Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich sitze in der Krone eines riesigen Kirschbaums, der vor unserem Haus wächst, und warte auf den Doktor. Ich soll den Baum nach Früchten durchkämmen, aber darauf scheiß ich. Ich stecke mir die Kirschen in den Mund und spucke die Kerne auf den Gehweg unter mir aus. Sie bilden schon eine gute Schicht am Boden. Früher oder später wird mein Doktor am Ende der Straße auftauchen. Er wird bedächtig, aber zügig gehen, genauso, wie er zu gehen pflegt. Zunächst bemerkt er mich nicht, aber wenn er näherkommt, werden die Kerne, die durch die Luft auf den Gehweg fliegen, nicht zu übersehen sein. Er hebt den Kopf und lächelt mich an. Er sagt etwas. Ich weiß nicht was, etwas Banales. Er lächelt jeden so an, ich kann nicht sagen, ob ich ihm auf den Keks gehe oder ihm egal bin. Früher dachte ich immer, er mag mich, wenn er mich so anlächelt. Jetzt glaube ich das nicht mehr. Denn er lächelt jeden so an. Ich will nicht, dass er jeden so anlächelt. Es ist heiß, Ende Juni. Die Schule öffnet noch jeden Morgen ihre Tore, aber wir machen nichts mehr. Wir gehen nur noch wegen der Anwesenheit hin. Um es bis zum dreißigsten zu schaffen. Die Notenvergabe ist abgeschlossen, ich bin ziemlich gut davongekommen. Mama wird sagen, ich hätte mich mehr anstrengen können. Das sagt sie immer, aber das ist mir egal.
Von den Kirschen bekomme ich bald Bauchschmerzen, das spüre ich, aber ich kann nicht aufhören mich vollzustopfen. Als der Doktor endlich am Ende der Straße auftaucht, ist er nicht allein. Anna trägt ein Sommerkleid, ich glaube, es steht ihr, höchstwahrscheinlich, was weiß ich. Der Doktor hat einen Strohhut. Mannomann, er hat echt nen Strohhut!
Ich lache ein wenig und ein Rinnsal roten Saftes läuft mir am Kinn herunter. Ich wische ihn schnell ab und beruhige mich. Ich schiebe mir die Mütze tiefer ins Gesicht und meinen Minibolero weiter hoch, damit der Doktor eine gute Aussicht hat, wenn er seine vergissmeinnichtblauen Augen auf mich richtet.
Er nähert sich immer noch, mit genau der Geschwindigkeit, die ich vorausgesagt habe – ich habe ihn schon genauestens studiert – , aber er kann mich noch nicht sehen. Ich spucke die Kerne aus, als ginge es um mein Leben, einen nach dem anderen, ra-ta-ta-ta-ta, aber die beiden unterhalten sich über irgendetwas und sehen es nicht. Sie bemerken es erst in der letzten Minute, als ich dem Doktor fast schon auf seinen Strohhut spucke, damit er überhaupt hochschaut.
Schließlich hebt er die Hand und stoppt Anna, als hätte er Angst, dass sie in die Salve hineinlaufen könnte. Er sieht auf – und lächelt mich an. Anna sieht auch hoch, lächelt auch, wenn auch weniger. Der Doktor lässt seinen Blick über die Verwüstung zu seinen Füßen schweifen und ihm wird klar, in welcher Gefahr sie sich befinden. Er sieht mich wieder an, immer noch lächelnd.
Lässt du uns durchgehen, fragt er amüsiert, während ich mich auf einem Ast ausbreite und mir absichtlich mit der Antwort Zeit lasse. Ich rolle die angesammelte Munition in meinem Mund herum und hoffe, dass der Doktor meine beiden erwachsenen Schätze sieht, fest und seidig, unter meinem Bolero, aber es scheint wahrscheinlicher, dass Anna sie sieht, was ich eigentlich definitiv nicht möchte. Ich mache eine beiläufige Geste, dass der Weg frei ist, und sie hüpfen über den mit Kirschkernen übersäten Abschnitt. Ich habe das Gefühl, dass Anna eine große Sache daraus macht, aber sie trägt Riemchensandalen mit einem hauchdünnen Fußbett, vielleicht drückt sie es also wirklich in diese Füße. Vielleicht ist sie eine Prinzessin und eine Erbse unter einer Ladung von Puderkissen würde sie drücken, aber dann sollte sie keine Riemchensandalen tragen.
