Václav Vokolek

Der Dominoeffekt

2018 | Argo

Abmarsch dorthin

August 2016

Sie saßen bei den erhitzten Betonplatten, auf denen einst eine unendliche Anzahl von militärischen Transportwagen und Panzern gestanden hatte. Einen Steinwurf vom ehemaligen Flughafen entfernt. Am Rande des Betonfeldes erstreckte sich das militärische Lager mit der Feldküche, die Männer und Frauen in Uniform aßen gerade aus Aluminiumschüsseln zu Mittag. Der Duft von gewürztem Essen, Kraut höchstwahrscheinlich, waberte am Boden entlang und trug sich in die Höhe.

„Jungs“, rief eine Frau, deren Schönheit bereits zu verwelken begann und die in einer engen Uniform unbekannter Herkunft steckte. Den Gürtel zierte eine perfekt polierte Schnalle mit einem Doppeladler. „Wollt ihr auch was?“

„Danke, Renča“, rief Rex. „Heute nicht.“

„Die hat sich gut gehalten“, sagte Lalin von Lepprowitz nachdenklich. Uns allen war klar, dass er bestens Bescheid wusste. „Arbeitet als Kindergärtnerin, und seht sie euch an…“ Renča drehte sich um, beugte sich ein wenig vor und klatsche sich mit der Hand auf den Po. „Die würde nicht mal in Aleppo verloren gehen!“

Das war ein großes Lob und Lalin hat es nicht nur so von sich gegeben. Er war vor einer Woche aus Aleppo zurückgekehrt und hatte aufgeregt berichtet. Nun wollte er seine Erzählung fortsetzen, aber Knapp unterbrach ihn:

„Ich bin das erste Mal hier.“ Allen war klar, dass er log. „Was kriegt man hier geboten?“

„Viel, wirklich viel“, ergriff Rex das Wort. „Es ist krass, echt krass. Auf einer Fläche von fast zweihundert Hektar kann jeder ein Militärfahrzeug ausprobieren, einen herrlichen Hummer zum Beispiel, man kann hier auch Geländespiele wie Paintball, Airsoft oder Laserhot probieren, was fürs Adrenalin.“ Es war so, als würde er aus einem Werbeflyer vorlesen. „Es gibt zweiundvierzig Offroad-Pisten mit Hinterland, im Areal gibt’s drei große asphaltierte Flächen und zwei Hallen. Adrenalin pur, ich sag’s dir, Knapp. Voll geil.“

„Wer kommt denn alles hierher?“

„Die Jungen, hauptsächlich“, antwortete der junge Glatzkopf aus der Arbeitsgruppe Cozy Bear. Es war bekannt, dass er ein ausgezeichneter Hacker war, der mit einer internationalen Gruppe von Trolls zusammenarbeitete.

„Das ist erfreulich. Die junge Generation! Super! Die Jungs setzen sich in den Panzer oder ins gepanzerte Kampffahrzeug und haben das irre Gefühl, sie könnten sich alles erlauben. Alles megacool! Und die Mädels, die sind auch nicht von schlechten Eltern, die reizt wiederum das Spiel, einen VT-55A Bergepanzer zu fahren. Riesig! Die fahren im ausgebauten Truppenübungsplatz, brettern easy über unzähligen Hügel, Schlamm, aber am meisten taugt ihnen die Größe dieser Geräte. Die Mädels stehen doch auf große Geräte.“

Er stieß einen dreckigen Lacher aus und entblößte ein nagetierähnliches Gebiss mit wenig Zähnen.

„Am verlockendsten sind die Paintball- und Softair-Areale. Es gibt auch eine perfekte Laser und Schrotschießanlage. Hier kannst du deine Grenzen austesten, dich aber auch besser kennenlernen. Dann bereit du bereit, wenn was abgehen sollte. Die Trolls arbeiten leise, verkriechen sich irgendwo und sind unsichtbar, aber trotzdem komme ich gern hierher zum Ballern.“

Zur Gruppe am Klapptisch gesellte sich ein strammer Typ mit Bart und ausgeblichener Army-Hose. der unter dem Decknamen „Mezger“ bekannt war. Er küpfte an die letzten Sätze an:

Die Fahrt im Panzer ist nach einer Weile stinklangweilige Routine, was für Amateure, aber einen gepanzerten Transporter fahren, das ist schon ein anderes Kaliber. Nix für Schisser. Da gibt es nur dich und das Gelände. Du musst es schaffen! Dir das Gelände unterwerfen.“

Er drehte sich zu Knapp um, den er nicht kannte und für irgendeinen Apparatschik hielt.

