Petr Šesták

Ausgebrannt

2023 | Host

Erster Teil

Auszug

 

Früher haben die Leute den Herren ihre schwieligen Hände vorgezeigt, als Beweis, dass sie anpacken können. Ich könnte dir meine festen Waden zeigen, die bis zum Platzen gespannte Haut, die prallen Adern. Fabriken gibt es in dieser Stadt nicht mehr, mich ernähren nicht meine Hände, sondern meine Beine. Zwölf Stunden am Tag trete ich in die Pedale, auf dem Rücken einen roten oder blauen oder grünen oder schwarzen Würfel mit dem Logo der Plattform, für die ich fahre.

Wo glotzt du hin, du Idiot!

Hier nimmst du mir immer die Vorfahrt von rechts. Das weiß ich schon vorher und fahr nicht mit voller Kraft. Du schneidest mich um Haaresbreite, aber dann kommst du nur 20 Meter weiter und musst anhalten im Stau. Ich trete in die Pedale, ein paar Sekunden später habe ich dich eingeholt und poche mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen deine Scheibe. Du hältst das Lenkrad, trommelst leger auf das Leder, in das es eingenäht ist, du bis zwischen fünfzig und sechzig, graumelierte Haare, ein charismatischer Typ, du fährst aus dem Büro in deine Vorstadtvilla, drinnen bei dir läuft vielleicht Klassik oder klassischer Rock, du drehst dich nicht einmal nach mir um, schaust stur geradeaus, gibst Gas, gehst von der Kupplung. Wie die ganze Kolonne vor dir kommst du nur zwei Meter weiter. Ich hole dich wieder ein, poche an die Scheibe, gestikuliere, zeige die rechte Hand, Vorfahrt von rechts! Ich versuche nicht zu brüllen, aber selbst wenn ich brüllen würde, durch das undurchlässige Glas hörst du mich nicht. Drinnen hast du ein angenehmes Klima, im Winter wie im Sommer, deine zweiundzwanzig Grad, leise schnurrt der Motor, beruhigend säuselt die Lüftung. Ich poche stärker, aber du stierst nur geradeaus, du bist dir sicher, dass dein Glas mehr aushält als meine Faust. Nie siehst du mich an. Auch nicht, wenn ich dir das Essen bis an die Tür liefere. Du siehst auf die Papiertüte mit dem Logo der Plattform, in der ich es dir übergebe. Du siehst auf die Rechnung, auf den mobilen Kartenleser, ob der Betrag stimmt. Niemals mich an. Langsam gehst du von der Kupplung, gibst Gast. Du hast einen starken Motor. Wenn du beschleunigst, läuft ein bisschen Flüssigkeit aus deinem Auspuff. Später spült der Regen sie in den Fluss.

Das Rad war ein untrennbarer Teil meiner Kindheit. Als das Schönste an meiner Kindheit erschien mir damals, dass sie ein vorübergehender Zustand war. Mit jedem weiteren Schritt wurde ich erwachsener. Das erste Mal verstand ich das, als von meinem Kinderfahrrad die Stützräder abmontiert wurden. Bald war ich dem ganzen Rad entwachsen und bekam zum Geburtstag ein deutlich größeres. Es hatte einen hohen Lenker und einen langen Sattel, auf dem ich meine Freude umherfahren konnte. Mein Onkel und ich haben es in seiner Garage sauber gemacht und geölt. Du halfst mir, einen Eisstiel mit einem Draht so am Rahmen zu befestigen, dass er leicht an den Speichen leckte. Ich bestand darauf, und du, mein lieber Onkel, hast sofort verstanden und mir zugeblinzelt. Als ich stolz auf die Straße hinausfuhr, knatterte das Fahrrad genau wie ein Motorrad, und ich fühlte mich unheimlich groß auf ihm. Wenn ich noch ein paar Jahre geduldig wartete, würde ich ein richtiges kleines Motorrad fahren dürfen! Aber das wäre noch immer nicht ganz das Richtige, weil ein Motorrad nur zwei Räder hat. Richtig erwachsen sein werde ich, wenn ich den Autoführerschein mache, wenn ich vier Räder und ein Lenkrad besitze. Ich sagte mir, dass ich die Zeit bis dahin irgendwie überstehen müsse. Aber dann ist wohl irgendwas schiefgegangen.

