Alexej Sevruk

Europäerin

2023 | Argo

Baba Dusja hat es im Leben auch nicht leicht gehabt. Sie hat Friseuse gelernt und dann in Radomyšl angefangen. Geheiratet hat sie einen gewissen Bratkowski, einen von unseren Polen hier, auch wenn sein Nachname das Einzige war, was an dem noch polnisch war. Die beiden hatten zwei Töchter miteinander und alles lief gut, bis ihn jemand abstach, mit dem Masser. In der Nacht, mitten im Stadtzentrum, am Markt, da, wo jetzt die Welt des Kindes ist, mit dem ausgestopften Wolf im Schaufenster, der dir immer so gefallen hat, als du noch klein warst, und der Schaufensterpuppe, der sie Rotkäppchen-Kleider angezogen haben, da war früher eine kleine Gasse, auf der einen Seite eine Schänke, auf der anderen dann irgendwelche Lagerhallen für Lebensmittel. Er muss in irgendetwas reingeraten sein, irgendein Unrecht. Vielleicht in eine Prügelei im Wirtshaus, oder jemand hat versucht das Lager auszuräumen. Der Mörder wurde nie gefunden und wir haben nie erfahren, was damals eigentlich geschehen ist.
Dusja verkaufte ihre Bauernkate, zog mit ihren Mädchen für eine Weile wieder bei uns ein und ging dann nach Kiew, für immer. Als die geschickte Friseuse, die sie war, fand sie dort eine gute Stelle, zog ihre beiden Töchter allein auf und ließ ihnen eine anständige Ausbildung zukommen. Tomka, die jüngere, trat später in die Fußstapfen ihrer Mutter, und Ljudka, die ältere, studierte sogar an der Hochschule.

*

Du hast mich gefragt, ob Kriminalität normal war. Ich sag mal so: Geklaut und gemordet wurde immer, mal mehr, mal weniger. Das geht schon so seit Adam und Evas Zeiten, seit die auf Zuraten des Feindes aller Menschen die Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse gepflückt haben. Und es wird so weitergehen bis ans Ende der Welt. Auch jetzt würde ich keinem raten seine Sachen aus den Augen zu lassen, ständig treiben sich hier irgendwelche Typen rum, die im Gefängnis waren, Drogensüchtige, Alkoholiker, ehrloses Pack, und halten Ausschau, ob denn irgendwo irgendwas nicht an seinem Platz liegt, um es dann gegen selbstgebrannten Schnaps und Drogen einzutauschen. Und wenn denen dann jemand in die Quere kommt, dann werden die nicht zögern demjenigen eins aufs Maul zu geben. Es gab Zeiten, da habe ich alles abgeschlossen, alle Ställe, den saraj, die Scheune, die Kammer, den Außenkeller und die Sommerküche, und dann bin ich zum Gartentor und habe es zugebunden, mit einem Strick. Wenn jemand sehr gewollt hätte, hätte er das schon aufgeschnitten, aber einen Suffkopf, der zufällig daherkommt, hätte es wohl abgeschreckt. Da lebte ich dann schon alleine, ohne deinen Großvater. Ich gehe immer am Gartentor vorbei und den Zaun entlang und sage besondere Gebete auf, Neben mein Hofe, sieh, steht Berg Sinai …, Die helle Sonne leuchtete am Morgen … und noch ein paar, ich sage die hier jetzt nicht für dich auf, man soll sie nicht einfach so auf Teufel komm raus dahersagen, aber wenn du willst, kannst du es dir anhören, wenn ich dann bete.
Hin und wieder geschah auch ein Mord, wie es meinem Schwager passiert ist, aber dass das normal gewesen wäre, das würde ich nicht sagen. Eher selten war es, da musste man schon richtig Pech haben.