„Zuerst leitet dich der Trainer an, danach bist du Herr über dein Fahrzeug. Herr ist das richtige Wort. Du musst dir das Mistvieh untertan machen. Wenn du es schaffst, dann hast du begriffen, wer du bist!“

Knapp hörte aufmerksam zu und beobachtete jeden Muskel, jede Bewegung im Gesicht des Erzählers. Es erinnerte ihn an alte Zeiten, die man als vergangen betrachten könnte, aber so war es nicht!

„Am spannendsten sind hier die Ausbildungskurse vom AVSE Security System“, sagte Lalin belehrend. Der Metzger verstummte gehorsam, er wusste wohl warum. „Die organisiert man für die, die bereit sind, gegen alle Scheißer zu kämpfen. Sie liefern einen Beweis der Stärke gegen die Schwäche. Deine Stärke, mein Freund. In diesen Kursen machst du dir deine Stärke, deine nichtexistenzielle Stärke, die aus deinem konzentrierten Geist strömt, bewusst. Sobald du dir deiner Stärke bewusst wirst, dienst du dem König!“

„Was sind das für Kurse?“ Knapp stellte sich dumm. Das war das Wasser auf Lalins Mühlen. Nun konnte ihn nichts stoppen.

„Da wird eine moderne Kampfkunst unterrichtet, Yong Tjun, und auch der Kampf mit dem Eisspalter, dem Skyrim. Das ist endgeil, Knapp!“

Lalin breitete begeistert die Arme aus, so als ob er alle umarmen wollen würde. Es war eine sorgfältig eingeübte Geste, eine, die den Fechtwettkampf einläutet. Ein Lächeln fehlte noch. Oder eher ein Zähnezeigen.

„Das Security System ist ein geniales Ding. Es wurde nicht nur für Poser entwickelt, sondern auch für Leute ohne Vorkenntnissen in Sachen Kampfkunst. Es ist so gedacht, dass ein Mensch, der nie zuvor trainiert hat, in allerkürzester Zeit zur maximalen Selbstverteidigung in der Lage ist. Das ist in der heutigen Welt das allerwichtigste. Sofort angreifen zu können und jeden Scheißtyp sofort plattzumachen.“

„Das sollte man schon in der Schule durchnehmen, Jungs, die kleinen Pisser wären bestimmt total scharf drauf“, ereiferte sich Rex.

Es war bekannt, dass er aus einer Lehrerfamilie stammte. Sein Vater, ein Sportlehrer, war noch ein beflissener Aktivist im Bund für Zusammenarbeit mit der Armee. Alles über seine Untergeordneten zu wissen gehörte zu Knapps Pflichten, aber auch Vorlieben. Dass er überdies mehr über die anderen wusste, sogar mehr noch, als sie selbst über sich, erhob Knapp in dienstliche Sphären, von denen viele nur träumten.

„Das Trainingssystem entwickelte sich ursprünglich aus dem Modell EWTO unter der Bezeichnung Wing Tsun“, fuhr Lalin unbeirrt fort, „man benutzte auch das Leung Ting System, im Laufe der Zeit aber neigte der Unterrichtsstil mehr zur europäischen Auffassung, zum Heinrich Pfaff Stil. Das germanische Blut war einfach stärker“, konstatierte stolz der Mann, der sich Lalin von Lepprowitz nannte. Er wusste, wovon er sprach, hatte er doch schon zweimal an einem regelmäßigen Seminar bei Lee Yen Tim und dem Meister der Escrime-Kunst auf den Phillipinen und in Indonesien teilgenommen. Er liebte Kampfkunst. Den Kampf für den König, gegen die Widersacher, Verräter und Feinde, egal wen. Er konnte sich gegen jeden behaupten, auch gegen die Übermacht, aber gegen sich selbst? Knapp hatte seine Zweifel, auch wenn er Lalins Kampfgeist zu schätzen wusste.

„Es ist ganz ok hier“, mischte sich der Metzger wieder ins Gespräch. Sein Bart, der ihm bis zur halben Brust ging, wellte sich wie ein Wasserfall. Der untere Teil seines Schnurrbartes war gelb vom Nikotin.

