WINTER
Dann fällt uns auf, dass es ein Gesicht hat.
Die Lippen lösen sich voneinander wie die Klappen eines Himmel-und-Hölle-Spiels, geben aber keinen Laut von sich. Sára leuchtet mit ihrem Handy in den Wust aus Formen in der Dunkelheit. Wir erkennen Augen, suchen darin ein Bewusstsein, das zu uns zurückleuchten könnte.
Der Körper ist klein, fragil. Wir wissen nicht, wo er beginnt und wo er endet, was zu ihm gehört und was nicht. Etwas wie dünne Schläuche, die mit den Ranken des Gestrüpps verflochten sind, ineinander verheddert wie Kopfhörerkabel. Ein Stück Fleisch, oder auch nur ein Lappen.
„Lass uns nach Hause gehen, Sára.“
Sára sagt nichts. Sie streckt ihre Hand ins Dunkel. Atmet ein, atmet aus.
Nicht weit von hier ist das normale Leben, doch hier unten ist Niemandsland. Die Steppe. Eine Bodensenke, die von irgendeiner Schlacke ausgehöhlt wurde, über uns der Autobahnring, eine Eisenbahnbrücke, der Stacheldrahtzaun des Zugdepots, lauter Barrieren, Verbote, Gebüsch.
Oben rauschen die Autos in hoher Geschwindigkeit vorüber, ein Güterzug fährt langsam eine nicht enden wollende Strecke. Sára reicht mir ihr Handy.
„Leuchte du mal.“
Sie zieht ihren Mantel aus, breitet ihn zögernd über die Stellen, wo sie den Körper vermutet. Sie hüllt ihn in den beigen Wollstoff, klopft ihn vorsichtig mit den Händen fest.
„Hilf mir. Wir nehmen es mit.“
Wenn uns jemand hier unten sieht, können wir nicht mehr so einfach nach oben. Wir hätten längst zu Hause sein können.
*
Der Abend war nicht so gut verlaufen. Wir brauchten frische Luft.
„Das wird dir gut tun. Besser als herumsitzen und Trübsal blasen“, hatte ich zu ihr gesagt.
Jemand von uns kommt auf diesen Ort zu sprechen. Angeblich haben sie die Steppe wieder gesperrt. Das tun sie jedes Mal, wenn dort irgendetwas ausläuft, wenn sich jemand verirrt oder verletzt. Es werden Absperrungen errichtet, ein paar Tage lang streifen Feuerwehrleute, Polizisten, Gesundheitsbeamte umher. Dann verschwinden sie wieder, als wäre nichts gewesen.
Vielleicht wollten wir nur mal gucken.
Der Alkohol hatte unsere Neugier oder unsere Dummheit geweckt. Wir kamen ein bisschen ins Reden. Gelangten bis zur Stadtgrenze, dorthin, wo das Netz der Straßenlaternen endet und nur noch Finsternis kommt. Ein See ohne Wasser. Eine toxische Zone, die sich wie eine Krankheit bis in die Stadt ausbreitet. Die meiste Zeit nimmt keiner von ihr Notiz – wie das mit Krankheiten der Fall ist. Entlang der Steppe führt ein schmaler Asphaltweg zu der Stelle, wo wir uns befinden. Tagsüber nutzen ihn Radfahrer und Jogger. Jetzt ist hier niemand zu sehen. Keine Blaulichter, Fehlalarm.
Nur das Auto einer Sicherheitsfirma.
Irgendwo vor uns leuchteten Scheinwerfer auf. Ich wollte keinen Ärger kriegen und nahm Sáras Hand, um sie wegzuziehen.
Da wendet das Auto, die Lichtkegel zielen lange in die Finsternis des verbotenen Geländes.
„Wer ist da?“, ruft der Wachdienst.
„Lass uns lieber gehen.“
„Nein, warte. Schau mal.“
Sára zeigt nach unten. Dort bewegt sich etwas.
Im nächsten Moment startet das Auto, die Scheinwerferlichter streichen über die Pfeiler der Brücken und verschwinden. Sára läuft los. Steigt über die Leitplanke und klettert hinunter.