So die normale Kriminalität, das schon, das war was anderes, vor allem unter Chruščev. Da gingen solche Rotznasen, die zu Hause zu wenig Birkenrutenbrei genossen hatten, hin und stahlen der Brauerei das Bier. Das wurde von Mykhorod ins Zentrum rübergebracht, durch eine Furt in der Myka, und da, wo die Lastwagen langsamer fuhren, sprangen welche von den Burschen auf die LKWs auf und warfen ein paar Flaschen runter in den Sand – das Ufer dort war immer schon sandig gewesen – oder auf die Schwemmwiese, in das weiche Sumpfland, wo sich dann ihre Kumpanen, kleinere Jungen, der Flaschen annahmen, und sie selbst sprangen von der Ladefläche ab und bevor der Fahrer auch nur richtig gucken konnte, waren sie schon in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben wie eine Horde Spatzen, verschwunden im Bewuchs am Fluss, in den umliegenden Gärten oder auf den Streuobstwiesen. Auf diese Weise ging eine ganze Menge Bier verloren, und für die Brauerei waren das nicht zu vernachlässigende Verluste, die kein Ende nahmen, im Gegenteil. Schlechtes Beispiel steckt bekanntlich an. Und einmal kam es dann, dass die Leute von der Brauerei den Burschen aufgelauert haben. Die meisten konnten fliehen, aber einen kriegten sie und den bestraften sie dann hart, gleich auf der Wiese an der Myka um die anderen abzuschrecken. Sie zogen ihm die Hosen runter und stopften ihm den Schlauch der Pumpe, mit der die Reifen aufgepumpt werden, in den Hintern. Scheinbar wollten sie ihn aufblasen, genauso, wie kleine Jungen, wenn sie im Marschland ihre grausamen Kleine-Jungen-Spiele spielen, mit einem Strohhalm Frösche aufblasen. Zum Glück sind ein paar ältere Frauen vorbeigekommen und haben eingriffen. Sie brüllten diese Fahrer an: Was macht ihr mit dem Kind, ihr Herodese, lasst ihn augenblicklich los! Ja, aber das erfüllte dann nur teilweise seinen Zweck, und nur vorübergehend, und an der Furt über die Myka verschwand weiterhin das Bier, bis sie dann anfingen auf dem Weg ins Zentrum die neue Brücke am Zusammenfluss zu nutzen. Ich habe das Gefühl, Klauen mach genauso süchtig wie Schnaps. Wer an diesem Mist nur schnuppert, der gewöhnt sich dran und hört nicht wieder auf, dem sind alle vernünftigen Argumente schnurzpiepegal.
Zu Chruščevs Zeiten wurde sogar so ein Witz erzählt. Kommt ein eher armer Landarbeiter zum Kolchos-Verwalter und will einen Rat: Sag mir, Genosse Verwalter, wie kommt es nur, dass es dir so gut geht? Du hast ein neues Haus, eine große Wirtschaft, einen neuen Kühlschrank – wie bist du denn zu alledem gekommen? Darauf der Verwalter: Na, weißt du, wenn man nachts nicht schläft, dann geht es einem hinterher gut. Einige Zeit später kam der arme Landarbeiter, der jetzt gar nicht mehr so arm war, wieder zu einer Audienz beim Kolchos-Verwalter, diesmal um ihm zu danken. Er hatte eine Korbflasche mit Selbstgebranntem dabei, ein halbes Schweinchen, einen Sack Kartoffeln, oder was auch immer, und ließ das alles draußen vor der Tür im Flur, er klopfte an und betrat das Kabinett seines Vorgesetzten mit den Worten: Ich danke Dir, Genosse Verwalter. Seitdem ich in den Nächten nicht mehr schlafe, lebe ich viel besser. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht krumm, dass ich dir eine kleine Aufmerksamkeit mitgebracht habe. Ich habe sie draußen vor der Tür gelassen. Ja aber, als er die Tür öffnete, da machte er ein langes Gesicht, weil er feststellen musste, dass alle seine Geschenke verschwunden waren, nicht einmal der Duft davon war noch in der Luft. Als der Kolchos-Verwalter herausfand, wie die Dinge lagen, da lachte er, klopfte seinem Angestellten auf den Rücken und sagt: Na weißt du, die Genossen hier sind haben sich das Schlafen auch abgewöhnt.