Ich bin Unternehmer, ich und mein Fahrrad, mein Kapital. Ich biete der Plattform extern meine Dienste an, schön auf Rechnung, ich bin mein eigener Herr, mein eigener Knecht. Das ermöglicht es mir, auch zwölf Stunden täglich zu arbeiten, und niemand schreibt mir vor, wann ich Urlaub nehmen muss. Urlaub kann ich mir jederzeit nehmen, wenn ich es mir erlauben kann. Ich baue meine Firma auf stabilen Fundamenten, auf definierten Oberschenkeln, auf muskulösen Waden. Die Nachfrage ist hoch und an Aufträgen kein Mangel, essen ist ein Muss, aber du willst dich nicht bewegen oder du hast keine Zeit dafür. Ich habe für nichts anderes Zeit als mich zu bewegen, jede Minute, in der ich mich nicht bewege, stresst mich, in jeder Minute, in der ich mich nicht bewege, entgeht mir ein Geschäft, und in meinem Kopf rascheln die Rechnungen für Miete und Energie. Ich esse im Laufen auf der Straße, damit du im Sitzen in deinem Büro essen kannst, in deinem Home Office, vor deinem Bildschirm, damit du in kein Restaurant gehen musst, ddamit du das Essen nicht unnötig genießen und keinen Small Talk mit Kollegen und Personal führen musst. Aber manchmal genießt du das Essen ja doch und kratzt und leckst die Plastik- und Polystyrolgefäße sauber, manchmal bist du kultiviert und kippst das Essen in dein eigene Keramikschüssel um. Deine Abfalleimer füllen sich rasch, aber fast immer trennst du den Müll oder achtest sogar darauf, dass die Gefäße, in denen ich dir das Essen bringe, kompostierbar sind. Für deren Herstellung und Transport sind Unmengen an Energie und Wasser nötig, aber das gilt ja auch für das Rind, das leckere Fleisch, das häufig in ihrem Inneren ist, also, was soll ́s, bei diesen Gefäßen hast du ein besseres Gefühl als bei Plastik, warum also nicht etwas drauflegen für das gute Gefühl, wofür soll man sonst heute was drauflegen, wenn nicht für das gute Gefühl, du Jäger, der du nicht mehr dem Essen nachläufst, weil das Essen dir nachgelaufen kommt. Die Plattform ist für dich und für mich da, sie ist es, der wir das Zustandekommen unserer harmonischen Beziehung verdanken, dir bringt das Freude und es spart deine Zeit, es befreit dich ein wenig von dem überflüssigen Geld, das du in der Zwischenzeit verdient hast, mir wiederum nimmt es Zeit und bringt einen kleineren Teil des Geldes. Und alle sind wir zufrieden. Mir schwinden vielleicht die Kräfte, aber ein bisschen nur, du bleibst im schlimmsten Fall unverändert und die Plattform wächst. Und darum geht es uns allen doch.

 

