Prolog
70. Jahre
DER MAULWURF VON HACKNEY
William „Mole Man“ Lyttle fand sich am Anfang seiner eigenen Geschichte des unterirdischen Londons. Der Weinkeller, den er unter seinem Haus bauen wollte, war in den letzten Wochen auf die Größe eines Atombunkers gewachsen.
„Unter der Erde bewegt sich was, da stimmt was nicht”, sprachen vorsichtig, hinter ihren Fenstern versteckt, die Anwohner der Mortimer Road. Es war höchst unwahrscheinlich, dass das Aus-dem-Fenster-Lehnen den Brennpunkt der Ereignisse beeinflussen könnte; dennoch ließen die Nachbarn, ob auf der Straße oder unter vier Augen, einhellig Vorsicht walten. Mit der Zeit verinnerlichten sie ihre seltsamen Verhaltensweisen. Die Teller klirrten, die Bücher fielen herunter, der Boden bebte. Für die Anwohner der Mortimer Road nichts Ungewöhnliches. Unangenehme Gefühle kamen nur dann an die Oberfläche, wenn die Bewohner dieses östlichen Teils von London die geheimnisvollen Bewegungen mit William in Verbindung brachten. Ohne ihn waren es nur Kombinationen harmloser Zufälligkeiten. Sie geschahen einfach so, ohne jegliches Zutun. Aber in Verbindung mit seiner Person wurden sie plötzlich zu etwas Unheilvollem, jedes neue Beben im Haus wurde in ganz Hackney als Vorahnung ihrer finsteren Zukunft gedeutet, die Lyttle unter der Erdoberfläche vermutlich erkundete. Sie hatten keine Angst vor den Folgen, die sollten ja erst einige Jahrzehnte später sichtbar werden; sie fürchteten sich auch nicht vor Lyttles angeblicher Psychose, die sein Handeln antrieb. Nein, für die Menschen im Viertel war der Maulwurf unter seiner Diagnose, die sie morgens in der Schlange murmelnd erstellten, während sie ein paar bedeutungsvolle Blicke in Richtung seines Hauses warfen, ganz nackt. Seine Arglosigkeit reichte bis zu der Stelle, in die sich ihre Neugier hineinbiss. Fragen wurden angenagt, Antworten aber nicht angerührt. Warum gräbt er unter seinem Haus? Folgt sein Handeln womöglich einem natürlichen, für das menschliche Auge unsichtbaren System? Ergibt sein durch den Wahn angetriebenes Werk nach der Vollendung sogar Sinn? Die Anwohner von Hackney, die Lyttles Exzentrizität aus Versehen ein Werk nannten, waren dem Maulwurf zum Greifen nah.
Die Tunnel unter seinem Haus verliefen sich in verschiedene Richtungen. Wenn William einmal mit dem Graben begonnen hat, musste er es bis zum Ende bringen. Stieß er auf ein Hindernis, wartete er geduldig, und wenn nichts weiter geschah, machte er an einer anderen Stelle weiter. Es machte ihn nervös, wenn er ein Hindernis nicht zu greifen bekam und nicht begreifen konnte, was genau ihn daran hinderte, in der einzig richtigen Richtung fortzufahren. Er schloss die Augen, versuchte, sich die Umrisse des jeweiligen Gegenstandes vorzustellen und wenn möglich auch, wie dieser unter die Erde gekommen war. Solche Handlungen verliehen ihm das Gefühl, seinem unterirdischen Geheimnis auf Augenhöhe zu begegnen. Je verzweigter die Gänge seines Labyrinths wurden, umso mehr entfernte sich das Werk von seinen Anfängen. Mit den Jahren ähnelten die Tunnel ganzen Städten, sie schlängelten, verengten sich. Verwinkelte Gänge endeten in Sackgassen. Die allgegenwärtige Stille war für William essenziell; er musste in der Lage sein, fremde Geräusche möglichst genau zu erkennen. Er teilte sie ein nach Dringlichkeit und dem Grad möglicher Gefahr.