„Unser Team vor allem, ganz toll. Wir verstehen uns gut, warten nur auf den Befehl. Die Jungs sind ein bisschen ungeduldig, ich muss sie nur ein wenig in Schach halten. Bis jetzt zoffen sie sich unter einander, aber wenn es soweit ist, wird es super. Du weißt doch, wann es soweit ist, Knapp, oder?“

„Ne, weiß ich nicht“, gab Knapp zu. Er könnte was auch immer sagen, denn es ist nicht ganz klar, wer hier verantwortlich ist, um seine ganzen Ansagen zu melden.

Der Metzger zündete sich ein dünne Zigarre an, er wollte mit seinen Überlegungen fortfahren, doch Knapp stand vom quietschenden Klappstuhl auf und sagte:

„Es ist schön hier, aber ich muss weiter, Rex. Fährst du mit uns?“

Rex erhob sich, auch wenn er keine große Lust hatte. Er würde sicher wiederkommen, hauptsächlich wegen Renča. Sie gefiel ihm immer mehr. Aber mit so einem Machtbolzen mitzugehen, so eine Gelegenheit bot sich nicht jeden Tag.

„Klar fahr ich mit!“

Der Metzger bewegte ganz leicht seinen Kopf als Zeichen des Einverständnisses, dass Knapp nicht ihn mitnahm, und paffte kräftig an der Zigarre:

„Na dann kommt mal wieder vorbei. Wir sind jedes Wochenende hier.“

„Sicher. Wir müssen jetzt zum alten Bryx, dem geht es nicht so besonders“, erklärte Knapp.

„Grüßt ihn von mir“, brachte sich Lalin von Lepprowitz wieder ins Spiel. „Vor kurzem hab ich seine alten Schriften durchgeblättert, das war vielleicht ein Teufelskerl! So wie der den russischen Professor erledigt hat, das hat uns näher zusammengebracht.“

„Machen wir“, reagierte Knapp.

„Der Lalin tut sich vielleicht hervor“, sagte Rex, als sie ins Auto stiegen. „Er hat sich gemausert. In Aleppo hat er angeblich gute Arbeit geleistet.“

„Der wird’s weit bringen“, bestätigte Knapp. „Der tschechische Talkessel wird ihm bald zu klein werden.“

„Oder jemand knallt ihn schön von hinten ab.“

„Auch das ist möglich“, lachte Knapp.

Da soll sich ja der Teufel bei dem Typen auskennen! Rex startete lieber den Motor.

„Wie war das denn eigentlich mit dem Professor? Ständig treffe ich darauf und dabei ist es eine alte Geschichte.“

„Keine Geschichte ist so alt, dass wir sie untereinander vergessen“, belehrte ihn Knappp.

„Mit Professor Sobolev fing Bryx Anfang der siebziger Jahre an sich zu befassen. Es war die Zeit der großen Karrieren, auch bei uns. Ein Goldenes Zeitalter für die Jugend. Bryx hatte schon eine Schulung in Moskau hinter sich und der junge Leutnant brauchte einen ordentlichen Fall. Damals griffen wir hart durch, auch in den eigenen Reihen. Die russische Armee war hier, und über sie entwickelte sich die Kooperation mit Moskau. Wir hatten gemeinsame Aufgaben, so wie jetzt auch. Břéťa wollte sich besonders hervortun. Zeigen, was er konnte. Damals hatten wir eine heiße Spur. Jemand versuchte unter die russischen Soldaten zu gelangen, man redete vom Verbreiten feindlicher Literatur. Das war eine ernste Sache. Und Bryx biss sich dran fest.“

„Wie war sowas möglich?“, unterbrach ihn Rex. „Wie konnte man an die Soldaten rankommen? Ich hab gehört, dass die nicht unter unsere Leute durften.“

„Es ist immer alles möglich.“

Der schwarze Audi Q5 durchkämmte die kleinen Bezirksstraßen, die von niedrigen Häusern gesäumt wurden, und Felder, die mit Solarzellen ausgestattet waren. Die Bewohner tranken Flaschenbier vor kleinen vietnamesischen Läden und beobachteten gehässig das Auto mit feindseligen Blicken:

„Schon wieder so Pisser. Wo wollen die hin?“

„Sie verpissen sich, was sonst…“

Diese Worte drangen nicht in den klimatisierten Bereich des Wagens ein. Darum konnte die Debatte ungestört weiterlaufen.

