nach all den Jahren. Wenn auch nur für kurze Zeit. Wegen des Briefs.
Als er aus dem Bus stieg, merkte er, dass der Hass auf seine Geburtsstadt aus ihm verflogen war. Schon von Weitem roch er die Quellen, diesen salzigen, mineralischen Duft der Unterwelt.
Oder nein, so einen Duft gab es nicht. So ein Duft war Fiktion. Wer weiß, ob er etwas roch. Er hoffte, dass in ihm keine Gleichgültigkeit saß, mit der war er schließlich nicht angereist. Sofort bekam er Zweifel, ob die Entscheidung, herzukommen, richtig gewesen war. Wo blieben die Emotionen?
Sie fehlten ihm. Auch negative hätte er akzeptiert. Aber er spürte nichts. Er war schlicht in einer westböhmischen Stadt gelandet. Genauso gut hätte es Pilsen, Stříbro oder Cheb sein können.
Er setzte sich auf eine Bank, den Koffer stellte er neben sich, und aus der Leder- Umhängetasche holte er das Handy und die Lesebrille heraus. Die setzte er sich auf die Nase und suchte in seinem Smartphone bei den Downloads den eingescannten Brief. Einen richtigen Brief, keine E-Mail oder SMS. Mit dem Computer geschrieben, aber doch ein Brief – in der heutigen Zeit! An ihn adressiert war er in der Redaktion eingetroffen. Auf neutralem Büropapier gedruckt, zusammengefaltet in einem altmodischen Kuvert, Format 4 : 3, weiß, ohne Absenderangabe. Ganz normales Papier, ein ganz normaler Umschlag, eine ganz normale Sendung, keine Unterschrift. Ein eigenwilliges anonymes Schreiben. Wäre es der Tschechischen Post abhanden gekommen, hätte niemand erfahren, was es beinhaltete. Dann wäre es nie beim Empfänger angekommen.
Im Brief ging es um einen Vorfall, oder eher zwei Vorfälle, über die viel geschrieben und gesendet worden war. Auch im Ausland, vor allem in Deutschland und Russland. Aber Karlsbad war ein viel zu lokaler Schauplatz, als dass es die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gelenkt hätte. Es interessierte zum Beispiel weder die Spanier noch die Skandinavier. Der seltsame Fall der Karlsbader Kannibalen hatte also keine adäquate mediale Verwertung erfahren; um so wertvoller sind die beiden Bücher, die
ihn beschreiben. Eines ist der vorliegende subjektive Roman, das andere ein objektives Sachbuch, verfasst von einem Autor, der in diesem Buch ein paar Mal auftauchen wird.
Wie konnte so etwas auf derart geringes Interesse stoßen, einfach so verrecken?, sollte Julián sich in späteren Jahren häufig fragen.
Die Antwort ahnte er bereits hier und jetzt, er hatte nur nicht vor, sich das einzugestehen: Karlsbad war eine Stadt des Untergangs. Es war nichts einfacher, als zu sterben. Ein Mensch, der wusste, dass er das Beste hinter sich hatte; der ebenfalls wusste, dass er auch all das hinter sich hatte, was nicht das Beste war, aber immerhin war’s das wert gewesen. Auch manche Städte wünschten sich das. Sterbehilfe. Sich einfach abschalten.
Julián hatte nie vorgehabt, hierher zurückzukommen, aber jetzt gab es einen Grund: schwarz auf weiß in seinen Fingern, die das Smartphone hielten. Wenigstens etwas, das ihm während all der Jahre nicht zwischen ihnen hindurchgeronnen war.
Magazin Fokus
Herrn Julián Uřídil – Redaktion Karlovo náměstí 40
Praha 2, 128 00
Hallo Julián,
lange keinen love letter gekriegt, hm? Es ist so romantisch, zu alten Gepflogenheiten zurückzukehren. Messenger – vergiss es! So viel besser als die ganzen Smileys und Herz-Emoticons. Am Ende steht keine Unterschrift, aber Du wirst wahrscheinlich trotzdem erraten, wer Dir schreibt, jedenfalls wenn Du bis zum Ende liest. Ich hoffe mal, dass Du’s tust. Tippfehler sind hoffentlich keine drin, diesmal diktiere ich nicht meiner Sekretärin, ich schreibe selber, gedruckt ist das Ganze auf einem anonymen Privatdrucker, den es nicht mehr gibt, genauso wie das Notebook, auf dem der Brief geschrieben wurde. (Jetzt könnte ich einen Smiley einfügen, aber es geht um eine verdammt ernste Angelegenheit. Von der Du etwas aus dem Netz erfahren hast und auch aus Eurer Zeitschrift, aber Du könntest mehr wissen, wenn Du wolltest. Und dass Du willst, darauf wette ich. Hier kommt’s also.)