Das also war für den Sowjetbürger der Weg zum Wohlstand. Falls du in der Nacht nicht schliefst, weil du ehrlich gearbeitet hast, dann hattest du anstelle von Wohlstand eben nur gerade mal Magengeschwüre und Scherereien mit den Ämtern, so wie Ivan. Lenin hat das völlig offen gesagt. Der kam direkt mit der Parole „das Gestohlene zurückstehlen.“ Da hat sich dann so mancher danach gerichtet, hat eine Knarre abgefasst und mit dem Recht des Stärkeren alles gefordert, was ihm gerade als geraubt erschien. Vieh, Früchte, Geld oder Schmuck, Maschinen, Möbel und manchmal auch Frauen. Und als sie uns dann unter Stalin einfach alles wegnahmen und nicht einmal die paar gebackenen Kartoffeln im Ofen ließen, da kamen dann diese drakonischen Strafen dafür auf, wenn man auf den abgeernteten Feldern Ähren sammelte. Auf die wirklichen Räuber bezogen sich diese Gesetze nicht, sie sollten die ehrlichen Bauern treffen. Die wollten uns aushungern, brechen und vernichten, und das ist ihnen auch in bedeutendem Maße gelungen. Schau dich doch mal um. Schau dir die Jugend heute an. Die Gesichter. Die Namen. Die Art zu sprechen. Die Art, wie sie sich geben. Schau dir die Architektur an, das, was von ihr übrig ist. Die schöne Welt, an die ich mich noch aus meiner Jugend erinnern kann, ist unwiederbringlich verschwunden. Schade um die Worte.
Diejenigen, die sich zum Kolchos-Verwalter hocharbeiteten, waren ein merkwürdiger Menschenschlag. Die kannten kein Erbarmen, das waren grausame, loyale Grobiane. In #Bystrijivka##, von wo auch Kinder in unsere Schule kamen, war auch so einer, der Huržyn Mykola. Der gehörte zu dieser besonderen Sorte. Der war halb Mensch, halb wilde Bestie, der ritt auf seinem furchteinflößenden Braunen die sozialistischen Güter ab und hielt Wache. Meine Mitschüler haben mir einmal erzählt, wie sie ein bisschen Gerste sammeln gingen. Wie man die Gerste in den Schober packte, damit er eine Weile stand, bevor er dann gedroschen wurde und in die Getreidespeicher kam, da blieb nach dem Abräumen der Schober ein kleines bisschen Korn übrig, verstreut und mit Erde vermischt. Menschen, denen es sonst nicht eingefallen wäre, irgendetwas Fremdes zu nehmen, schickten da ihre Kinder hin um ein wenig von dieser Streugerste einzusammeln, halb und halb mit Erde, denn kurz gesagt: sie waren in Not. Jeder dieser Jungen sammelte etwas in einen Sack und dann gingen sie mit diesen Säcken zum Fluss, um die Gerste ein bisschen durchzuspülen. Das Wasser schwemmte die aufgelöste Erde durch die Sackleinwand mit hinaus, während das saubere Korn im Sack zurückblieb. Doch da auf einmal – Weh ihnen! – tauchte am Ufer gegenüber eine Reitergestalt auf. Es war Mykola Huržyn. Als er sie bemerkte, überschüttete er sie mit den allerwüstesten Beschimpfungen, knallte mit der Peitsche und wollte sein Pferd zwingen über den Strom zu springen. Dieses Pferd geht auf Menschen los wie nichts, und wenn die Strömung im Fluss nicht so stark gewesen wäre, hätte er die Jungen von seinem Pferd zu Tode trampeln lassen. Die aber zögerten nicht lange und nahmen lieber die Beine in die Hand, und ob sie diese unglückselige Gerste dann dort gelassen haben, das kann ich dir jetzt nicht mehr sagen. Später, als er dann schon alt war und sich niemand mehr vor ihm fürchtete, da hat er mal einem von den Jungs erzählt, wie man eben so bei einem Gläschen Schnaps erzählt, aus tiefster Seele: Damals habt ihr Glück gehabt, ihr Lumpen, dass das schon kurz vor dem Krieg war. Dreiunddreißig hätte ich euch nicht so einfach ziehen lassen. Ganz sicher nicht. Dreiunddreißig wurden die Felder und die Getreidespeicher mit der Ernte von der Armee bewacht, Rotarmisten mit Budjonny-Mützen, Gewehren und aufgesetztem Bajonett, da war so ein Huržyn aus dem Ort nur eine kleine Nummer.