*
Unter der Brücke hallt das Brausen der Lastwagen wie in einer Kirche.
Ich fasse das Ding an den Füßen – oder was immer das ist. Ich spüre, dass ich einen Körper berühre. Es ist nicht Wärme, nicht Bewegung, nichts dergleichen, aber man spürt es einfach. Dass man etwas Lebendiges in der Hand hält.
„Zieh.“
„Du musst ziehen, los“, sagt Sára.
Wir kämpfen mit dem Gestrüpp um den Körper. Zweige, Fasern oder Haare reißen ab. Vor Widerwillen würde ich am liebsten schreien, was hier sowieso keiner hören würde, es würde nur von den Betonbäuchen der Brücken zu uns zurückhallen.
Ein Ratschen, und das Ding ist frei. Leicht wie nasses Papier.
Wir taumeln unter das Licht der Brückenlampe. Betten den Körper in Sáras Mantel. Es sieht nach nichts Menschlichem, nichts Tierischem aus. Vor unseren Mündern stehen Atemwolken.
Im ersten Moment bemerken wir nicht, dass das Auto der Sicherheitsfirma zurück ist. Ich verdecke den kleinen Körper, gebe mich beduselt, wir sind Anwohner, die ein bisschen zu viel getrunken haben, wir verziehen uns schon. Nach oben können wir nun nicht, nicht mehr.
Wir bahnen uns einen Weg durch den Schlamm und die verdorrten Sträucher, Sára sagt etwas.
„Was?“
„Ich dachte, es wäre ein Kind.“
*
Auf die andere Seite des Zauns zu gelangen, geht nicht so schnell. Wir reichen uns den Körper über unsere Köpfe hinweg.
Meine Jacke wird vom Drahtgeflecht aufgerissen. Das Ding gleitet in Sáras Arme wie ein Packen Schmutzwäsche.
Das Wochenendhäuschen meiner Oma. Es sieht aus wie früher. Der Schlüssel liegt unter dem Blumentopf. Drinnen kommt mir nichts vertraut vor.
Wir tasten uns durch das Dunkel der Datsche. Ich versuche mich zu erinnern, wo die Sicherungen sind, stemme den Kasten mit Besteck auf. Ein altes gelbes Licht erhellt den Raum – erstaunlicherweise gibt es Strom. Sára hat Laken gefunden.
„Jetzt noch Bettzeug.“
„Vielleicht in dem anderen Schrank?“
Den Körper hat sie aufs Bett gelegt, wo er reglos liegen bleibt. Vor Sáras Mund ist der Atem gefroren.
„Machst du Feuer?“
*
Ich lasse ein paar Holzspäne aufflammen, gebe einen Scheit dazu.
Das fremde Ding immer in Sicht.
Es sieht jetzt kleiner aus.
Stümpfe von dürren Gliedmaßen, eine schlaffe Brust, ein runzeliges Gesicht. Fell, Haut, Kabel. Von Plastikteilen durchwachsenes Fleisch. Triebe. Wenn ich es lange genug anschaue, erkenne ich etwas Vertrautes darin. Etwas, was ich kennen könnte. Ein Tier, ein Kind. Dann fällt mein Blick auf Omas Foto an der Wand. Die Ähnlichkeit des Dinges mit etwas Menschlichem oder auch nur Lebendigem ist verschwunden.
Es ist seltsam, wie gut das Körpergedächtnis funktioniert. Der Karte folgend hätte ich diesen Ort nicht gefunden. Mir kam die Erinnerung wieder von damals, als die Steppe noch keinen Namen hatte, noch nicht so groß und seltsam war. Zu der Zeit hatte die Stadt kein Augenmerk für sie.
Jetzt ragt sie tunlichst über sie hinaus, überquert sie wie eine ätzende Pfütze.
Wir waren eine Weile durch die Dunkelheit gegangen, tiefer in die Steppe hinein.
Die Lichter der Stadt wurden allmählich schwächer, verschwanden hinter dem Wall aus Gebüsch und Gerümpel. Dann stießen wir auf einen Trampelpfad. Meine Füße erinnerten sich an das weiche Gelände. Auf einmal wussten sie, wohin sie gingen.