Ich habe von Dir ein Buch gelesen. Dann noch zwei. Diese Morde! Bist du vielleicht ein Psychopath? Das habe ich immer von Dir gedacht. Schon damals. Auch ein paar von Deinen Kurzgeschichten kenne ich. Wir hier in der Provinz, von wo Du Dich in die
Großstadt verkrümelt hast, lesen auch hin und wieder, believe it or not.
Tja, und nun haben wir in Karlsbad so was, und deswegen sitzen wir ganz schön in der Scheiße. Als hättest Du uns das verpasst, um Dich zu rächen. Ich weiß, Du konntest
mich früher nicht leiden, aber heute sind wir hoffentlich Freunde. Das hoffe ich wirklich. Wir wussten voneinander, unsere Freundinnen haben von uns gewusst und wir von ihnen. Wir wussten, was wir aneinander hatten, jetzt machen unsere Kids solchen Mist, die haben bloß noch mehr Angst vor Geschlechtskrankheiten als wir damals. Hast Du Kinder? Ich ja, fucking teenagers, zwei gesunde und wunderschöne Mädchen. Ich bin geschieden, Du vermutlich auch endlich, ganz normal, wer ist das nicht? Gleich zweimal geschieden: noch normaler. Ich hab jetzt eine Freundin, die ist halb so alt wie ich, aber das weiß keiner groß, Du jetzt schon, auf der Arbeit eine mördermäßige Gerüchteküche, deswegen fahren wir zum Schlafen (ich und das Mädchen) an unterschiedliche Orte, die zweite Scheidung ist halt doch noch nicht ganz durch.
Ich schreibe das, um den Grund für meinen Brief ein bisschen menschlicher zu machen, das wirst Du als bekannter Autor bestimmt verstehen. Ich sag Dir, wie ich das sehe: als ob Du das damals vor Deinem Weggang nach Prag zum Studieren selber als ferngesteuerte Zeitbombe gelegt hättest. Also, Julián, Du alter latenter Mörder –
Am 5. März hat es angefangen, und da hätte es auch enden sollen, als diese Frau, die den Typen gebissen hatte, Selbstmord beging. Du hast darüber gelesen, aber Du hast nicht die Videoaufzeichnungen gesehen. Und damit war es nicht vorbei, es gibt noch eine Fortsetzung. Der zweite Mord hat vor Kurzem stattgefunden, auf einem Golfplatz, der Täter hat sich dann vor ein Auto geschmissen. Wenn mich irgendwas an Deine Bücher erinnert, dann ist es das.
Soweit ich weiß, haben die Ermittler noch keine Spur, keinen Anhaltspunkt, zwischen den Fällen gibt es bis auf die Ähnlichkeit keine Verbindung. Falls sich das wiederholen sollte – und genau das befürchte ich –, können wir das nicht mehr lange unterm Deckel halten. Aber das würde ich lieber mit Dir persönlich besprechen.
Hier in Karlsbad ist das Realität, keine Story. Und ich habe Angst um meine junge Freundin und natürlich um meine Töchter.
Falls Du hier auftauchst und Dich für unsere rätselhaften Morde und Selbstmorde begeistern kannst, soll das nicht zu Deinem Schaden sein. In einem Interview hast Du gesagt, dass Du eine Schreibkrise hast. Hier wartet Material auf dich!
Unterzeichnet: ein anonymer Verehrer von Mr. Writer
- „Das Opfer ist nur der Träger eines perfekten Mordes.“ Hast Du da in Deinem alten Buch jemanden zitiert? Also begreifst Du, warum Karlsbad Dich braucht. Und warum ich Dich für unsere Stadt bitte, aber meine Unterschrift nicht darunter setzen kann.
Unwillkürlich musste er auch nach dem zwölften Lesen noch lächeln. Er hob den Blick von dem Brief und machte die Datei zu, zündete sich eine Zigarette an und schaute sich auf dem Busbahnhof um. Die Dämmerung brach herein und die Luft war aseptisch. Keine Dieselabgase, kein Gedränge auf den Bussteigen.
Im Westen ein Hauch von rosigem Abendrot, aber heute würde das nichts mehr werden.