„Damals traf Bryx auf Sobolev. Wer war der Mann? Obwohl er schon ungefähr achzig Jahre alt war, unterrichtete er noch Russisch in ner Lehranstalt. Angeblich konnte er das gut. Er wurde in Rjasan geboren, in Russland, das weiß ich bis heute. Bryx fand heraus, dass sein Opa in den achziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bei uns gewesen ist. Es war nicht klar, warum. Er ließ sich in Téčno 1v Téčnu??? nieder und wurde von einigen Organen beobachtet. Erst als die russische Seite half, also genauer gesagt ein Freund von Bryx aus Moskau, Igor Bezmelnikov, mit dem er jetzt die Firma RESO besitzt. Der hat irgendwo rausgekriegt, dass Ivan Vasiljevič Sobolev eine bedeutende Persönlichkeit des russischen Anarchismus war. Als er nach Böhmen geflohen war, erließen einige Länder Haftbefehl gegen ihn. Die zaristische Polizei bot für sein Ergreifen eine beachtliche Summe aus. Das waren interessante Neuigkeiten. Österreich gab ihn nicht heraus, hatte ihn aber vollständig unter Kontrolle. Bryx bekam seinen Enkel in die Hände. Hat der alte Mann so viel Mut gehabt, dass er mit irgendwelchen dummen Büchern die Bereitschaft für den dritten Weltkrieg stören würde?“

„Und was war mit dem KGB?“, fragte Rex.

„Die haben uns um eine schnelle Aufklärung gebeten, natürlich auf dem inoffiziellen Weg. Bryx ging drauf ein. Bei der heimlichen Hausdurchsuchung – den Herrn Professor haben wir auf eine komplizierte Gesundheitsuntersuchung geschickt – haben wir eine umfassende anarchistische Bibliothek entdeckt. Mit hunderten von Büchern vollgestopfte Regale. Das war ein toller Fang. Das schwierige daran war, dass die nicht aktuell waren. Die meisten von ihnen waren am Ende des neunzehnten Jahrhunderts herausgekommen. Ein ausgezeichneter Fang war eine Kiste voller gefälschter russischer Pässe. Leider waren auch die schon längst abgelaufen.

Aus den Dokumenten ging hervor, dass der Vater des Russischlehrers auch ein schönes Früchtchen war. Noch vor der Revolution wurde er Mitglied des Anarchistischen Schwarzen Kreuzes. Bryx fand heraus, dass sein Objekt als junger Mann in Russland an die Weißen geriet und später mit der Familie, also mit Frau und Sohn emigrierte. In die Tschechoslowakei, wohin denn sonst. Hier erlebte er die Befreiung durch die Armee, von der er davonlief. Kleine Geschichtskunde, nicht wahr?“

Rex war schon ganz durcheinander im Kopf. Er wusste, wenn der Chef zum Erzählen anfing, nahm es kein Ende.

„Dann hat Bryx den Enkel des berühmten Anarchisten von Grund auf erledigt. Er hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, sogar seine Wohnung wurde abgehört, aber es passierte nichts. Der alte Mann führte ein beispielhaft langweiliges Leben, nur sein Nugatverbrauch war einigermaßen exzeptionell. Man konnte ihm nichts anhaben. Das war natürlich höchst verdächtig. Alle Nasen lang war er beim Verhör und verstand überhaupt nicht, warum. Eines Tages gestand er, dass er einem Soldaten, der im Jeep auf sein Offiziersfräulein wartete, ein Buch von Bakunin gegeben hatte. Bis heute erinnere ich mich daran, dass es Gott und Staat gehießen hat. Bryx brauchte den Namen dieses Soldaten, das wäre für den russischen Spähtrupp wichtig gewesen, das ganze Netz enthüllen. Doch der Herr Professor konnte sich nicht erinnern. Bryx war außer sich vor Wut. Er hielt Sobolev achtundvierzig Stunden fest, gab ihm weder Medikamente, noch etwas zu trinken. Alle Augenblicke ließ er ihn zu sich rufen. Er schrie ihn an, aber der Alte sagte kein Wort mehr. Dann die nächste Achtundvierzig-Stunden-Schicht und die Zunge des Professors lockerte sich allmählich. Die Namen und Adresse sprudelten aus ihm heraus. Er brachte alles durcheinander, die Zeit hüpfte über ganze Dekaden. Ob er phanasierte oder sich die Dinge ausdachte, damit er seine Ruhe hatte, weiß ich nicht. Na und dann war Schluss, kein Ton mehr. Das gab dann doch Ärger. Alles Material übernahm der KGB. Niemand weiß, wie es dann weiter ging. Bryx wurde befördert und bekam einen Orden von den Russen.“