Sára hatte nichts einzuwenden. Nach Hause konnten wir nicht mit dem Ding. Der Sicherheitsdienst hätte uns sofort abgefangen. Daraus hätten sich nur Schwierigkeiten ergeben.
Es war eine Erleichterung, als ich den Schlüssel fand und im Schloss umdrehte. Jetzt ist es merkwürdig. Ich habe mich in meine Erinnerung versenkt und etwas Fremdes mit hineingebracht, das nicht darin sein soll.
„Kannst du mir nicht helfen?“
Sára macht den Zipfel eines Geschirrtuchs nass und führt ihn zum Mund des Dinges, sie behandelt es wie ein Neugeborenes.
„Du solltest dich nicht so darüberbeugen. Es könnte dir was tun. Oder du steckst dich mit irgendwas an.“
Sie hört mir nicht zu.
„Ich gehe nicht weg. Ich bleib bei dir. Keine Angst“, flüstert Sára in das Deckenbündel.
Die Brust des Dinges bewegt sich rasch. Es atmet wie ein Tier. Ein Vogeljunges. Oder ein ramponierter, missgestalteter Welpe. Ein Feldkatzl. So nannte Oma die jungen Katzen, die bei der Geburt Schaden erlitten und von ihrer Katzenmama verstoßen wurden.
„Ich bin hier bei dir“, murmelt Sára weiter. Sie legt sich zu dem Ding, stützt ihren Kopf in die Hand.
*
Kredenz, Sofa, Kachelofen. Ich wandere eine Weile durch den Raum, als wüsste ich, was ich tun soll.
Mehr zufällig gehe ich hierhin und dorthin und bleibe jeweils stehen, wenn ich etwas Bekanntes entdecke. Omas gerahmtes Porträt, ihr junges, unnahbares Gesicht, das streng zurückgekämmte Haar, die fest verschlossenen Lippen, die Uhr, die nicht mehr funktioniert, ein morsches Plakat des historischen Stadtzentrums.
In der Kredenz finde ich eine Flasche Rum.
Ich gieße etwas in Gläser, reiche eines davon Sára. Das wird sie ein bisschen entspannen.
In der Datsche wird es wärmer. Sára zieht vorsichtig die Decke weg, studiert aufmerksam den kleinen Körper.
„Sie ist nur unterkühlt. Bestimmt geht es ihr bald besser“, sagt sie. Als sei es für sie gar keine Frage, was das Ding für eines ist.
„Morgen früh gehen wir nach Hause. Wahrscheinlich müssen wir da erst mal in Quarantäne bleiben oder so.“
„Ach, ich bitte dich.“
Dann steht sie ein bisschen beschwipst auf. Guckt sich im ganzen Haus um, prüft das Schlafzimmer, als handelte es sich um ein Hotelzimmer.
„Ich lege sie zu mir ins Bett, ja? Hilfst du mir, sie rüberzutragen?“
Sie legt ihre Kleider sorgfältig auf einen abgewetzten Stuhl. Löst ihre Haare.
Ihr T-Shirt erinnert mich an heute Morgen in der Stadt. Es kommt mir vor wie vor einem Jahr.
*
Für mich bleibt das Sofa, meine Füße ragen in die Luft hinaus.
Ich decke mich mit einem alten Handtuch zu. Wie gerne würde ich in der nächtlichen Straßenbahn sitzen und meinen schweren Kopf an die Scheibe lehnen.
Was tun wir hier? Mit dem da?
Ich wälze mich von einer Seite auf die andere. Irgendwann stehe ich auf. Nebenan im Zimmer ist Sára friedlich am Schlafen. In die kalten Bettdecken gehüllt schnarcht sie leise, als wäre an dieser Nacht nichts außergewöhnlich.
Einen Moment lang suche ich das Ding. Ich glaube, dass es sich vor mir versteckt.
Als ich lange genug schaue, zeichnet sich in der Dunkelheit der Umriss eines schrumpeligen Kopfs ab.