Er atmete den Rauch ein, sah die Stadt der toten Kinder (jawohl, durch diesen Vergleich wurde seine alte negative Einstellung hübsch potenziert), keine ordentliche Hochschule, es stank nach Krone, es stank nach Dollar und Euro, sogar nach diesem elenden Rubel, es stank nach jeder Währung, die noch irgendwer bereit war herzubringen. Armut und Elend, Schmutz, wohin er schaute. Hässlichkeit, knallbunte Firmenschilder, verblichene Taxi-Werbung aus den Neunzigerjahren, scheußlich wie in Dritte-Welt-Ländern. Kein Geschmack, kein Stil, kein vereinheitlichendes Prinzip, durch das der exklusive Ort visuell auf den Besucher wirken würde, der geblendet werden wollte. Die Stadt der tschechischen und russischen Aufschriften, die sich gegenseitig in einen Aufschrei übersetzen ließen: Ich geh auf dem Zahnfleisch, ich brauche einen Investor, инвестор, помощ. Nicht dass es in Prag um so viel besser gewesen wäre, aber besser war es.
Ihm drehte sich der Magen um. Zigaretten brauchte er genauso, wie er sie hasste. Vielleicht lag es an den grausigen Fotos auf den Packungen. Als Raucher ließ er sich von ihnen Panik einjagen, aber gleichzeitig wusste er, dass er so nicht enden würde. Jemand anderes vielleicht, aber nicht er, warum also gingen sie ihm damit auf die Nerven? Die Bedrohung blieb allerdings irgendwo im Hinterkopf hängen, im Bereich der unterdrückten Befürchtungen. Und wenn er sich am Vormittag die erste, zweite, dritte anzündete, verspürte er Brechreiz.
Er erhob sich von der Bank, zog den Griff seines Rollkoffers aus und ging auf das erste Taxi in der Reihe zu. Er hatte ein Zimmer im Hotel Burian reserviert, das Beherbergungs- und Kurdienstleistungen anbot.
Dein Glaube hat dich gesunden lassen, dachte er. Das sagte sich so schön. Oft war es genau andersrum.
Er war in die Märchenstadt gekommen, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, die Jahre seiner Berufsausbildung, die er, wenn das ginge, mit größtem Vergnügen vergessen würde.
Er pflegte seinen Hass auf Karlsbad, seit er zum Studium weggegangen war, als ihm bewusst geworden war, dass er die Stadt schon zuvor gehasst hatte, mindestens seit der zweiten Hälfte seines vierjährigen Aufenthalts an einer Bildungsanstalt für benachteiligte Halbwüchsige namens Gymnasium. Die ganzen Peinlichkeiten, die ganzen Vieren und Fünfen in unbegreiflichen, nie begriffenen Fächern. Die ganzen Tränen, für die er sich als Junge geschämt hatte, während die Mädchen nach Tests regelmäßig flennten (bis auf die ganz genialen, aber die versauten sich’s wiederum mit den Kopfnoten). Er begriff nicht, dass er sich überhaupt bis zum Abitur durchgearbeitet hatte. Er hätte sich schon im ersten Jahr rausschmeißen lassen und an irgendeine
Kunstschule wechseln sollen, egal welche, wo sie ihn halt genommen hätten. Es war ihm um nichts anderes gegangen als um Fantasie, vor der er damals im Unterschied zu heute überquoll, aber hier war auf so ein Bürschchen keiner neugierig. Und zur Belohnung hatte er das seiner Penne nie verziehen. Es wärmte ihn, dass die alte eisige Animosität gegenüber dieser schrecklichen Stadt zu ihm zurückgekehrt war.
Immerhin etwas. Besser jedenfalls als laue Gleichgültigkeit, das war schon lange bekannt.
Letzten Endes war die unsichere Laufbahn als Schriftsteller eine bessere Wahl gewesen als die Gewissheiten von Karlsbad, das in seiner Vergangenheit erstarrt war, unentschlossen, wem es sich öffnen und wem es dienen sollte; die Stadt war ein kleiner Staat, sie sollte Sicherheit und Möglichkeiten gewähren. Und Gastlichkeit.
Früher die Deutschen und die Russen. Die Russen immer. Zuerst die armen und verlachten, auf ihre Weise aufgeblasen und unverschämt, danach die reichen mit den teuren Autos. Eine kurze Zeitlang die Amerikaner. Anfang der Neunzigerjahre. Die Deutschen auf dem Rückzug, unterwegs zur Vereinigung. Karlsbad blieb den Russen. Bloß, wozu waren die Russen gut, wenn sie nicht einmal mehr Geld mitbrachten?
Damals ist das anders gewesen. In das kleine Kurbad in Westböhmen schien die gesamte zerfallene Sowjetunion umgesiedelt zu sein, als ginge es um unsere provinzielle Variante von Monte Carlo oder Cannes. Die Postkartensilhouette, die Heilquellen, die russische Kirche mit den goldenen Kuppeln als Symbol derjenigen, die das Ganze hier aufkaufen, die Schmiergeld zahlen und nach der Wirtschaftsblockade alles gegen den Baum fahren würden.