Ein mattgrauer Land Rover, auf der Hintertür klebt das Staatswappen, ein doppelschwänziger Löwe. Auf deinem Autokennzeichen steht PAN RAMBO, unter der hinteren Stoßstange hast du zwei riesige Rohre, aus denen jedes Mal, wenn du Gas gibst, dunkler Rauch steigt. Im Schritttempo fahre ich in der Blechlawine genau hinter dir, versuche möglichst wenig zu atmen, aber irgendwie funktioniert das nicht. Wie ein barockes Engelchen gleite ich aus einer Wolke in die nächste. An der Uferstraße kann ich dich nicht überholen. Ich müsste über den Gehweg fahren, aber dort promenieren zu viele Touristen. Es wird wohl schneller sein, langsam zu fahren als sich zwischen ihnen hindurchzuschlängeln. Das Panorama ist herrlich, wir fahren an der uralten Brücke vorbei, dem berühmtesten historischen Denkmal der Stadt. Dort springen uns Menschen in den Weg. Am Fußgängerübergang vor der Brücke haben einige nicht genug Geduld, um auf Grün zu warten, auf das fast nie umgeschaltet wird. Und wenn es doch einmal geschieht, dann nur für wenige Momente. Du hättest Lust, ordentlich anzufahren, aber es gibt etwas, was dich bremst. Langsam kommen wir näher, da es ein Auto nach dem anderen schafft, das Hindernis zu überholen. Endlich ist es direkt vor uns, das Geklapper eines Pferdefuhrwerks, eine romantische Kutsche mit einem märchenhaften Touristenpaar innen drin, mitten in der Rushhour. Dein Land Rover ist direkt hinter der Kutsche, und direkt hinter deinem Land Rover ringe ich in deiner Wolke nach Luft. Durch die Filter der Lüftung kannst du nichts riechen. Ich jedoch schon. Ein unpassender Odor vermischt sich hier mit den Abgasen aus deinem Offroader. Stallgeruch und der heiße Atem eines Tieres. Und Exkremente, die völlig unkontrolliert aus ihm heraus in einen speziellen Ledersack fallen. Pfui! sagt eine Dame, die neben uns über den Bürgersteig geht, keiner weiß überhaupt mehr, was hier wirklich stinkt. Endlich schnurrt der Motor deines Offroaders ordentlich los, Rauch wirbelt auf, die Automatik springt in den zweiten Gang, du blinkst kurz und überholst die Erscheinung. Ich schaffe es nicht so schnell, aber ich mache es dir nach. Ich umfahre die Kutsche und komme auf die Höhe der Pferde. Sie haben Scheuklappen, gesenkte Köpfe, gehen im Trab. Sich nicht durch das periphere Sehen erschrecken lassen, wenn nebenan eine glänzende Motorhaube aufblitzt, viel zu schnell, viel zu nahe. Auch ich habe gelernt, nur einen Meter nach vorn zu gucken, nur über den Lenker unter das Rad, bloß nicht ins Straucheln kommen, in keinen Kanal hineinfahren, wenn irgendwoher ein Schlag kommen soll, dann wird er kommen, aber bisher liege ich noch nicht kaputt auf dem Asphalt, auf dem Pflaster, ich trete, ich stinke nach Schweiß, und hin und wieder schnaube ich laut auf.

Geh aus dem Weg!

Du fährst direkt hinter mir, ich spüre die Wärme des Motors, seine Ungeduld, das Verlangen, immer an der Spitze des Pelotons zu sein. Hier jedoch kannst du mich nicht überholen. Kurze Zeit später hältst du es nicht mehr aus und hupst, manchmal lege ich mich voll in die Pedale, fahre so schnell wie es geht irgendwohin, wo auch du endlich ordentlich Gas geben kannst, und dann fühle ich mich erleichtert, drossele ein wenig das Tempo, verliere das Gefühl der Bedrohung. Ein anderes Mal drehe ich mich um und zeige dir den Stinkefinger, ich gehöre genauso hierher wie du, Wichser! Manchmal habe ich Lust anzuhalten, mit dem Rad die Straße zu blockieren und loszugehen, um dir in die Fresse zu schlagen. Aber das mache ich nur selten, wir kläffen uns nur über den Zaun an, lediglich das saure Gefühl von Hass, das unseren ganzen Körper durchflutet, und den schlechten Nachgeschmack spüren wir noch eine Stunde später, manchmal den ganzen Tag. Jedesmal will ich dir die Fresse polieren, aber ich tue es eigentlich nie. Wissenschaftler haben untersucht, wie das Gehirn auf die Instrumente reagiert, die man gerade benutzt. Die Probanden arbeiteten eine Stunde mit einer einfachen mechanischen Greifhilfe, die für das Aufsammeln von Kleinabfall bestimmt ist. Nach einer Stunde sollten sie die Entfernung zu bestimmten Objekten schätzen und beurteilen, ob sie an sie heranreichen oder nicht. Sie konnten die Entfernung viel schlechter einschätzen als vor dem Gebrauch der verlängerten mechanischen Hand, sie hatten das Gefühl, dass sie jetzt weiter ausholen können, dass ihr Arm länger ist, als er in Wirklichkeit war. Das Instrument hatte sich sofort mit dem Gehirn verbunden, welches es integrierte wie einen Körperteil. Augenblicklich veränderte das Gehirn seine Wahrnehmung der Welt und ordnete sie dem Instrument unter. Diese Fähigkeit war ein Geburtshelfer der Zivilisation. Wenn du jeden Tag ein Auto benutzt, bist du irgendwann selbst zu einem Auto geworden. Ein Auto will Bewegung, ein Auto will fahren, es will so schnell fahren, wie es nur kann. Daher das Anhupen von Radfahrern, von Fußgängern, von langsamer fahrenden Autos. Auf dem Bürgersteig würdest du doch keinem in den Rücken hecheln und brüllen: aus dem Weg! Nicht du bist es, der hupt, nicht du willst fahren, du bist nicht rücksichtslos, es ist dein Instrument, das mit dir verwachsen ist – und du bist mit ihm verwachsen. Du bist wie Paco de Lucía, wenn er Gitarre spielt, nur, dass du nicht Paco de Lucía bist und nicht Gitarre spielst, du fährst hinter einem Radfahrer her, du hast es eilig, weil dein Instrument in Eile ist, du hupst, weil dein Instrument hupen kann, du hupst mit nur einem Ton, du Honk, weil du dir das falsche Instrument ausgesucht hast. Und dann steigst du irgendwo aus und gehst in dein Büro, um Werte zu schaffen, um die Welt aufzubauen, an einer besseren Zukunft zu arbeiten, Ideen durchzusetzen, Stadtentwicklungspläne zu zeichnen, zu bauen, Politik zu machen. Und weil du selbst immer noch ein Auto bist, baust du eine Welt der Autos, planst Städte für Autos, machst Politik für Autos.