Sie schließen das Tor auf und verschwinden im benachbarten Garten. Ich sehe noch, wie sie die Steinstufen zum Seiteneingang hinaufsteigen – sie gehen immer durch den Seiteneingang, ich weiß nicht warum. Und dann verschwinden im Inneren. Sie drehen sich nicht einmal nach mir um.
Ich nehme einen Mund voll Kirschen und kaue. Sie schmecken überhaupt nicht mehr, also spucke ich alles aus, einfach die ganze Masse, mitten auf dem Gehweg zwischen einer Milliarde Kernen. Da liegt er, der rote Streuselkuchen mit meinem Speichel, weil ich ihn einfach nicht mehr mag. Es sieht eklig aus, also nehme ich lieber den leeren Korb und gehe in Deckung, bevor mich jemand ausschimpft.
*
Vor etwa zwei Jahren hat der Doktor angefangen, mit Anna hier entlangzulaufen, ich weiß es nicht mehr genau. Zuerst nur gelegentlich. Auf einmal tauchten sie auf der Straße auf und wechselten dann schnell auf die eine oder andere Seite. Dann wurde es immer häufiger, bis Anna schließlich von sich aus in der Nachbarschaft auftauchte und mir klar wurde, dass sie bereits mit ihm zusammenlebte. Das hat mich erstmal runtergezogen. Damit das klar ist: ich bin es, die den Doktor heiraten wird. Das habe ich schon geplant, seit ich zum ersten Mal über so etwas nachgedacht habe. Er ist achtzehn Jahre älter als ich. Als ich geboren wurde und meine erste Milch saugte, nuckelte er an seinem ersten Bier. Wer glaubt, das sei ein Hindernis, ist ein Idiot. Mit dieser Aussage zähle ich meine eigene Mutter, meine Großmutter, alle meine Lehrer und Lehrerinnen (sogar meine Lieblingslehrer), meine beste Freundin Radka und viele andere zu den Idioten. Nicht, dass sie wüssten, was ich mit dem Doktor vorhabe, aber man merkt schon, ob die Leute eine Ahnung haben oder nicht.
Das erste Mal, als ich sie zusammen sah, war im Sommer, wahrscheinlich in den Ferien, denn es war sehr spät in der Nacht, ich versteckte mich auf dem seitlichen Balkon und rauchte eine Zigarette. Die Straße war leer. In unserer Straße treibt sich nachts niemand herum, und wenn zufällig jemand gut gelaunt nach Hause kommt, plaudert und kichert er genauso subtil und leise wie die beiden. Ich sah ihnen zu, wie sie im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen verliebt kichernd und schnatternd den Bürgersteig entlangtaumelten. Der Doktor hielt sie um die Schultern, sie hatte sowieso wieder ihr Kleid und die bescheuerten Sandalen an. Ich war völlig aus dem Häuschen, vergaß die Zigarette in meiner Hand und ließ sie fallen. Ich konnte sehen, wie sie zum Tor taumelten und die Treppe zum Seiteneingang hinaufliefen. Dann ging drinnen das Licht an. Ich erwartete, wenigstens sich küssende Silhouetten zu sehen, aber ich konnte nichts erkennen. Eine halbe Stunde lang starrte ich auf das erleuchtete Fenster hinter dem abgedeckten Jalousien, bis schließlich das Licht ausging und es einfach vorbei war. Mit zitternden Fingern zündete ich mir noch eine Zigarette an und meine Welt brach zusammen. Drei Tage lang kam ich nicht mehr aus dem Bett. Meine Mutter dachte, ich wäre krank. Sie nervte mich mit Obst, also sagte ich ihr, ich hätte Bauchschmerzen, und dann nervte sie mich wiederum mit Salzstangen und schwarzem Tee. Nach drei Tagen fasste ich mich wieder und beschloss, mir Anna aus dem Kopf zu schlagen. Ich werde den Doktor heiraten, da kann mir irgendeine Anna gestohlen bleiben.