Als kleiner Junge habe ich die Gespenster überlistet, indem ich mich mit ihnen befreundete. Ich behauptete vor ihnen, sie seien nicht böse. Ich habe gelacht, hahaha, das ist ja witzig, das ist lustig, tu das nicht, hahaha. Ich wiederholte es so oft, dass sie irgendwann darauf eingehen mussten. Und dann durfte man den Blick nicht mehr abwenden.
Das Ding liegt auf dem schmalen Bett, in Griffweite von Sára. Warum hat sie es so nah neben sich gelegt?
Morgen früh werden wir die nötigen Anrufe erledigen. Wir zahlen eine Geldbuße und dann gehen wir.
An einer Klaue des Dinges regt sich etwas. Es sieht aus wie ein Finger.
„Milch.“
Sára spricht im Schlaf. Ich kann ihre Augen nicht erkennen. Vielleicht ist sie wach.
„Das machen sie, wenn sie Milch trinken.“
Im Haus gegenüber geht ein Licht an.
*
Früher Morgen, Kopfschmerzen. Verschwommen taucht die vergangene Nacht vor mir auf.
Es dauert eine Weile, bis ich mir bewusst werde, wo ich bin. Oma blickt düster vom Foto auf mich herab.
Ich gehe zu Sára ins Schlafzimmer. Das Ding liegt am Fußende des Betts. Im Tageslicht wirkt es wie ein kleiner Abfallklumpen. Wie etwas, das sich zufällig zusammengeballt hat. Sára wird gerade erst wach. Kaum öffnet sie die Augen, widmet sie sich auch schon diesem unverständlichen Körper. Wie auf Kommando beginnt der kleine Brustkorb sich zu heben.
„Können wir jetzt fahren? So früh am Morgen werden sie das Gelände wohl nicht überwachen.“
Keine Antwort.
„Die Haltestelle ist nur ein paar Minuten von hier. Ich fahre direkt zur Arbeit, und du ruhst dich zu Hause aus, dann treffen wir uns dort später. Lass alles so, wie es ist. Nichts aufräumen.“ Sárah beachtet mich nicht. Vorsichtig kontrolliert sie den Körper des Dinges.
Ich versuche es noch einmal mit Empathie:
„Wollen wir es vielleicht zu den Nachbarn geben? Denen nebenan?“
Sárah steht rasch auf. Vorsichtig deckt sie das Ding zu. Sie geht hinüber in die Stube. Fängt an herumzuräumen.
„Ich lasse sie hier ganz bestimmt nicht allein, also nimm dir Homeoffice.“
Sie öffnet die abgeblätterte Kredenz, nimmt einen Topf heraus und geht damit zur Spüle.
„Das ist kein Trinkwasser. Du kannst es auch nicht abkochen“, sage ich zu ihr.
Sára zieht eine Grimasse.
„Das bedeutet, wir haben kein Wasser.“
Sie öffnet die Tür zum Garten. Kalte Morgenluft dringt ins Haus.
Draußen sieht es aus, als hätte jemand auf Neustart gedrückt. Im Garten stehen ein paar dünne Apfelbäume, Kirschbäume, Aprikosenbäume, Anblicke, die mir nichts sagen. Ein geschwollener Himmel.
Sára ist irgendwo hinten zugange, ich sehe die gelben Gummistiefel, die noch von Oma stammen.
Freitag. Wie viel Uhr ist es eigentlich? Ich habe vergessen, auf mein Handy zu schauen. Ich kann nicht leugnen, dass mir das ein bisschen gefällt.
Sára schlüpft an mir vorbei zurück ins Haus.
„Wir müssen hier Wasser haben.“
„Wir müssen nach Hause gehen“, entgegne ich.
„Beruhige dich. Es ist doch gut so. Können wir es nicht als eine Art Ausflug betrachten? Als Erholungsaufenthalt, für die Gesundheit. Der Arzt hat gesagt, dass ich so etwas brauche.“
Ich muss an das Ding im Schlafzimmer denken. Gesund sieht es nicht gerade aus.
(…)
Aus dem Tschechischen übersetzt von Sophia Marzolf