Wir waren in einer Zwischenzeit. Genau das spielte sich gerade ab. Dass einst Johann Wolfgang von Goethe hier war, und zwar auf Grundlage aktueller Kurlisten, um sich mit bedeutenden Männern und schönen Frauen zu treffen, war vollkommen egal. Die Stadt hatte ihre Erste Republik durchlebt, ihre Drei Eier im Glas mit Vlasta Burian in seiner berühmten Dreifachrolle, dann den deutschen Exzess und anschließend den rot- tschechischen. Nicht dass sich die Slowaken, die nach 1948 hierher kamen, allzu sehr beschwert hätten. Die Tschechen wiederum fuhren ja zu ihnen, nach Turčianske Teplice, nach Starý Smokovec, nach Tatranská Lomnica. Juliáns Großmutter stammte aus dem ostslowakischen Prešov und war ins westböhmische Sokolov umgezogen. In die slowakischen Kurbäder reiste sie aller zwei Jahre, aber am glücklichsten war sie, wenn sie einen Kurscheck für Karlsbad bekam, das lediglich ein paar Kilometer von Sokolov entfernt lag. Eine eigenartige Freude. Das Kurhaus Sanssouci. Er war sie als kleiner Junge besuchen und ihm wollte nicht in den Kopf, warum die Großmutter diese drei Wochen nicht bei seinen Eltern gegenüber dem Thermal wohnte, sie hätte ihn jeden Tag mit hinauf ins Schwimmbad nehmen können. Wahrscheinlich brauchten auch Großmütter ihren Urlaub. So wie alle Städte und Kurbäder ihre Zeit hatten.
Karlsbad hatte sie. Es existierte nach wie vor, nach wie vor beherbergte es denjenigen, der kam, um das hiesige Wasser zu trinken oder darin zu baden. Den Glauben an die Genesung zu sich zu nehmen, in ihn hineinzutauchen, im heißen Sprudel an seine Gesundheit zu glauben. Zeit für sich zu haben dank des Mineralwassers, Träger kurzzeitigen Daseins.
Das Burian war nett, durchschnittlich und überteuert. Julián checkte ein, und weil es erst früher Abend war, machte er sich zu demjenigen auf den Weg, der ihn hierher eingeladen hatte. Nicht wegen des flüssigen Glaubens, sondern wegen der
unappetitlichen Morde. Er ging zu dem Gebäude, von dem er voraussetzte, dass er ihn dort finden würde. Es lag ein paar Schritte vom Thermal entfernt, in dessen Schatten er unter der Anschrift ulice I. P. Pavlova 36 so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte. Genau hierher war er einmal pro Woche in die Bibliothek gekommen. Und die Polizeizentrale lag nur einen Steinwurf entfernt, im Prinzip gegenüber der rückwärtigen Fassade. Allerdings sah er jetzt, dass alles anders war – hier residierte nur eine Stadtbezirks-Polizeidienststelle.
Er setzte seine Brille auf und suchte kurz etwas in einer App. Dann winkte er ein Taxi heran und ließ sich in die Vorstadt bringen, nach Dvory, wo es früher, als er ein Junge war, nur eine Kaserne gab, Werkstätten, Autoschrauber und Industriebrachen. Er stieg aus und betrachtete voller Verblüffung die neue, unbekannte Umgebung, wo ein Verwaltungszentrum aus dem Boden gewachsen war und die neue Regionalbibliothek, so viel Beton sah man auch nicht alle Tage. Er rauchte eine Zigarette und dann zur Sicherheit gleich noch eine.
Das Gebäude der Regionalpolizeiverwaltung war nicht völlig unzugänglich, obwohl es so tat. An der Pforte nannte er seinen Namen und legte seinen Personalausweis vor. Auf die Frage, ob ihn jemand erwarte, zuckte er mit den Achseln und nickte. „Ich will zu Weber“, sagte er. Der Pförtner telefonierte nach oben und dann nickte auch er. Julián ging durch den Metalldetektor, Gepäck hatte er nicht. Das Gitter öffnete sich, er wurde flüchtig durchsucht und passierte. Der Polizist wies ihn an, sein Handy auszuschalten. Dann noch ein Gitter und die Treppe. Es schüttelte ihn. Er würde gern nach draußen, ging aber unaufhaltsam weiter nach drinnen. Ihm war noch unwohler als damals, als er Morgen für Morgen das Gebäude des Gymnasiums betrat und betete, es möge schon Freitagnachmittag sein und zwei Tage schulfrei. Sonntags konnte er nachts aus lauter Panik vor dem Montag nicht schlafen. Vor dreißig Jahren. Eine scheußliche Zeit.