 

Ich liefere dir häufig das Essen. Du wohnst in einem Viertel, das beliebt ist bei jungen Menschen und bei der Kunstbohéme, aber bei der, die bestimmt nicht knapp bei Kasse ist. In der obersten Etage. An der Tür hast du einen Aufkleber: ÖKO-Zelle der Akademie. Ich klingele. Du machst die Tür auf, drinnen Musik, Gespräche, manchmal ist Gras zu riechen, ihr beschäftigt euch mit der Zukunft des Planeten. Du übernimmst von mir eine Tüte voller Essen in Unmengen Verpackung, kompostierbar natürlich, du zahlst mit Karte, bedankst dich, aber schaust mich nicht an, nie schaust du mich an. Oder vielleicht schaust du mich an, du lächelst mir sogar immer zu, vielleicht gibt es auch eine höfliche Konversation, du heuchelst Interesse, du schaust, lächelst mir zu, aber du siehst mich nicht und lächelst, weil dein Leben erfüllt ist mit Glück. Ich sehe dich an und du gefällst mir, deine Wohnung gefällt mir, mir gefällt, dass du so oft Besuch hast, du bist so beliebt, ich würde gerne all das Essen kosten, dass du dir immer in den angesagtesten Läden mit den besten Bewertungen auf der Plattform bestellst. In der Regel ist es etwas Exotik, meist Naher Osten, Mittelmeer, Südostasien, Japan oder eine moderne Kombination. Immer auch etwas für Vegetarier und sogar für Veganer, aber auch Fleisch. Du bist offen. Gewöhnlich lässt mir das keine Ruhe und ich vertrödele etwas Zeit, ich laufe hinunter ins Erdgeschoss, setze mich auf die Treppe und lese mir in der App der Plattform die Präsentation derjenigen Restaurants durch, bei denen du bestellt hast. Sie haben Profi-Fotos, ein ausgetüfteltes Logo, witzige und verspielte Beschreibungen und Namen. Wenn ich das Geld hätte, mir Essen zu bestellen, würde ich es irgendwo dort bestellen, wo du das immer tust. Du bezahlst mit Karte, hast aber immer eine Münze für mich parat. Du schließt die Tür. ÖKO-Zelle der Akademie.