Ich machte wie gewohnt weiter und beobachtete aus dem Augenwinkel die Entwicklungen im Nachbarhaus. Es lief schlecht. Wie gesagt, sie waren immer öfter zusammen, und eines Tages wurde mir klar, dass sie bei ihm eingezogen war. Auch das konnte ich schließlich abwinken. Mein Glaube an unser Versprechen war unerschütterlich. Anna stellte nur eine Umsteigestation dar. Ein kurzer gemeinsamer Weg. Sie war die Ablenkung für den Doktor, während ich mich allmählich von meiner Kindheit verabschiedete. Anna war nicht wichtig.
*
Es ist Ferienbeginn, ich fahre mit meinen Eltern ans Meer. Unsere Ferienwohnung liegt direkt an der Küste. Jeden Tag schlafe ich bis zehn Uhr aus, mein Vater kauft in der Zwischenzeit Frühstück ein und meine Mutter liest Bücher und Zeitschriften. Sie hat schon mindestens eine Tonne geschafft. In der herannahenden Mittagshitze frühstücken wir auf der schattigen Terrasse Weißbrot ohne Geschmack, Kaffee, Tee und Nektarinchen. Normalerweise komme ich erst um zwei Uhr an den Strand. Ich muss mir die Haare machen, meine Haut reinigen, Sonnencreme auftragen, mir die Nägel machen, einen Bikini und ein dazu passendes Kleid aussuchen, meine Tasche packen. Zu Hause mache ich mir nicht so den Kopf damit, aber hier scheint es mir plötzlich wichtig zu sein. Ich betrachte mich im Spiegel und stelle mir vor, dass der Doktor mich so sieht. Der knapp sitzende Bikini enthüllt einen schönen runden Hintern. Zwei feste Brüste säumen den Brustkorb. Ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht mehr viel verändere, dass ich fertig bin. Und ich bin zufrieden. Ich tänzele mit Kleopatraschritten zum Strand, und wenn ich einen bequemen Platz weit weg von meinen Eltern gefunden habe, breite ich mein Handtuch aus, setze meine Sonnenbrille auf und lege mich in die Sonne. In regelmäßigen Abständen drehe ich mich vom Bauch auf den Rücken und vom Rücken auf den Bauch, und wenn mir die Hitze zu viel wird, nehme ich ein kurzes Bad im Wasser. Abends begutachte ich gründlich meine Bräune im Spiegel, bis es an der Zeit ist, mir ein anderes Kleid anzuziehen und zu einem späten Abendessen aufzubrechen. Die Streifen weißer Haut, die sich an den Stellen abzeichnen, wo ich sie mit meinem Bikini bedecke, stören mich sehr. Ich rolle den Bikini in immer schmalere Streifen, während ich am Strand liege. Ich löse die Schnüre und lege sie auf die Seite. Eines Tages wage ich es und lege das Oberteil ganz ab. Es dauert nicht lange, bis mein Vater kommt. Er zischt mir zu, dass ich mich anziehen soll. Ich tue so, als würde ich ihn nicht hören. Ich trage eine Sonnenbrille und habe Kopfhörer in den Ohren. Er probiert es noch einmal und fügt eine Art Drohung hinzu. Dabei versucht er, diskret zu sein. Der Strand ist voller Tschechen, denen ist der ganze Wirbel egal. Er fängt an, mich unbeholfen selbst anzuziehen, ich schiebe seine Hände weg. Er ist wütend. Mama stößt dazu und sagt ihm, er solle mich in Ruhe lassen, ich sei jetzt groß. Ja eben, presst er durch die Zähne hervor. Sie streiten sich in gedämpftem Ton. Schließlich zwingt uns mein Vater, zu den nahe gelegenen Olivenbäumen hinüberzugehen, und wir streiten uns dort weiter. Später am Abend streiten wir uns immer noch. Ich ziehe absichtlich eine zu kurze Hose an, die meinen halben Hintern entblößt, und binde den Saum meines T-Shirts oberhalb meines Bauchnabels zu einem Knoten zusammen. Wir gehen schweigend die belebte Abendpromenade entlang. Mama tut so, als ob nichts wäre und studiert die Speisekarten der Restaurants. Mein Vater ist wütend. Am nächsten Tag lasse ich mein Bikinioberteil vorsichtshalber zu Hause, und wir bringen den Rest unseres Urlaubs auf diese Weise hinter uns. Ich bin schön braun gebrannt und freue mich auf den Doktor.