Scheußliche Jahre.
Ein anderer Wachmann brachte ihn zu einer Tür auf halber Länge des Flurs im Obergeschoss. Julián sagte, er müsse mal aufs Klo. Der Polizist zeigte auf eine Tür und bat ihn um sein Handy. Er werde es ihm anschließend zurückgeben. Julián
entgegnete, nun müsse er nicht mehr, und beobachtete amüsiert den Gesichtsausdruck des Mannes, wo geschrieben stand: Das sag ich dann meinem Chef – dass du dein Telefon wieder anschalten wolltest. Und mitschneiden.
Dann sag’s ihm doch, verkündete er dem Polizisten mit kaltem Blick, und dann betrachtete er das Schild an der Tür.
Stellvertretender Direktor der Regionaldirektion Kriminalpolizeilicher und Ermittlungsdienst Oberstlt. Mag. Michal Weber
Der Bulle klopfte an und wartete. Beide warteten sie. Die Tür ging auf, in ihr stand noch ein Bulle. Er gab ihnen ein Zeichen, einzutreten. Julián ging durch die Tür, nickte der Sekretärin zu und ließ sich durch ein kleines Büro in ein großes führen. Prima, dass sie noch auf Arbeit waren.
Er erblickte ihn. Nach wie vor sah er sich ähnlich, hatte sich gehalten mit Fitnessstudio oder Laufen, durch jugendliche Gene, ätherische Öle, Chemikalien, höchstwahrscheinlich alles zusammen, mit einem herausgewachsenen, zerstrubbelten Igelschnitt über der höher werdenden Stirn.
Weber zwängte sich hinter seinem Tisch hervor, groß wie schon immer, nein, jetzt noch wuchtiger und ausladender, also älter, aber immer noch der gleiche selbstbewusste, von Ohr zu Ohr reichende Mund mit den markanten Zähnen.
Lachende Sorglosigkeit. „Ich wusste, dass du kein Loser bist. Willkommen bei uns. Gib mir eine Minute.“ Ein amüsierter, erfolgreicher, mit sich selbst zufriedener Mann, der fünfzigste Geburtstag noch weit entfernt am Horizont. Er streckte die Hand aus, ein kurzes Händeschütteln, kein Fingerquetschen, nur ein dezenter Handschlag. Weißes Hemd, gelockerte schwarze Krawatte, Mütze und Sakko am Kleiderständer.
Parfümgeruch, von dem sich Julián der Magen zusammenkrampfte. Zu viel Moschus. Ein zweitklassiger Luxusduft, den Julián vor ungefähr zwanzig Jahren selbst benutzt hatte. Oder so einen Ähnlichen.
Weber wies auf einen Stuhl vor dem Eichentisch aus Plastik. Darauf drei geöffnete Notebooks, alle von derselben Marke, aber mit unterschiedlich großen Bildschirmen. In der Mitte neunzehn Zoll, zu beiden Seiten siebzehn und fünfzehn.
Er schaute lange dorthin. Vielleicht nicht mehr als zwei Minuten, aber lange. Als Julián gerade sagen wollte, Zeit nicht im Überfluss zu haben, hob der Polizist seinen Blick über den Bildschirm hinweg zu ihm. „Dein Name ist ziemlich beliebt. Ich meine den Vornamen. Damals hatten den zehn Kerle im ganzen Land, Säuglinge und Greise mit eingerechnet. Heute sind es zehnmal so viele. Die langfristige Investition hat sich bezahlt gemacht, Julián.“
„Das denke ich nicht.“
„Ich schon. Damals kam mir der Name lachhaft vor, heute wird er ähnlich oft vergeben wie Tadeáš, Tobiáš oder Ignác“, lachte Weber. „Wer hätte das gedacht. Genauso wie niemand gedacht hätte, dass ein Junge mit so erbärmlichen schulischen Leistungen wie du einmal Schriftsteller wird.“
„Vielleicht gerade deshalb, weil ich für nichts anderes Talent hatte“, erwiderte Julián.