„Bryx war halt ein Prachtkerl, er hatte Drive“, fügte Rex hinzu und nahm eine scharfe Kurve auf der staubigen Straße. „Ich kenne ihn nur noch als Unternehmer. Die Jungs haben mir erzählt, er hätte gleich zu Beginn der neunziger Jahre mit Operatoren aus Russland und Kuba zehn Firmen gegründet. Es ging ihm bestens. Nur Kohle interessierte ihn, weiter nichts. An unsere gemeinsame Arbeit erinnerte er sich angeblich nicht gerne. Warum?“

„Du ahnst nicht, was das für eine Beleidigung war. Nachdem er sein ganzes Leben gearbeitet hat, musste er zu Hause am Telefon sitzen, zur Arbeit durfte er nicht. Gleich Anfang Januar neunzehnhundertneunzig, ein paar Tage nach dieser Samtenen Farce, wurde er als Funktionär im Zuge der Realisierung der Sicherheitspolitik der Regierung abberufen und kurz darauf aus seinem Dienstverhältnis aus familiären Gründen entlassen. Wie viele von uns mussten das lesen! So haben sie uns abserviert!“

„Was für eine Sauerei, ganz schön heavy, nicht?“ gab Rex von sich.

„Und jetzt sind seine beiden Söhne umgekommen. Dieser Stamm hatte gottverdammtnochmal etwas zu bedeuten! Schon Břéťas Vater trat nach achtundvierzig zum Inneren bei, wie auch seine zwei Söhne, Hendrix und Lovec. Das ist ein Verlust für uns alle und Bryx ist daran zerbrochen.“

Endlich hielten sie vor einer Luxusvilla mit Garten. Alles hier zeugte von Geld und schlechtem Geschmack. Sie klingelten. Zunächst kam ein großer Schäferhund angelaufen. Er fletschte die Zähne und bellte. Dann tauchte Bryx auf. Der Hund drückte sich gehorsam an sein Bein und verstummte.

Das musste mal ein stattlicher Typ gewesen sein, dachte Rex. Stiernacken, vorgewölbter Brustkorb und darunter eine sich vorwölbene Bauchkugel. Kam wahrscheinlich vom Bier. Ein krummer Rücken. An den Händen hervortretende Adern, die Arme von grauem Fell überzogen. Verwaschene Army-Hosen und rotes Schlabber-T-Shirt. Grob geschnittenes Gesicht, keine Feinarbeit. Zwischen tiefen Furchen ein Mund mit schmalen Lippen, deren Enden nach unten zeigten. Von den Augen blieben nur enge Schlitze, die sich zwischen den aufgefächerten Falten verloren. Er sah sie an und dann doch nicht. Er zielte.

„Was wollt ihr hier, Jungs?“

„Wir sind zufällig hier vorbeigefahren und dachten, wir schauen mal vorbei“, erklärte Knapp. Seine Aussage machte auf Bryx keinerlei Eindruck.

„Dann kommt mal rein“, sagte er mit müder Stimme. Es war klar, dass er sich nicht über Besuch freute.

Sie setzten sich an einen Tisch, der vor einer stilisierten Sauna aufgebaut war.

Bryx ging hinein und kehrte mit einer Flasche Vodka zurück.

„Echter“, sagte er. Das bedeutete, dass es ein guter war. Sie stießen an.

„Das mit deinem Jungen tut uns leid“, fing Knapp an. „Wer Lovec umgebracht hat, das kriegen wir raus, das versprechen wir. Wir kriegen ihn. Er hat keine Chance.“ Allerdings war er sich da nicht so sicher. Es gab keine einzige Spur, aber ein unglücklicher Zufall war es sicher nicht. Nur in den Schriftstücken…

„Das hilft ihm jetzt auch nicht“, winkte Bryx ab. All seine Abneigung dem Schicksal gegenüber sammelte sich in dieser Geste.

„Dieser Psycho, der Hendrix auf dem Gewissen hatte, bekommt die Höchststrafe“, mischte sich Rex in die Debatte ein.