„Ich bin unter euch, aber niemand ist unter mir”, erklärte er sich sein Bedürfnis, die Geräusche zu kartieren. Durch das Annähern an die Mitte der Erde kam noch eine andere gravierende Folge zum Vorschein. Williams Trenchcoat, in der Taille nachlässig mit einem Knoten gebunden, schüttelte unter der Erde die Schichten der oben entstandenen Geschichten ab.
Wenn Humphrey Bogart zu Ingrid Bergman sagt, es bleibt ihnen immer noch Paris, schafft er damit einen fest in der Zeit verankerten Ort. Die Geschichte kann in die dicht verschlossene Erinnerung nicht eindringen, durch Frankreichs Hauptstadt fließt weiterhin unbeschwert die Seine. In Casablanca schützt Bogart vorm Regen ein wetterfester Mantel: In den folgenden Jahrzehnten holt die Hollywood-Romantik dieses Kleidungsstück aus den Schützengräbern und erklärt ihn zum Statussymbol. Im Film Noir kündigt das Wetter ein unheilvolles Ereignis an, auch deswegen muss ein im Schatten agierender Detektiv einen Trenchcoat tragen.
Dem schleimigen Gangster und dem geschwätzigen Journalisten gehört das Tageslicht, unten in den Tunnelgängen gehörte jedoch die Identität des Mantels Lyttle allein. Diese Anonymität passte ihm gut; und war er in seinem vorigen Leben ein Fremder, so konnte er sich hier das Wort wirklich aneignen. Auf die Oberfläche kehrte er nur selten zurück; den Weg zu den anderen nahm er nur dann auf sich, wenn er bei sich keine Bücher mehr trug.
„Unsere Leben sind für uns keine Geschichten mehr.”
* * *
EIN RITUAL FÜR EINGEWEIHTE
2011
Zum zweiten Mal wird man, und oft handelt es sich dabei um eine Frau, in dem Moment geboren, wenn man entscheidet, kein Objekt bohrender Blicke zu sein, sondern diejenige, die schaut. Teil einer stillen Vereinbarung zweier Augenpaare, des erotischen Konsens.
Über männliche Blicke, denen man sich nicht entziehen kann, wurde in der Literatur schon viel geschrieben. Sie stürzen sich auf die Frauen von hinten, als Verkörperung der Nichterwiderung. Der Betrachter betritt als voyeuristischer Eindringling fremde Privatsphäre. Ein einziger Blick kann ganze Leben erschaffen, ganz gleich, ob die, an deren Entstehung beide Akteure direkt beteiligt sind, oder die verdeckten, imaginären. Sie erstrecken sich über den ganzen Bereich der Fantasie, bis man fast vergisst, dass es sich um eine Beziehung handelt, in der man allein steht.
Um Alyona, der ich an jenem Abend in Soho begegnet bin, zu beschreiben, brauche ich nicht die Schönheit zu schildern, die nur dafür da ist, um die Handlung zu verstehen, den Sinn der Geschichte. Wenn ich jetzt zurück ins Swift in Old Compton Street zurückkehre, kehre ich zurück zur Erforschung einer durch das Wiederholen beglaubigten Geschichte. Alyonas Bedeutung entstand, und entsteht immer noch, durch das wiederholte Abspielen von Gesten und unzuverlässigem Gedächtnis im Kopf. Ich möchte, dass man Alyona mit meinen Augen sieht. Letzten Endes sind es die Überlebenden, die Geschichten erzählen können. Und Geschichten liegen größtenteils in den Händen der Erzähler. Alyonas Schönheit lag in ihrer ungewöhnlichen Körperhaltung, und sie war sich der Wirkung seit jeher bewusst. Das seichte Neigen des Kopfes, mit dem sie Empathie signalisierte. »Mich berührt, was du sagst.« Eine Frau, die sich ihrer selbst bewusst war.