Bei den Deutschen war es auch streng. Ein geschnappter Dieb, der wurde gleich bestraft, meistens durch Hinrichtung. Außerdem nahmen sie den Leuten vom Dorf weg, was ihnen passte, Wehrmachtsbedarf. Das Getreide schleppten sie ab, unsere Jugend schleppten sie als Sklaven ab, und auch unsere Schwarzerde schleppten sie ab zum Export, waggonweise, hatten die Kugel oder die Schlinge immer gleich zur Hand, aber ein bisschen was ließen sie uns auch zum Überleben, und sie duldeten auch bei ihren Soldaten keine Plünderei. Es herrschten doch
ein bisschen klarere Bedingungen, ein bisschen menschlicher oder sowas. Es sah so aus, als ob die Leute nach den ausgehungerten, paranoiden Dreißigern in dieser Atmosphäre des kleineren Übels ein wenig aufatmeten. Wenn nur die ewigen Hinrichtungen nicht gewesen wären, die ständige Angst und dann auch schon die andauernden Kämpfe, als die Front in unsere Stadt kam, dann hätten wir uns hier vielleicht gewöhnt an diese Deutschen. Hitler, der Idiot, dachte, er kann jemand klein kriegen, der die Dreißigerjahre unter Stalin erlebt hat. Der hätte die Ukrainer lieber in Ruhe lassen sollen und sie zu seinen Verbündeten machen, da wäre der Krieg ganz anders ausgegangen. Vor allem in der Westukraine haben sie die Deutschen mit Brot und Salz begrüßt, als Befreier. Hier hieß es immer: Die Deutschen wollten unseren Hafer für ihr Brot – den haben wir ganz schön das Maul gestopft, aber nicht mit Brot.
Aber auch bei uns fanden sich genug Leute, die den Deutschen in den Hintern gekrochen sind. Vom Bolschewiken hatten alle hier die Schnauze voll, und auch die Juden lagen manch einem im Magen. Weil, deren Monopole waren noch nicht vergessen. Und auch nicht, dass, als man die orthodoxen Kirchen zugemacht und die baťuški und andere Geistliche verhaftet hatte, manch einer von den Radomyšler Juden plötzlich mit einer Kippa oder einer Weste rumstolziert ist, die war aus einem orthodoxen Messgewand genäht, wie sie die baťuški während der Gottesdienste tragen. Da hatte wahrscheinlich irgend so ein Schlaukopf in dem Chaos sich den kostbaren Stoff unter den Nagel gerissen, billig abgefasst, und dann unter seinen Leuten verteilt, und die liefen dann damit in der Stadt herum, allen Orthodoxen zum Trotz. So eine Schande hat die Ukraine wohl seit der Zeit nicht mehr erlebt, bevor die Aufstände von Hetman Bohdan Chmelnyzkyj ausbrachen. Man sagt, der polnische Adel, der die orthodoxen Kirchen in der Ukraine verwaltete, hat oft absichtlich Juden als Verwalter eingesetzt. Und die Ukrainer sollten denen dann was zahlen, wenn sie die Dienste der Kirche nutzen wollten, eine Taufe, eine Hochzeit oder ein Begräbnis organisieren … Aber dafür haben sowohl die einen als auch die anderen teuer bezahlt. Auch uns hat die Geschichte nicht verschont. Nicht umsonst heißt ja die Zeit nach dem Chmelnyzkyj Aufstand Ruin. Es ist so ausgegangen, wie es ausgegangen ist, und Gott sei Dank, denn alles ist SEIN Wille.
Beim Deutschen, da gab es auch ein paar lustige Geschichten. Da hatte zum Beispiel jemand einer Schneiderin einen Sack Mehl geklaut, und eine andere einfache Frau, die verrückte Nachbarin, hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie sollen damit zum Gebietskommissar gehen, damit das aufgeklärt wird. Auf dem Kommissariat in Radomyšl empfing sie ein Deutscher, und diese Verrückte erzählt dem ganz naiv: Bitte, Herr Kommissar, klären Sie das auf. Diese Frau hier ist bestohlen worden, man hat ihr einen Sack Mehl entwendet. Der Deutsche klappte nur mit seinen rostbraunen Augendeckeln und sagte: Was, was?1Klingt wie slaw. „Vas, vas?“, „Sie, Sie?“. Und die Frau spult nochmal ab: Mich doch nicht! Diese Frau hier, sag ich doch, die ist beklaut worden. Man hat ihr einen Sack Mehl entwendet. Darauf der Deutsche wieder: Was, was? Aber nein, nicht mich, versucht die gute Frau es noch einmal. Und so dann weiter, bis dem Kommissar, oder was das für einer war, der Kragen platzte und er die beiden Damen rauswerfen ließ. Es würde mich nicht wundern, wenn sie noch eins mit der Peitsche mit auf den Weg bekommen hätten, das hätte diesen Deutschen ähnlichgesehen.