„Ich hab mit dem Richter gesprochen, er ist einverstanden. Šec hieß der, oder so ähnlich. Stell dir vor, die Jungs haben rausgekriegt, dass du mal seinen Alten am Wickel hattest. Das ist ein Ding, was? Wie in irgendeinem Roman.“

Bryx hob leicht die Augenbrauen. Er lebte auf.

„Rache also? Dann wär ja alles klar, Jungs.“

„Das eher nicht“, ruderte Knapp zurück. „Nach dem Verhör war klar, dass der Penner keine Ahnung hatte. Keinen blassen Schimmer. Er wusste nicht mal, wie Hendrix hieß, wusste nichts von seinem Vater. Ein ekliger Zufall, Bryx, nicht mehr. Seine Bude war im Arsch, überall Blut und ein kaputtes Bild…“

„Halt die Klappe“, unterbrach ihn Bryx. „Lassen wir das. Es ist vorbei. Dienst halt.“ Er wandte sich wieder an Knapp: „In letzter Zeit ist mir irgendwie schlecht. Was kann das sein? Mir ist schwindelig und ich fühl mich schwach auf den Beinen. Das kann doch nicht das Ende sein, oder?“

Sein einstiger Untergebener war entsetzt. So kannte er Bryx gar nicht! „Das wird nichts Schlimmes sein, Oberleutnant. Es war nur alles ein bisschen viel für Sie.“ Bryx atmete ein und es war klar, dass auch das ihm Schmerzen verursachte. „Na dann auf ein anderes Mal, Jungs, wenn‘s besser geht.“

Sie erhoben sich. Das war nicht gerade toll gelaufen.

„Freundschaft dann“, sagte er unerwartet am Gartentor. „Und bemüht euch.“

Der uralte Gruß beeindruckte Knapp. Bryx war lange sein Vorbild gewesen. Und heute sollte er ihn bemitleiden? Ganz sicher nicht!

„Freundschaft!“, hörte er sich laut sagen, allem zum Trotz.

„Ciao“, presste Rex durch die Zähne.

Der schwarze Audi Q5 fuhr los und nahm rasch hohe Geschwindigkeit auf. Bryx wollte das Tor abschließen, verspürte aber einen bedrohlichen Schmerz in der Brust. Er öffnete die Hand und wollte sein Herz fassen. Es war nicht dort. Stattdessen öffnete sich der Brustkorb und in der Mitte klaffte ein riesiges Loch. Er fiel hinein. Er hatte das Gefühl, mit seinen Fingerspitzen einen verrußten, schwarzen Felsen zu berühren. Fällt er also durch einen Tunnel? Wohin führt er? Von wo? Dieser widerwärtige Raum ist doch in ihm drinnen, stellte er ganz eindeutig fest. Muss ich dorthin, verdammte Scheiße?

„Du musst“, hörte er eine dröhnende Stimme.

Der Fall wurde immer schneller, aber der fallende Körper entfernte sich nicht von der Stimme. Sie umschloss und verschlang alles, sie war so nah, dass Bryx jedes Schmatzen erkannte, jedes Zähneknirschen, jedes Einatmen. Ist der steinerne Abgrund der Raum der Stimme?

Einen Augenblick nahm er ihn durch sein inneres Auge wahr. Es war ein Ungeheuer. Seine Gestalt hatte hunderte von Formen, sie erstreckte sich durch viele Dimensionen. Die Gestalt des Ungeheuers änderte sich also ständig, sie besaß tausende von Augen, Gesichtern, Mündern. Das, was für eine Sekunde ein Mund war, wandelte sich in einen scheußlichen Anus, im vorgestülpten Bauchnabel erschien ein trübes Auge, ein Speichel tropfendes Maul voller Zähne wurde zu einem buschigen Schwanz. Den Augenblick der Erleuchtung verschlang die Dunkelheit und der Fall fühlte sich immer schneller an.

„Jeder muss mal zurück“, donnerte die Stimme, „und du ganz besonders. An dir ist mir besonders gelegen. Deinen Urahn habe ich aus Erde, trockenem Schilfgras und Eseldung zusammengebaut. Ein lustiges Männchen, dem ich durch das Feuer Leben eingehaucht hatte, Lilith musste lachen, als sie ihn sah. Sie hat erkannt, dass sie endlich ein Spielzeug bekommen hat, mit dem ihr nicht so schnell langweilig werden würde.“

Das, was einmal Oberleutnant Bryx gewesen ist, verstand nicht. Alles Rationelle hatte ihn gleich in den ersten Sekunden des Falles verlassen.