Als wir zurückkommen, ist der Doktor nicht zu Hause. Egal, was ich tue, ich kann ihn kein einziges Mal im Nachbargarten erblicken. Wahrscheinlich ist er auch in den Urlaub gefahren. Die Ferien sind im Eimer. Ich lungere auf dem Balkon herum, auf dem Kirschbaum, und manchmal fläze ich mich auf einer Decke im hinteren Garten hin, um diese mediterrane Bräune zu behalten. Meine Mutter will mich zu einem beknackten Ferienlager zwingen. Ich erkläre kategorisch, dass ich nirgendwo hinfahre. Schließlich setzt sie sich durch und bevor der Doktor zurückkommt, bin ich mit meinem Koffer auf dem Weg zu einer stinkenden Hütte mit einem schmutzigen Pool. Ich denke, dass ich für dieses Ferienärgernis jedes Recht habe, meine Eltern in die stationäre Langzeitpflege zu stecken.
*
Nach den Ferien wechsle ich aufs Gymnasium. Ich hätte auch auf eine Kunstgewerbeschule in einer fremden Stadt gehen können, aber in meiner Situation kann ich natürlich nicht weg von hier. Als ich meinen Eltern erkläre, dass ich nicht hingehen würde, waren sie froh, und meine Mutter meinte, sie wäre erleichtert. Sich seine Hände in der Miloslav Stibor Kunstgewerbeschule zu Tode zu malen ist zwar schön, erstrebenswert und niedlich, aber nur bis zu einem gewissen Alter.
Das Verschwinden des Doktors macht mich langsam nervös. Sie haben seit fast anderthalb Monaten kein Licht mehr an, also denke ich, sie könnten umgezogen sein. Ich spreche es eines Abends beim Abendessen wie nebenbei an. Meine Mutter stochert gedankenlos in ihrem Salat herum und blättert wie immer in einer Zeitschrift. Sie versichert mir, ohne den Kopf zu heben, dass der Doktor von nebenan nur über seine Leiche ausziehen würde. Ich weiß nicht, woher sie diese Gewissheit hat, aber sie klingt überzeugend, also entspanne ich mich. Vielleicht haben wir uns bloß verpasst, als ich diesen ganzen Ferienstress hatte.
Die neue Schule ist für den Arsch. Alle dort sind furchtbar schlau, oder sie tun nur so. Sogar die Lehrer. Wenn du was Falsches sagst, stehst du wie ein Idiot da. Die gehen mir dort gehörig auf den Senkel. Am Anfang bin ich total gestresst. Ich denke über jede Frage blitzschnell nach und versuche eine Antwort zu finden, mit der ich punkten kann. Aber jedes Mal, in den zwei Sekunden, die zwischen der Frage und der Antwort vergehen, wenn ich versuche, mich zu einer intellektuellen Höchstleistung zu zwingen, habe ich ein totales Blackout und bin völlig leer im Kopf. Ich krieg nicht mal den erbärmlichsten Satz zusammen. Ich krieg auch mich nicht mehr wieder ein, geschweige denn einen Gedanken, also antworte ich nur noch irgendeinen Scheiß, dadurch ernte Spott oder Lob, je nachdem. Es dauert eine Weile, aber schließlich krieg ich mich doch wieder ein. Mit der Zeit, wenn es nicht mehr so neu und brandheiß ist, die ersten Eindrücke verarbeitet und die Leute in Schubladen verteilt sind, sich die Dinge ein wenig beruhigen, beruhige auch ich mich und bekommen den nötigen Überblick. Ach Gottelchen, jetzt erst fängt der Spaß so richtig an. Es ist nur ein Spiel. In meinem Kopf frage ich mich: Bin ich besser? Ich verstehe, dass meine Klassenkameraden dieses Spiel auch spielen, aber die Erwachsenen vor der Tafel,
die freiwillig mitmachen, also die erstaunen mich Tag für Tag für Tag, immer und immer, so dass mir die Spucke wegbleibt. Ich verstehe nicht, welches Elixier der inneren Befriedigung sie aus uns herauspressen wollen, aber ich bin entschlossen, keinen Tropfen davon abzugeben.