Am Ortsrand von Čajkivka lebte ein Mann, ein gewisser Andrij, den nannten sie Pečenyj, den Gebackenen, der war ein berüchtigter Pferdedieb. Ursprünglich war er ein einfacher Dorfbewohner gewesen, ich weiß nicht mehr, wie er wirklich hieß, sie lebten zu zweit, seine Frau und er, und hatten keine Kinder. Pečenyj wurde er auch deshalb genannt, weil er am ganzen Körper verbrannt war, als er im Verhör mit glühenden Eisen gefoltert wurde. Viele Male haben sie ihn erwischt, aber er blieb einem schändlichen Beruf bis an sein Lebensende treu. Dreimal war er im Lager, in Sibirien, einmal sogar auf Sachalin, doch immer wieder floh er und ging seinem altgewohnten Broterwerb wieder nach. Er sagte, er habe nie selbst jemanden getötet, dafür gab es in ihrer Bande andere Spezialisten. Nur einmal, sagte er, als sie aus Sachalin wegliefen, da mussten sie auf See ihren Kumpanen ins Wasser werfen. Sie waren mit einem Floß unterwegs, das hatten sie selbst gebaut aus dem, was gerade zur Hand war. Eine Patrouille vom Lager-Wachschutz war hinter ihnen her und schoss auf sie. Sie waren zu dritt und mussten also einen ins Wasser werfen. Aber auch so hätten sie es nicht geschafft, die Wache hätte geschossen. Doch es war dichter Nebel, und der half ihnen, verbarg sie vor den Blicken der Wachleute, den so genannten vochry, und schützte sie vor deren Kugeln. Leute, die sich mit den Verhältnissen im Lager auskennen, behaupten ja, dass diese mukl den dritten, diesen Unglücksraben, einfach aufgegessen hätten. Das kam wohl vor, dass so zwei abgebrühte Schurken, wenn es ans Fliehen ging, einen Schwächeren und Unerfahreneren mitnahmen, als eiserne Reserve. In der gefrorenen Landschaft war es leichter einen Kumpanen aufzuessen, als es mit Jagen zu versuchen, vor allem, wenn man nicht viel mehr dabei hatte als die Gefängniskluft, die man am Leibe trug. Kurz und gut, sie können das auch so geplant haben, dass sie ihn essen wollten, mussten dann aber Ballast abwerfen auf ihrem Weg in die Freiheit, bevor es dazu kam.
Neben den vielen Unfälle, die das Gaunerleben mit sich brachte, und der Folter, zeichnete sich Pečenyj auch dadurch aus, dass ihm die Hände fehlten – man hatte sie ihm am Handgelenk abgehackt, wie man das früher bei Verbrechern machte. Das war noch vor der Revolution. In der Nähe von Potijivka lebten die Wisingers, eine Siedler-Framilie, Deutsche, die bestellten da die ihnen zugewiesenen Felder. Einmal, als sich die Familie nach einem harten Arbeitstag zum Abendessen setzte, hörten sie aus dem verschlossenen Stall Pferdegewieher und Getrappel. Irgendwas beunruhigte die Pferde, was umso verdächtiger war, als der Wachhund nicht zu hören war. Dabei wusste man, dass in der Gegend ein Bande wütete, die Pferde stiehlt und Menschen tötet. Also bewaffneten sich Wisinger-Burschen mit ihren Äxten, packten ihre Flinten, zündeten Fackeln an und gingen los, den Stall durchsuchen. Unterwegs fanden sie den Hund, erdrosselt, mit seiner eigenen Kette. Die hatten ihm eine Harke unters Halsband geschoben und ihn daran hochgezogen, da wurde aus der Harke dann so etwas wie ein Galgen. Da war dann klar, dass sich im Stall ein ungebetener Gast verbirgt. Den Pečenyj fanden sie in einer Krippe unterm Heu. Sie fesselten ihn und schleppten ihn auf den Hof hinaus. Das Familienoberhaupt befahl seiner Frau Fett zu sieden, bis ein ganzer Topf zusammenkommt. Dann holten sie den riesigen Hackklotz, auf dem das Holz gespalten wurde. Ihr werdet mich umbringen müssen, damit ich mit dem Stehlen aufhöre, soll der Pečenyj gesagt haben. Wir werden sehen, hat der alte Deutsche ihm geantwortet, hat seinen Söhnen zugenickt, dass sie den Unhold festhalten sollen, und ihm dann mit einem Hieb die rechte Hand abgeschlagen, gleich überm Handgelenk. Dann haben sie ihm den blutenden Stumpf in das siedende Fett gesteckt, damit das Bluten aufhört. Da fiel der Dieb in Ohnmacht und kam erst wieder zu sich, als sie ihm einen Kübel kaltes Wasser übergossen. Gebettelt soll er haben, sie sollen ihm wenigstens die andere Hand lassen. Keiner hatte vor ihn zu töten, denn dass das keine gerechte Strafe gewesen wäre, war allen klar. So luden sie ihn auf den Wagen, fuhren ihn irgendwohin raus aufs Feld und setzten ihn dort an einem Weg ab, sollte er doch sehen, wie er zurechtkam.
Und Pečenyj kam zurecht. Dank dem siedenden Fett verblutete er nicht, aber er hörte auch nicht auf zu stehlen, ganz wie er es versprochen hatte. Und da sein Körper Symmetrie erforderte, wurde ihm bei einem seiner nächsten erfolglosen Versuche fremde Pferde zu entwenden auch noch die andere Hand abgeschlagen. Aber nicht mal das brachte ihn von seiner schiefen Bahn ab. Wie er die Fußfesseln der Pferde aufkriegte? Wie der sie versorgte? Wie er sich überhaupt im Sattel halten konnte? Das kann dir heute keiner mehr sagen. Wenn Menschen wollen, können sie sich hervorragend den Umständen anpassen.