Ein Mann könnte schreiben, er habe den Raum betreten, und während er an der Tür lehnte, erblickte er in der Ecke Alyonas einsame Silhouette. Das Swift, ein Lokal, mit einem Namen für einen zeitlich begrenzten Raum mit ständigem Strom neuer Gäste, betritt also seine Silhouette zuerst. Alyona bemerkt den sich nähernden Schatten, dreht sich in seine Richtung und die Ereignisse nehmen ihren Lauf, an dessen Ende ihr tragischer Tod steht. Der Mann setzt sich wortlos neben sie; beide umhüllt das dämmrige Interieur, ein bisschen Art-déco-Dekadenz, typisch für den Film Noir.
Der männliche Blick wäre vermutlich nicht imstande, Alyona von der Gefahr zu unterscheiden, die sie darstellen sollte. Ich habe das Gefühl, dass ich es erst jetzt, durch meine Rückkehr hierher begreifen kann. Jetzt kann ich die früher unbestimmten, beunruhigenden Falten klar benennen.
Ich fühle mich beobachtet. Selbst wenn ich allein bin. Frauen werden dieses Gefühl oft nicht los, egal wie sehr sie sich bemühen. Frauenkörper existieren als Drohung und anschließende Einladung zur Bestrafung für alles, wofür sie in unserer Gesellschaft herhalten müssen. Sie stehen unter ständiger Beobachtung von Institutionen, Menschen und Sprache. Als würde jeder einzelne auf den Moment warten, bis der Körper nicht mehr den Erwartungen entspricht; zu welken beginnt und verblasst. Ein langsam gewordener Körper ist genauso gefährlich wie ein Körper, der sich verwandelt, der der Sprache trotzt, den Menschen und Institutionen. Auf Frauenkörpern wurden ganze Gesellschaften errichtet.
In den austauschbaren Kulissen einer Bar rücken Nuancen in den Hintergrund, bleiben unbemerkt. Trotzdem musste ich Alyona ausgerechnet dort begegnet sein, sage ich mir; keine andere Umgebung hätte das Potenzial dieser Begegnung erfüllen können. Bars haben ihre Geschichten. Und unsere begann so:
Ich beobachte Alyona unauffällig schon seit einer Weile. Sie liest. Bereits bei dieser ersten Betrachtung an diesem Abend bewegt sich in mir etwas. Ein paar Tage nach unserer Begegnung stoße ich auf einen Artikel über den rätselhaften Herzschlag einer kosmischen Gaswolke. Auf den ersten Blick ist an der Wolke nichts Rätselhaftes. Auf den zweiten schon. Ihr Inneres pulsiert im Rhythmus des benachbarten Schwarzen Lochs. Unter der Gammastrahlung scheinen beide Formationen miteinander auf unerklärliche Weise verbunden zu sein, eine Verbindung über mehrere Lichtjahre. Bis heute kann sich niemand erklären, wie das Schwarze Loch das Herz der Wolke mit Energie versorgt. In meinem Kopf bringe ich die beiden Ereignisse natürlich zusammen. Ich begegne Alyona und etwas in mir bewegt sich. Ein Echo eines kosmischen Ereignisses.
Alyona hebt den Blick von ihrem Buch und schaut in meine Richtung. Ich spüre ihren Blick, einen, den sie bis vor einigen Minuten vermutlich selbst in ihrem Körper gespürt hat. Als unsere Blicke sich treffen, erscheint auf ihrem Gesicht ein leises Lächeln. Unsere Augen rühren sich nicht. Ihr Lächeln wächst, belustigt rümpft sie die Nase. Sie steckt sich das Haar hinters Ohr und dreht sich verunsichert zum Buch. Als ihr Blick wieder zu mir wandert, zeigt sie auf den leeren Platz neben sich. Achtet dabei auf die fragend gehobene Augenbraue.