 

Nachts komme ich nach Hause zurück, mit letzten Kräften trage ich das Fahrrad nach oben in die Wohnung, weil es im Haus keinen Abstellplatz gibt. Es ist ruhig hier, mein Mitbewohner schläft schon, wir sehen uns kaum, sprechen nicht miteinander. Das einzige, was uns verbindet, ist, dass wir zu alt für ein studentisches Leben sind, wir sind Singles und haben unsichere Einkommen. Ich bin zu Tode erschöpft, kann aber oft nicht einschlafen. Meine Muskeln sind noch voll angespannt vom Strampeln den ganzen Tag, mein Herz hämmert im Rhythmus der Pedalumdrehungen, meine Nerven liegen blank von den Adrenalinfahrten, abends muss ich am schnellsten sein, abends kann ich das Meiste verdienen. Ich schalte die kleine Lampe ein und öffne das Fenster, unten rauscht die belebte Straße, sie kann nicht im Erdgeschoss unter mir bleiben, sie bricht in mein Zimmer ein, sie gönnt mir keine Ruhe. Ich krame ratlos in einer Schreibtischschublade, sie ist voll mit allem möglichen Zeugs. Zwischen Quittungen, Papieren und dem Mietvertrag liegen Fotos herum. Aus der Kindheit habe ich nur wenige, nach der Scheidung meiner Eltern hatte keiner die Zeit, mich zu fotografieren, für Mama war es wahrscheinlich wichtiger, mich irgendwie zu ernähren, und du, Papa, hattest genug Sorgen mit deiner neuen jungen Geliebten. Den Beweis für meine damalige Existenz erbrachte ein Fotograf, der jedes Jahr in den Kindergarten kam. Ich wähle eines der Fotos aus, mache die Schublade zu und haue mich auf die Matratze am Boden. Ich lege die Bettdecke unter meinen Kopf, drehe die Nachttischlampe zu mir hin und strecke endlich meine schmerzenden Beine aus. Auf dem Bild bin ich vier, vielleicht fünf Jahre alt. Natürlich ist es angeboren, das Interesse der Jungen an technischen Dingen und das der Mädchen an der Sorge für den Nachwuchs. Deshalb wurde die ganze Gruppe vor dem Fotografen aufgereiht, die Mädchen bekamen eine Puppe in den Arm, die Jungs ein großes Plastikauto in den Schoß. Puppe, Auto, Puppe, Auto, Puppe… Auf dem Foto sitze ich wie ein stolzer kleiner König mit meinem Attribut da, vom Schicksal unabwendbar zur Mechanisierung, zum Fahren vorherbestimmt. Fahren, die krönende Handlung eines gesunden und erfolgreichen Mannes. Gebären, die Krönung des Tuns einer gesunden und erfolgreichen Frau. Yin und Yang, Mechanisierung und Reproduktion. Die Krönung des Fahrens ist es, eine Maschine zu führen, die zum Bauen oder zur Destruktion bestimmt ist, einen Bagger oder einen Panzer. Die Krönung des Gebärens ist es, einen Fahrer zur Welt zu bringen, der künftig eine Maschine lenken wird, die zum Bauen oder zur Destruktion bestimmt ist, oder die künftige Mutter eines weiteren Fahrers, der in der Zukunft eine Maschine lenken wird, die zum Bauen, zum Töten und zur Destruktion bestimmt ist. Die traditionelle Familie. Das Fundament des Staates.

Hey, watch out!