„Ich hätte auch nicht erwartet, dass ein Junge mit so einem guten Zeugnis mal Bulle wird.“
„Ich habe Jura studiert. Und vorher eine Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann gemacht.“
„Ich weiß. Und dein Vater war Bulle, bei euch liegt das also in der Familie. Der hat mir einmal eine Strafe aufgebrummt, weil ich mit dem Fahrrad durch eine Kolonnade gefahren bin.“
„Mein Vater? Echt?“
„Er war’s. Er hat dir dermaßen ähnlich gesehen, dass ich ihn nach dir fragen musste.“
„Du nimmst es ihm aber nicht übel, oder? Er ist letztes Jahr gestorben.“
„Tut mir leid.“
Daraufhin herrschte Schweigen. Webers Blick glitt zu den Bildschirmen, es hatte ihn offenbar aus dem Konzept gebracht, dass sie im Gespräch bei seinem Vater gelandet waren, und dann klappte er das mittlere Notebook zu, damit sie sich ansehen konnten. Julián sah auf die Uhr. „Zu dem Brief …“
Er beendete den Satz nicht, Weber stoppte ihn mit erhobener Hand. „Ich weiß nichts von einem Brief.“ Die unerbittliche Miene warnte Julián, das Schreiben nicht noch einmal zu erwähnen. „Was weißt du alles über unsere Morde?“
„Nur, was ich in der Zeitung gelesen habe und was …“ Er hielt inne und Weber lächelte zufrieden. „Woher sollte ich auch mehr wissen?“
„Rekapitulier es mal für mich. Meinetwegen in Stichpunkten. Willst du einen Kaffee?“
„Nein. Und rekapitulieren werd ich auch nichts.“ Er versuchte sich zu beherrschen, aber langsam verlor er die Geduld. „Sag du’s mir, Michal. Hättest du die Freundlichkeit? Arbeite du. Du hast mich hergeholt, also gib dir ein bisschen Mühe.“
„Da verstehen wir uns falsch.“ Weber hörte nicht auf zu lächeln. „Du bist aus sentimentalen Gründen hergekommen, das ist schließlich deine Stadt. Und wo du schon mal hier bist, hast du eine Stippvisite bei einem Mitschüler gemacht.“
„Ach so.“ Einen Moment lang atmete Julián nur tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Er schlug ein Bein übers andere. „Also gut. Ich bin hier auf so einer sentimentalen Reise.“
„Genau. Bestimmt machst du auch einen Ausflug nach Marienbad, Franzensbad und Elbogen. Zum Jagdhaus Glatzen. Zum Soos und auf den Kammerbühl. Aber jetzt, wo
du mir einen Besuch abstattest, würde mich brennend interessieren, was du von unserem verflixten Fall weißt. Vielleicht sagst du mir was, das ich nicht weiß, das mir und meinen Jungs durch die Lappen gegangen ist …, Mr. Mystery-Krimi-Autor. Oder vielleicht hat dich die Neugier des Massenmörders angelockt. Du bist doch so ein kleiner tschechischer Hannibal Lecter.“
„Das hat irgend so ein Idiot vor zehn Jahren über mich geschrieben. Der Hannibal
Lecter der tschechischen Literatur.“ Als Julián das nach so langer Zeit wieder in Bezug auf sich hörte, wurde er stocksteif. Ihm fiel auf, wie sein Rücken schmerzte, wie es zwischen seinen Schulterblättern piekte, wie er auf einmal kaum noch den Kopf bewegen konnte. Er versuchte sich locker zu machen.
„Und irgendeine Anwärterin auf den Magistergrad in Literatur hat vor kurzem zusammengerechnet“, setzte Weber seinen Gedanken fort, „dass du in deinen Büchern bereits über fünfzig Menschen umgebracht hast, die Abschlussarbeit hängt im Netz, die hast du bestimmt gelesen. Darin steht unter Anderem, dass a) die literarische Qualität deiner Arbeiten schon immer sehr wechselhaft war und eine absteigende Tendenz zeigt, dass du b) kommerziell bist, allerdings nicht ordinär, und an Gymnasien und Hochschulen kein Lehrstoff sein solltest, und dass du c) unfähig bist, so kommerziell zu sein, dass du davon leben könntest. Immer musst du dich selber mit da reinpacken. Und ich füge noch hinzu: Wen interessiert das, Julián? Lern zu schreiben wie die Amerikanerinnen mit ihren Bestsellern, die dann innerhalb von zwei Jahren von Hollywood verfilmt werden. Und lass dich selbst außen vor. Du interessierst wirklich keinen.“
Julián nickte, er konnte nicht anders als zustimmen und brauchte eine Weile, ehe er diese Beschränktheit innerlich verarbeitet hatte. Dann sagt er: „Pikant, dass sie das in ihre Magisterarbeit geschrieben hat. Zu unserer Zeit wäre sie damit nicht durchgekommen.“
„Aber unsere Jugend ist im Arsch“, lachte Weber, „und das da ist eine angehende Kritikerin. Wie soll sie sich denn beweisen? Natürlich indem sie irgendeinen Fixstern abschlachtet. Je mehr Blut, desto größer kann sie werden. Besonders hat mir die Bemerkung gefallen, dass man alleine anhand dessen, was du schreibst, an deiner seelischen Gesundheit und deiner Beziehung zu Frauen zweifeln kann. Du, ich muss mich auch manchmal mit unglaublichem Scheiß abgeben, aber mich mit so was beschäftigen, das würde ich nicht.“
„Mit so einer Arbeit würde ich sie bei der Verteidigung hochkant rausschmeißen.“ Julián war sauer, dass ihm so etwas immer noch die Laune verderben konnte. In seinem Alter. Nach so vielen Büchern.