Ich stehe ein wenig deplatziert in der Mitte des Lehrerzimmers unserer Klassenlehrerin, sie sitzt hinter ihrem Schreibtisch. Wir haben gleich ein gemeinsames Gespräch darüber, wie wir uns an unserer neuen Schule einleben. Ob alles in Ordnung ist und so weiter. Die Klassenlehrerin ist eine ältere Frau, trägt ihr Haar lang und locker bis zur Hälfte des Rückens, bewegt sich in diesen schwungvollen Kurven, und ihr Haar schwebt dabei immer ein wenig wie ein dickes Segel nach oben, nach links und nach rechts, je nachdem, ob sie ihren Rücken zur Tafel oder zu ihren Notizen am Lehrerpult wendet. Ich weiß noch nicht, was ich von ihr denken soll. Sie hat Röntgenaugen, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sie ist direkt und kompromisslos. Als ich ihr Büro betrete, nimmt sie sich erst einen Moment Zeit, um mich mit ihren Augen zu vermessen und sagt dann, Hamplová, auf in den Kampf? Ich frage sie also, was los ist, und sie sagt, dass sie noch nicht das Vergnügen hatte, aber ein paar Kollegen haben sich schon beschwert, dass ich nicht mitarbeite, also wenn ich etwas dazu sagen möchte, bitte sehr. Ich sage also, dass ich bereit bin, mitzuarbeiten, wenn es nur ein wenig Sinn macht, und sie sagt, toll, und ich solle die Sinnfrage meinen Lehrern überlassen, sie täten ihr Bestes, fügt sie noch hinzu. Und ich sagte, na ja, genau das ist das Problem. Und sie runzelt die Stirn, seufzt und sagt, also doch Kampf, und schickt mich weg. Es tut mir fast leid, ich würde das Gespräch gerne fortsetzen, aber sie hat offensichtlich keine Lust dazu, und ich will mich ihr nicht aufdrängen.
Radka analysiert die ganze Sache auf dem Nachhauseweg, sie wäre ja ganz sympathisch, nur müsste sie etwas mit diesen Haaren machen. Ich sage lieber nichts dazu. Radka und ich kennen uns seit der ersten Klasse, wir wohnen zwei Straßen voneinander entfernt, wir sind zusammen in die Grundschule gegangen, und jetzt verbringen wir die nächsten vier Jahre zusammen in der neuen Schule. Noch ein Jahr zuvor war dies mein Traum gewesen. Ich habe mich schließlich auch wegen Radka fürs Gymnasium entschieden, aber seit wir im September dort angekommen sind, werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Was zur Hölle gehen mich die Haare meiner Klassenlehrerin an?
Beim Doktor geht abends das Licht wieder an. Als ich die beleuchteten Jalousien im Huas gegenüber von meinem Zimmer bemerke, tanze ich vor Freude den Flur entlang, stürme in die Küche, wo meine Mutter das Abendessen vorbereitet, und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. Mama versteht das nicht. Ich eile aus der Schule, halte mich im Garten auf, bis es dunkel wird, in der Hoffnung, ihn zu treffen. Die erste Person, die ich auf der Straße erblicke, ist Anna. Sie sieht seltsam aus. Sie hat einen Bauch.
Das ist ein weiterer Schlag für mein bereits gebrochenes Herz. Und dieses Mal ist es ein größerer Schlag als der, den sie mir mit ihrem Erscheinen an der Seite vom Doktor versetzt hat. Ich weiß sehr wohl, dass ein Kind keine Kleinigkeit ist. Mit Anna verband ihn bloß gegenseitige Zuneigung, sie war auf seinen Wunsch hin hier. Mit einem Kind geht die Sache tiefer. Körperlicher. Ein Kind kann man nicht einfach so wegschicken, weil man es sich anders überlegt hat. Es wird immer da sein, wie sein Erzeuger. Die Hälfte der Zutaten zu seiner Erzeugung hat er beigesteuert, aus seinem Körper. Das wird sich nicht mehr so leicht abtrennen lassen, das ist mir klar.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Hana Hadas