In den sogenannten Kommerz-Zonen leidest du an kollektiver Orientierungslosigkeit, hier zum Beispiel, auf der Fläche, die Platz der Republik genannt wird, nach res publica, öffentliche Sache. Heute hat diese Fläche jedoch ein vollkommen privates Einkaufszentrum geschluckt, niemand verabredet sich mehr auf dem Platz der Republik, wir treffen uns am Kaufhaus, sagst du. Ich trete in die Pedale und fahre die Straße entlang, die auf einem ehemaligen Befestigungsgraben errichtet wurde und zumindest teilweise für Autos gesperrt und von Boutiquen gesäumt ist. In jeder Hand hast du fünf Tüten voll mit Ramschklamotten, die sich nur durch die Logos und die entsprechenden Preise unterscheiden. Papiertüten natürlich, denn ZARA, H&M, MANGO, ADIDAS, GAP, VICTORIA’S SECRET, KARL LAGERFELD, MASSIMO DUTTI, sie alle denken, genau wie du, tagtäglich an das Wohl unseres grünen Planeten. Du läufst mir vor das Rad, weil du weder noch rechts, noch nach links siehst, deine Augen sind leergeguckt von all den Geschäften und all den Spiegeln, welche die Spiegel spiegeln, in denen auch du dich vervielfachst und spiegelst. In deinen Ohren hallt noch immer die Musik, die dein Blut immer so in Wallung bringt, und du kaufst ein, als würdest du tanzen. Du siehst nichts, du hörst nichts, läufst mir vor das Rad, deine zugedröhnten Augen suchen gierig das nächste bekannte Logo, die nächste bekannte Marke, die es auch bei dir zu Hause gibt, aber es ist nicht das Gleiche, sich das Gleiche in der Heimatstadt oder hier im Urlaub zu kaufen, in einer fremden Stadt, in einem fremden Land. Und ich heize mit Absicht los, Adrenalin hämmert in meinen Schläfen, gerade hier fahre ich immer am schnellsten, erst unmittelbar vor dir bremse ich und weiche dir aus, erst, als im letzten Moment in dir doch noch etwas Echtes erwacht, was dich mit der umliegenden Welt verbindet, ein verkümmerter, längst degenerierter Reflex, erst in dem Moment, als du mich bemerkst, als du erschrickst und den unausweichlichen Zusammenstoß erwartest, in diesem Moment bremse ich oder reiße den Lenker rum, denn ich beherrsche meinen Körper, mein Rad, ich sehe deine Bewegung in der Schrecksekunde voraus, ich sehe die Bewegungen der weiteren Zombies neben dir voraus, scanne die Situation, analysiere, nutze mein Hirn, auch wenn ich auf einem Fahrrad sitze, nutze ich ständig mein Hirn, ich trete, drehe den Lenker, drücke die Bremsen, schalte, arbeite mit den Beinen, den Armen, aber in Wirklichkeit fährt mein Hirn, ich arbeitet mit dem Hirn, arbeite daran, dir einen Schreck einzujagen, dich aus der Urlaubs- und Einkaufslethargie zu reißen, um dir mal wieder das klare und scharfe Gefühl zu geben, dass du lebst. Du hast doch ein Flugticket in ein sicheres Land gekauft, wo dir nichts passieren kann, alles ist gesichert, versichert, abgesichert, abgefedert, mit Schaumstoff ausgelegt. Du willst reisen, du willst nichts riskieren. Deshalb bin ich hier, um dich daran zu erinnern, dass du jederzeit und überall sterben kannst. Nur, dass ich im letzten Moment den Lenker herumreiße, und dieses Manöver misslingt mir nur selten, nur selten töte ich jemanden, dazu bin ich zu leicht, ein Radfahrer ohne Blechkarosse, ohne harte Stoßstangen und Metallkonstruktionen und Motor, der dich zu Boden reißt und dir die Knochen zermalmt. Ich würde es noch schaffen, mich selbst zu töten, mich selbst zu verletzten, das wäre ziemlich einfach.

 

Du hast dir einen Mustang GT zugelegt und schipperst durch die nächtliche Straße, durch das Gurgeln des Motors trittst du in meinen Traum, mit den Botox-Queens ist es zum Verzweifeln, keine von ihnen bleibt bis zum Schluss bei dir, du gibst Gas – und in vollkommenem Einklang, in einem vollkommenen Akkord schreien deine acht Zylinder um Hilfe, deine Fahrt im Mustang GT ist ein einsames Rufen, du schickst deine Flaschenpost in die nächtliche Stadt, du bist ein Schiffbrüchiger auf deiner Privatinsel, auf der auch noch die Ratenzahlungen einlaufen.