„Gibt es Bücher, die du besonders gern liest? Oder nie?”, mit der zweiten Frage setze ich mich hin und lege mein Sakko daneben. In der Zeit, als es noch undenkbar war, eine Person desselben Geschlechts anzusprechen, die Anziehung mit Worten auszudrücken, haben sich beide Seiten vor allem auf den Blick verlassen. Auf seine vielsagende Wirkung. Alyona legt ein Lesezeichen ins Buch und klappt es zu. Fordert mich zur Reaktion auf. „Der Tod auf dem Nil”
„Du stehst also auf graue Gehirnzellen”, sage ich.
„Definitiv.” Den Ellenbogen auf das Buch gestützt, das Gesicht zwischen Daumen und Zeigefinger gelegt. Sie schaut mich neugierig an.
Im Untergeschoss der Bar herrscht im Vergleich zur Leichtigkeit der oberen Etage, die dem Laden seinen Namen gab, eine ganz andere, dichtere Atmosphäre. Die Ästhetik setzt hier auf dunklere, tiefere Farbtöne. Tief hängende Lampen und dunkle Eichenmöbel haben etwas seltsam Betörendes. Die Tische passen genau in die runden Nischen. Die Sessel sind mit rotem Leder bezogen. Hier gehen die Abende zu Ende, nicht umgekehrt.
„Ich lese keine Krimis“, beginnt Alyona und schaut mich im Spiegel an, „ich lese keine Krimis, um zu erfahren, wer es gewesen ist.“ Beim letzten Wort schaut sie mich schon direkt an. „Ich komme sowieso nie drauf, dafür ist mein Kopf nicht gemacht.“ Weil ich schweige, fährt sie fort. „Was ich mag, ist die Sicherheit, dass es ein Ende gibt.“ Sie wirkt nachdenklich.
Vielleicht war ihr bis zuletzt nicht bewusst, was sie da gerade gesagt hat. Die Erkenntnis tauchte erst beim Aussprechen auf der Oberfläche. Es beunruhigte mich, was sie an diesem Abend sagte. Im Unterschied zu Alyona machen mir Mysterien Angst. Alle Versuche, sie zu verstehen, sind verlorene Liebesmüh, sie existierten schon immer und werden auch weiterhin außerhalb unseres Verständnisses existieren. Aber ihre Behauptung konfrontierte mich unbeirrt mit einer möglichen Realität. Ein paar Monate, ein Jahr später wird sie spurlos verschwunden sein, alle Ermittlungen eingestellt. So wird auch die offizielle Stellungnahme lauten – die Fotografin Alyona Shevchenko ist spurlos verschwunden. Was ich mag, ist die Sicherheit, das es ein Ende gibt. Alyona verschwand nicht so, wie es Frauen passiert, die spätabends allein nach Hause gehen. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Ihre Telefonnummer verstummte, und ihre Accounts bei den sozialen Medien verschwanden. Zu niemanden, mit dem später die Polizei sprach, hatte sie nur ein Wort gesagt. Sie hatte nicht ihr Geld vom Konto abgehoben oder sich in den letzten Monaten komisch verhalten. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden. Die Erschütterung mildert nur die Annahme, dass sie das vermutlich genau so wollte. Die Menschen haben die Angewohnheit, nur das zu beachten, was für sie eine bestimmte Bedeutung hat, um es später zu einer Erinnerung zu formen. Jetzt, wenn es Alyona nicht mehr gibt, kommen mir längst vergessene Gesprächsfetzen in den Sinn.
„… zum Leben gehört auch, diese unleugbare Sehnsucht anzunehmen, das eigene Leben zu verlassen.” Sie nimmt einen Schluck aus dem dünnen Glas. „Auch deswegen würde ich so gern New York, London und Odessa zu einem einzigen Ort machen. Ich glaube, dann könnte ich es besser verkraften, irgendwie.”