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Mein Schwiegervater Anton Benediktovič, dein Urgroßvater, der hat mit dem Pečenyj auch so eine Geschichte erlebt. Er hat sich also höchstpersönlich davon überzeugen können, dass der Pečenyj nicht irgendein dahergelaufener Dieb war. Pan Anton hatte da bei Horbuliv ein Feld gepachtet, das bestellte er und züchtete dort Weizen. Einmal fuhr er mit einem Tagelöhner hin, so einem bezahlten Arbeiter, um das Feld zu pflügen und die Aussaat vorzubereiten. Am Abend waren sie sehr müde, und so beschlossen sie dort zu übernachten, sie wollten sich nicht nach Hause quälen und am nächsten Morgen wieder her. Also spannten sie die Pferde aus, zogen ihnen die Eisenfesseln um die Beine fest und sicherten sie mit einem Schloss, warfen ihnen Decken über und schütteten ihnen Hafer hin. Sie selbst machten es sich auf dem Wagen gemütlich und deckten sich noch mit ihren Fellmänteln zu, denn die Nächte waren ganz schön frisch. Gegen Morgen erwachten sie, weil ihnen kalt war, und bemerkten, dass die Fellmäntel verschwunden waren. Und als sie sich umsahen, da zeigte sich, dass auch die Pferde weg waren. Hier muss Andrij Pečenyj am Werk gewesen sein musste, sagte sich dein Urgroßvater. Als sie zu Hause in Čajkivka ankamen, nahm er hundert Rubel, sogenannte Katharinen-Rubel, das war damals viel Geld, und eine Korbflasche mit gutem Schnaps und schickte seine Frau, babuňka Marynja, zu Pečenyjs Frau. Die babuňka ging also mit den Geschenken hin und sagte: Das hier schickt euch der Antoś und lässt euch ausrichten, er will seine Pferde wiederhaben. Und was geschah? Ein paar Tage später, als die Familie aufwachte, sahen sie ihre Pferde im Morgennebel auf der Wiese hinterm Garten weiden. Die Pferde waren noch schaumbedeckt, sie mussten lange gerannt sein.

Denn der Pečenyj hatte einen Grundsatz: Er klaute nicht im eigenen Dorf. Auch ein Schwein scheißt niemals da hin, wo es schläft, es unterscheidet immer: Hier ist das Stroh zu schlafen, und das ist der Winkel, wo ich meine Notdurft verrichte. Gott weiß, warum er sich entschieden hatte, den Anton auszurauben. Vielleicht hatte er ihn nicht erkannt, vielleicht hatte er gemeint, die Beiden seien weit genug weg von zu Hause. Später hat der alte Dieb dann noch zu ihm gesagt: Ihr hattet Glück, dass ihr nicht aufgewacht seid. Als wir den Pferden die Fesseln abgenommen haben und sie wegführten, stand neben jeden von Euch ein Kerl mit einer Eisenstange, der hätte euch erschlagen, wärt ihr aufgewacht.

 

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka.

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1. Klingt wie slaw. „Vas, vas?“, „Sie, Sie?“.