„Mich hast du allerdings gleich von Anfang an gelangweilt. Du warst da und ich konnte mein Werk nicht bedauern. Denn auch ich bin da. Nicht mehr, nicht weniger, Bryx. Wir haben mehr gemeinsam, als wir beide denken. Deine Vorfahren dachten voller Stolz, sie seien die Söhne des Asmodäus, aber du? Du bist nur ein armer Bastard ohne wirklichen Vater. Wer irgendwo den Samen in deine Mutter gelegt hatte, ist nicht wichtig, wichtig ist nur das, dass du ein unscheinbares Teilchen eines großen Plans bist. Dein Wille hat darin nicht die mindeste Rolle gespielt.“

Dem Sterbenden, oder bereits dem Toten war gar nicht klar, wo er sich befand und in welcher Gestalt, er nahm die Stimme nicht wahr, begriff nichts, aber er erinnerte sich an jedes einzelne Wort.

„Dein Sein fällt in den Abgrund, du verschwindest, dein Name wird vergessen werden, verfliegt wie Wasserdampf, vielleicht wie auch das letzte Ausatmen. Es wird nichts von dir übrig bleiben. Nichts von deinen Opfern bleibt übrig. Nichts. Ich weiß, du kapierst nichts davon, was ich zu dir sage, aber es muss mal gesagt werden. Auf ein Tausendstel Äonen mussten wir uns treffen, nur für diese paar Worte. Schon bald wirst du erkennen, wofür das alles gut war.“

Ein Lachen fuhr durch die Dunkelheit. Donnerte. Durchdrang das gesamte Wesen. Wurde zum Wesen selbst.

Endlich kam er an. Offensichtlich am Grund. Mitten in einem von Helligkeit erleuchteten Garten. Die hohen Bäume mit breiten Blättern warfen einen angenehmen Schatten auf den Boden, überall waren duftenden Blumen verteilt, die Vögel sangen lieblich und labten sich am Tau aus weißen Blütenkelchen. Aus einem kleinen Felsen, der von betörend duftenden Veilchen bewachsen war, sprudelten vier Quellen. Genau hierher stürzte Byxens Körper, oder was auch immer das sein sollte. Er spürte keinen Aufprall. Er nahm ihn nicht wahr. Und doch sah er, wie sich eine wunderschöne nackte Frau über ihn beugte. Er konnte nicht ahnen, dass sie Lilith hieß. Es war kein Deckname, auch kein Ruf- oder Phantasiename, es war eigentlich kein Name, sondern ein Begriff.

Sie war über alle Maßen schön. Auf dem Rücken trug sie häutige Flügel, die in allen Farben leuchteten, die Hände voller Ringe und statt Füße hatte sie Vogelkrallen. Den spitzen Busen zierten rotgefärbte Zacken. Die Haare waren lang und hatten die Farbe von Ruß, die Lippen blau. Bryx interessierte sich nie für Schönheit, er hasste sie, verschmähte sie, aber nun war alles jenseits seines Urteils. Nun war er sehend! Es war ein komischer Zustand.

Doch das, was von ihm auf dem Grund übrig geblieben war, war jämmerlich. Ein Haufen Schlamm, Eseldung, verfaultes Schilfgras, Stücke von Draht, die alles einmal zusammengehalten hatten, und zwei Sück buntes Glas. Das waren Ihre Augen, Herr Oberleutnant Bryx…

Lilith beugte sich über das kaputte Spielzeug und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das hätte nicht passieren dürfen! Wir sie jetzt wieder alleine sein?

„Vater“, schluchzte sie.

Er beugte sich über sie aus den unendlichen Höhen. Er konnte nicht anders. Er knetete den Matsch, der mit Liliths Tränen besprenkelt war zusammen mit dem Eseldung, gab das Schilfgras dazu, machte die Drähte fest. Er steckte die Glasstücke an die Stelle, wo Platz für Augen war. Auf den Kopf setzte er ihm eine Papiermütze.

„Schön“, freute sich Lilith. „Wie soll er denn heißen?“

„Bryx,“ hörte man wieder aus den unendlichen Höhen. „Bryx…“

 

Aus dem Tschechischen von Hana Hadas

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1. v Téčnu???