„Hattest du auch immer die größten Pausenbrote von allen?” Ich platziere ein Fragezeichen zwischen uns.
Ich will konzentriert wirken, mir nicht anmerken lassen, wie mich der Alkohol und das Treiben um uns herum abstumpfen. Aber der Körper widersetzt sich dem Befehl, mein schnelles Atmen lässt sich nicht beherrschen. Eine Migrationserfahrung ist für jemanden, der es nicht erlebt hat, kaum übersetzbar. Der Schlüssel zur Beschreibung eines migrantischen Lebens ist im besten Fall die Widersprüchlichkeit. Es kann, und wird wohl auch, den Anschein machen, dass ich mich selbst verleugne, und es stimmt ja auch. Das Leben in fremden Ländern läuft gegen die Mutterzeit. In einer anderen Sprache gehen wir die Zäsuren des Lebens noch einmal durch, werfen weg, was und wer wir einmal gewesen waren. Kämpfen gegen die Zeit.
Alyona beißt sich in Lippe. Starrt auf ihr Buch, nickt und blinzelt langsam. Auf einmal atmet sie laut aus. Begreift: „In den ersten vier Jahren sind wir siebzehnmal umgezogen. Aus der Sowjetunion sind wir nur deswegen rausgekommen, weil wir uns für Juden ausgegeben haben. So kamen damals einige zu ihrem Flugticket. Erst nach ein paar Jahren in den USA habe ich verstanden, dass man sich als Migrantin nicht mit Sicherheiten abspeisen lassen soll, sondern immer nach vorne schauen, in die strahlende Zukunft. Ich hatte immer das größte Pausenbrot. Was, wenn etwas schiefläuft, und wir wieder weg müssen?”
Sie hebt den Blick vom Buch. Die Pupillen sind geweitet. „Mit den Jahren habe ich dort eine Abneigung gegen das normierte Vorstadtleben entwickelt. Vor der Uni bin ich für ein Jahr zu meinem Vater nach Odessa gegangen und habe dort Englisch unterrichtet. Da wurde mir klar, dass ich unbedingt reisen muss. Eine unstillbare Sehnsucht, der ich mich nicht widersetzen kann. ”
„Das stell ich mir schön vor”, sage ich als jemand, die sich schon immer vor neuen Erkundungen fürchtete. Europa heißt für mich die Verbindung zwischen Prag und London.
„Auf jeden Fall!”
Ich betrachtete Alyona und dachte über Mysterien und ihre Auflösungen nach. Unbemerkt kamen mir der verschwundene James und seine unvollendete Geschichte in den Sinn. Obwohl er erst vor Kurzem verschwunden war, warteten alle nur noch darauf, dass man seinen Körper fand. Den wird man aber nie finden. Über seine Geschichte hat jemand anders entschieden.
Jede Beziehung hat ihre Sprache und jede Sprache ist ein Ritual für Eingeweihte. Wenn man die Sprache nicht beherrscht, versucht man es zuerst mit dem Zeigen. Auch Liebespaare aus großer Literatur fühlten sich immer, als würden sie gerade neue astronomische Körper entdecken. Alyonas Körper war nur ein Behälter für einen Menschen, in den ich mich nach und nach verliebte. Und er war auch der Ort der Begegnung. Trotz meiner Vorgeschichte hätte ich schwören können, alles zum ersten Mal zu erleben. Küsse, Berührungen, die zitternde Erregung. Über das weibliche Begehren spricht man oft so, als wäre es etwas unvermeidlich Verqueres. Aber an meinem Bedürfnis, auf Alyonas Körper mit dem Finger zu zeigen, ein Ritual für Eingeweihte durch unsere geheime Sprache zu erschaffen, ist gar nichts Verqueres. Könnte man Jahrhunderte später Relikte von Ritualen einer erloschenen Liebe finden, wären sie auch schwer zu dechiffrieren.