 

Zweiter Teil

Auszug

Im engen Kreis der ÖKO-Zelle der Akademie wird besprochen, in welches Lokal es zum Diskutieren gehen soll, du nimmst meine Hand und fragst mich, ob ich mit euch komme. Ich würde gern, aber ich muss in den Sattel, ich muss losstrampeln, den ganzen Nachmittag nachholen. Vielleicht komme ich abends vorbei, das könnte ich eigentlich, ich komme zu dir ins Dachgeschoss, wenn ich genug Essen ausgefahren habe. Aber dann geschieht etwas Ungeplantes, plötzlich entzündet sich etwas, Unruhe breitet sich in der Menge aus und auf der Bühne stachelt jemand die Demonstrierenden an. Wenn wir mit Transparenten herumwedeln, bringt das keine Veränderung, wir müssen die Magistrale blockieren! Auch in der Zelle der Akademie trifft das auf Zustimmung, einige würden hingehen. Du versuchst sie zu beruhigen, Proteste müssen sich im Rahmen des Gesetzes bewegen, wenn die Demonstrierenden die Grenze der Legalität überschreiten, verwenden das die Medien und die Politiker gegen sie und machen Kriminelle aus ihnen. Wahrscheinlich hast du schon Recht, aber in mir brodelt es, genau, wie wenn ich versuche, das Essen in Rekordzeit zu liefern und Slalom zwischen den Autos fahre. Ich entwische dir und laufe los zur Straße. Dort ist schon eine große Gruppe versammelt und die Autos stehen still, Studierende setzen sich auf die Fahrbahn und halten sich an den Händen, Hupen, Beschimpfungen von beiden Seiten. Jemand steigt aus seinem Auto und krempelt die Ärmel hoch, es kommt zu einer Rangelei, aber gegen die Übermacht kann der Mann nichts ausrichten und so versteckt er sich lieber in seinem gepanzerten Auto. Ich setze mich zu den Aktivisten, wir halten uns an den Händen. Das stärkt unsere Entschlossenheit, wir pressen uns aneinander und haben etwas weniger Angst, wir schützen uns gegenseitig. Blaulicht, Sirenen. Das erste SEK-Team, Drohungen über Megaphon. Die Polizisten ziehen die ersten Demonstranten aus der Reihe, die meisten von uns lassen sich passiv über den Asphalt zum Bürgersteig schleifen, aber bei erster Gelegenheit entwischen wir und kehren zurück auf die Fahrbahn. Schreie, Sirenen, Gehupe, die Spannung steigt, erste Schlagstöcke werden gezogen, erste Schläge und dann eine unkontrollierte Prügelei. Die Polizei hier hat schon lange nicht mehr auf Studierende eingedroschen. Es gab all die Jahre keinen guten Grund. Und dann sehe ich dich zum ersten Mal, und spüre sofort den kalten Hauch des Schicksals. Ich bin mir sicher, dass wir uns noch nie begegnet sind, ich hätte dich bemerken, ich hätte dich gespürt haben müssen. Du sitzt im Schneidersitz auf dem Asphalt, mit durchgedrücktem Rücken, das Chaos rund herum scheint ganz an dir abzuprallen, als wärst du allein hier, nur du, deine Entschlossenheit und Prädestination. Wenn das ein Film wäre, würden die Geräusche des umliegenden Scharmützels zu einem formlosem Tonmix heruntergepegelt und die Musik würde verstärkt, nein, es wäre keine Musik, es wäre ein einziger Ton, gespielt von einem ganzen Streichorchester, eindringlich, aber zugleich irgendwie beruhigend. Du würdest regungslos in der Mitte der Komposition sitzen, und um dich herum würde eine Schlägerei toben. Die Einstellung würde übertrieben lange dauern, plötzlich würde ein Polizist mit einem Schlagstock über dir auftauchen. Der Schlag hätte wohl gegen die Schulter gehen sollen, aber er trifft deinen Kopf. Ich springe von hinten den Polizisten an und packe seine Arme, sofort fallen seine Kollegen über mich her, ich kassiere mehrere Schläge. Du versuchst, dich zwischen uns zu stellen und sie aufzuhalten. Über deine Stirn rinnt Blut. Zusammen mit anderen werden wir in einen Polizeitransporter gezerrt und zum Verhör gebracht. Als du in den Warteraum auf dem Revier geführt wirst, hat man dich schon ärztlich behandelt. Endlich machen wir uns bekannt.

Aus dem Tschechischen von Christina Frankenberg