„Und bist du’s?“ Weber hob die Augenbrauen. „Normal? Diese ganzen Perversitäten, das Blut, auf Blitzableitern aufgespießte Frauen.“
„Meine Leichen stehen nur auf dem Papier.“
Das Telefon klingelte. „Ja bitte? Ich bin in einer Besprechung“, knurrte Weber in den Hörer. „Für heute bin ich außer Dienst, Matlach vertritt mich, teilen Sie ihm das mit.“ Er legte auf und hob den Blick zu seinem Gast.
„Einen Kurzen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür einer Vitrine in seinen Einbaumöbeln und stellte eine unetikettierte Literflasche mit einer klaren Flüssigkeit, zu drei Vierteln gefüllt, sowie zwei Gläschen auf den Tisch.
Sie stießen an und tranken. Sliwowitz.
Julián verschlug es für einen Moment die Sprache. Er räusperte sich. „Na leg los und halt mich nicht länger auf“, keuchte er. Damit wollte er zeigen, wer hier Oberwasser hatte, aber besonders erfolgreich war er dabei nicht.
Weber beobachtete ihn mit dem Glas vor der Nase gedankenversunken, als würde er abwägen, ob es Sinn hätte, den Konflikt weiter auszutragen, und dann sagte er mit einem Seufzer: „Ich erzähl’s dir mal, wenn du mir selbst nicht sagen willst, was du weißt. Meinetwegen. Also pass auf. Anfang März, die Kursaison war noch gar nicht richtig in Schwung gekommen, da ist es passiert. Stell dir das mondsüchtige Karlsbad vor, nirgends jemand unterwegs, höchstens ein paar Leute. Eine völlig andere Stadt als damals zu unserer Schulzeit.“
„Ich erinnere mich.“
„Die Russen haben dann ungefähr drei Viertel von Karlsbad aufgekauft. Anschließend die wirtschaftliche Trotzpolitik von Europa. Russland hat also die Krim und Karlsbad, aber weder dorthin noch hierher kommen die Leute noch so wie früher. Ein paar ja, aber von denen kann die Stadt nicht leben, es fehlt also nach wie vor an Geld.“
„Das weiß ich alles. Komm zum Punkt.“
„5. März, dieses Jahr. Oben am Schwimmbad, längst geschlossen. Seit sie das Wasser abgelassen haben, verfällt es noch mehr. Die zwei letzten Sicherheitskameras sind nach wie vor in Funktion, auf den überdachten Terrassen haben sich eine Zeitlang Junkies getroffen. Gott sei Dank, dass die dort waren, ansonsten gäb’s die Kameras bestimmt nicht mehr. Die Aufnahmen haben uns geholfen, uns ein Bild davon zu machen, was passiert ist.“ Weber tippte etwas auf einer Tastatur, drehte den Bildschirm zu Julián um und kam auf seine Seite herüber.
Julián rückte ein Stück zurück und setzte seine Brille auf. Weber klickte auf Play. Auf dem Bildschirm sah man die große offene Terrasse oberhalb des Beckens. Nirgendwo war jemand zu sehen. Das Sichtfeld war mittelbreit, laut den Angaben in einer Ecke acht Meter, die Tiefenschärfe war hoch, das Bild durch Gepixel etwas verschwommen. Das Datum, 5.57 Uhr und dann die laufenden Sekunden.
Jemand kam ins Bild. Ein Mann in einer schwarzen Hose und einer hellbraunen Winterjacke. Er fasste sich seitlich an den Hals. Seine Hand sah schmutzig aus,
schwarz, der Stoff seiner Jacke auch, als hätte ihn jemand mit einer dunklen Flüssigkeit begossen. Mit der anderen Hand umklammerte er ein Telefon und drehte sich unablässig nach rechts um. Er ließ sich schwer auf eine Bank fallen und sah sich im Sitzen seine besudelte Hand an. Er hob die Schulter und neigte den Kopf in diese Richtung, beide Hände zitterten. Die schmutzige wischte er an der Jacke ab und tippte etwas auf dem Handy. Er hob es ans Ohr, sprach, den Kopf immer noch zur Seite geneigt wie in einem Krampf.