Wenn ich über eine Beziehung wie über eine Sprache spreche, muss ich auch erwähnen, dass ich bis heute Stimmen höre. Aber nur die ihre, die unsere ergibt Sinn. In Amazonien gibt es ein Volk, das nicht darüber spricht, was es selbst nicht erlebt hat. Die Menschen kennen keine Geschichten aus den Urzeiten, warum auch? Sie waren ja nicht dabei. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ergibt für mich unsere fast schon antike Geschichte ohne Alyonas Anwesenheit auch keinen Sinn.
Aus der Bar in Soho sind wir bis nach Borough gelaufen. Irgendwo bei der Millennium Bridge hat sie mich gefragt, ob ich weiß, dass Shakespeares Globe da gegenüber nur eine Nachbildung ist, eine Replik, die hunderte Meter vom ursprünglichen Theater aufgebaut wurde. Ich konnte es nicht nicht wissen. Ich hab es ja studiert. Aber wenn die Ereignisse mit deinen Worten sprechen, höre ich darin ein Echo von etwas längst Vergangenem, das wirklicher als unsere Wirklichkeit ist, ging mir dabei durch den Kopf.
Begeistert redet sie weiter: „Das ursprüngliche Globe Theater wurde durch ein Feuer vernichtet, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, oder so”, Alyona schaut in Richtung einer gestörten Geschichte. Fast schon ungeduldig, schüchtern, gehe ich ein paar Schritte auf sie zu. „All das hier ist erst vor Kurzem entstanden”, flüstert sie und zieht mich an sich. Es ist Januar und in London ist es ungewöhnlich kalt. Ich würde sie gern fragen, was sie so macht mit ihrem Leben und dabei ihren Gesichtsausdruck beobachten, die leicht veränderte Intonation. Ich kann sie nirgends einordnen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es mir egal ist.
Ich lud Alyona zum Frühstück ein und zwei Tage später wurde mir bewusst, dass das Band zwischen uns keine Beweise braucht. Und das, obwohl die Literatur sehr gern Beweismaterial sammelt und die Liebe ausführlich erklärt. Der Kanon spricht eindeutig. Unser Band wuchs nicht im Verhältnis zur Zeit, es blieb zwischen uns in seiner gewaltigen Größe, die das kosmische Ereignis, verpackt in einem erwiderten Blick, angedeutet hatte.
Die beiden wichtigsten Frauen meines Lebens standen den Katastrophen bedrohlich nah. Spielten mit Feuer. Aber im Unterschied zu meiner Mutter war Alyona – ist Alyona – jemand, die keine vernichtenden Feuer legt.
Ein paar Monate nach unserer ersten Begegnung fragte sie mich: „Wusstest du das schon immer?“ Ich wollte mich von der Frage nicht verunsichert zeigen, sofort Klarheit gehabt, es schon immer gewusst haben. Als Jugendliche schäme ich mich für meine Zerrissenheit, für die Unklarheit, die meine Beziehung zu Frauen schon immer bestimmte. Viele Jahre verneine ich meine eigentlichen Gefühle.
Zuzana verkündete oft, dass sie sich, sollte sie erfahren, dass sie bald stirbt, eine Schrotflinte besorge und jede Schwuchtel erschieße, die ihr unter die Finger kommt. „Ich würde mich nicht kampflos ergeben”, pflegte sie zu sagen.
In solchen Momenten wurde mein Körper zu einem bloßen Umriss, einer Schale erstarrter Erlebnisse. Ich spürte gar nichts, nicht einmal das eine Gefühl: diese Art Einsamkeit gepaart mit der Angst zu verschwinden.
Mit Alyona waren alle Zweifel verschwunden. Die Scham stirbt, wenn wir unsere Geschichten in geschützter Umgebung erzählen, oder etwa nicht? Ich hätte gern meine eigene Vergangenheit näher an die ihre gerückt und überzeugend von der seit der Kindheit gefestigten Sicherheit gesprochen. Stattdessen waren da diese Scherben, die Flashbacks. Der Sinn kam erst später, mit dem nötigen Abstand.
Bei einem Schulausflug in der Grundschule sitzen wir alle im Kreis. Ein vorsichtiges Vertrauen, getragen von dem Gefühl nur von Mädchen umgeben zu sein und der Tatsache, in einem geschlossen Gebilde zu sitzen. Die Verletzlichkeit liegt nur im Inneren.
„Und er gefällt dir auch?”, fragt eine der Klassenkameradinnen verhalten in den Kreis hinein.
Ich rufe mir die Details seines Gesichts ins Gedächtnis. Sanfte Züge eines knabenhaften Körpers, viel zu große Augenringe und geschmeidig zarte Haut. Ich kann nicht mehr sagen, ob die Unsicherheit durch die Pause entstand, durch Alyonas Frage, oder ob ich schon damals mit der Antwort gezögert habe.
„Ja”, atme ich unsicher aus, senke den Blick und erst Momente später wage ich die Reaktionen im Kreis zu erkunden. Vielleicht habe ich in der Zwischenzeit sogar überlegt, wie ich mich eigentlich fühlen sollte.
Ich bin gerade achtzehn geworden, Erik und ich sitzen auf einer Bank. „Ich muss noch ein paar Dinge klären, und würde mich dann bei dir melden, ja”, sage ich in sein in der goldenen Stunde leuchtendes Gesicht. Der Satz scheint auf der Oberfläche zu bleiben, tiefer kommt er nicht.
„Soll heißen?”. Er legt die Beine über Kreuz und zeichnet mit dem Finger wütend das Ende des Satzes.
Ich weiß es bis heute nicht. Erst mit Alyona, mehr als zehn Jahre später, beginne ich über angelernte Emotionen nachzudenken, über die Liebe, abgeleitet von gesellschaftlichem Dogma. Die Heterosexualität wird vorausgesetzt, und damit entsteht auch ihre Natürlichkeit. Ich kann nicht sagen, inwieweit ich sie mir angeeignet habe. Ich würde lügen, wenn ich meine Gefühle Männern gegenüber abstreite. Sie schenkten mir lange, unerwiderte Blicke. Ich genoss das Gefühl, gewollt zu werden, und ich bin damit definitiv nicht allein. Die Attraktivität, diese verführerische Schwere eines männlichen Blicks konnte ich nicht ignorieren. Und lange konnte ich ihr auch nicht widerstehen.
Es gibt ein Volk in Amazonien, das weder die Vergangenheit noch die Zukunft kennt; sie haben keine Sehnsüchte und Wünsche. Da gibt es ein Unterschied zu uns. Die Zukunft bekam mit Alyona klare Umrisse und auch eine Richtung, ohne Ende. All das ging mir durch den Kopf, während Menschen an meinem Auto vorbeiliefen. Es war höchste Zeit, Borough zu verlassen. Ich spürte, wie ich fiel und zu verschwinden drohte. Mein Atem wurde schneller, war nicht aufzuhalten. Bilder jagten durch meinen Kopf: Alyona, wie sie unsicher eine Haarsträhne hinters Ohr legt, Alyona, die ihre ungezähmte Leidenschaft offenbart, Alyona mit ihrem weich werdenden Blick. Alyona, die mich fest umarmt, unmissverständlich. Alyona, und das Leben abseits alltäglicher Routinen. Für das, was zwischen uns war, gibt es keine Bezeichnung. Unsere Beziehung ähnelte in vielem der Geschichte von Djuna Barnes, in der sich die Schriftstellerin nicht als eine Lesbe bezeichnete, sondern als jemand, die Thelma liebte. Es gibt fast keine Bezeichnung, die die Unermesslichkeit der Emotion einfangen kann.
Alyona.
Es ist Zeit, zu der ersten, ursprünglichen Katastrophe zurückzukehren.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Martina Lisa