Von der anderen Seite, als wo er hinschaute, kam eine Gestalt auf ihn zugerannt, kleiner als er und unzulänglich bekleidet. Eine Frau in einer weißen Bluse und einer grauen offenen Strickjacke, die enge Hose war aufgeknöpft, saß aber fest. An den Füßen keine Schuhe, nur bunt gemusterte Socken. Vor der unteren Gesichtshälfte hatte sie ein Tuch. Nein, kein Tuch, sondern schwarze Farbe, der selbe Farbton wie an der Bluse unterm Hals und auf der Brust.
Sie blieb bei dem Mann stehen, beobachtete ihn, er schrie etwas ins Telefon und dann bemerkte er sie. Er sprang von der Bank hoch, als hätte er einen Stromschlag bekommen, und stürzte davon. Man konnte nicht erkennen, wann und wie die Frau das hingekriegt hatte, aber auf einmal hing sie dem Mann auf dem Rücken. Er beugte sich hinunter, als wäre sie ein Sack Kartoffeln, den er von den Schultern abwerfen wollte, aber sie klammerte sich fest wie eine Zecke und es sah so aus, als ob sie ihm etwas ins Ohr sagte, auf der sauberen Seite seines Halses, die sich allerdings umgehend schwarz färbte. Er boxte ihr mit der Hand, die immer noch das Telefon umklammerte, ins Gesicht, mit der Faust direkt gegen die Nase, dass es ihren Kopf wegschleuderte. Trotz alledem wich sie kein bisschen zurück. Dann trug er sie aus dem Bild.
Julián und Weber schauten sich die ganze Szene durch das Auge der zweiten Kamera an, die das Geschehen etwas später als die erste eingefangen hatte, dafür aber länger. Aus diesem Blickwinkel sah man den Mann und die Frau von hinten. Er stürmte mit ihr auf eine Straßenlampe zu, dort drehte er sich mit dem Gesicht zur Kamera um und rannte mit voller Wucht rückwärts gegen die Laterne. Die erbebte sichtbar und die Frau fiel endlich herab. Sie blieb unter der Lampe liegen und atmete heftig. Man hatte durch den vibrierenden Brustkorb sogar den Eindruck, dass sie über etwas lachte. Der Mann, der vor ihr stand wie ein verwundeter Bär, fasste sich an die linke und dann an die rechte Halsseite und betrachtete anschließend seine Hand. Die war jetzt noch schwärzer. Die andere, in der er immer noch sein Telefon hielt, war mit schwarzen Flecken übersät.
„Die Farben kommen nicht besonders raus, das war schon in der Dämmerung“, merkte Weber an. „Verpixelte dunkle Schattierungen. Alte Kameras.“
Ist doch egal, dachte Julián. Ihm war klar, dass das Schwarz eigentlich Dunkelrot war.
Der Mann machte drei unsichere Schritte und fiel auf alle viere. Aus seinem Hals sprudelte es schwarz. Die Frau gab sich gar nicht erst die Mühe, aufzustehen. Sie hob die Arme über den Kopf und rollte sich zu ihm, wie wenn Kinder sich einen Hügel hinunterkullern lassen, und als er seinen Arm ausstreckte, um sie aufzuhalten, biss sie ihm mit ihrem schwarzen Mäulchen hinein. Indem er den Arm rasch zurückzog, zerrte er die Frau bis zu sich heran. Sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen, bis sie ineinander verschlungen waren wie ein Liebespaar. Dann richtete die Frau ruckartig ihren Oberkörper auf und saugte sich mit ihrem Gesicht an seiner Wange fest. Der grauenvolle Kuss dauerte zehn Sekunden, der Mann riss ihr die Haare büschelweise aus, bis sie kaum noch welche auf dem Kopf hatte, und verpasste ihr anschließend einen Hieb zwischen die Schulterblätter, aber das half nichts. Schließlich stellte er sich kraftlos auf die Füße und rannte mit ihr davon, sie wehte ihm hinterher wie ein Rüssel, aber um nichts in der Welt ließ sie ihn los. Beide verschwanden aus dem Bild.
„Ekelhaft“, nuschelte Julián. Fast hätte es ihm den Magen umgedreht. „Kann ich eine rauchen?“
„Weil du’s bist. Jetzt spiel ich dir’s noch mal aus halber Entfernung vor. Das ist noch verschwommener, aber du kannst ziemlich deutlich erkennen, dass sie ihm zuerst den Hals zerkaut und sich dann in seinem Gesicht verbeißt wie dieser UFO-Alien aus dem Film.“
Julián stand es durch. Von Zigaretten, vor allem von denen am Vormittag, wurde ihm meist übel, aber diese jetzt war regelrecht therapeutisch.
Übersetzung aus dem Tschechischen Mirko Kraetsch