LESEPROBE
Viktor Duba hatte von seinem aschkenasischen Vater nicht nur die gebogene Nase geerbt, sondern auch die Ansicht, dass ein Jude am besten im Kaffeehaus aufgehoben war. Obwohl sein Jüdischsein nicht matrilinear war und er nach der Halacha nicht zum auser- wählten Kaffeehausvolk gehörte, machte ihn nichts glücklicher, als an einem x-beliebigen Ort, wo es gesprächige Menschen gab, bei einer Tasse Espresso zu sitzen, ihnen zuzuhören und alles im Gedächtnis zu vermerken. Ein richtig gewähltes Kaffeehausam- biente schwang auf derselben Frequenz wie Viktor Duba und die daraus resultierende Harmonie war manchmal so vollkommen, dass ihm selbst gar nicht bewusst wurde, wie viel mentale Energie er aussandte. Fast immer war nämlich der Kaffeehaustisch auch sein Arbeitsplatz. Der heutige Tag bildete dabei keine Ausnahme.
„Hast du was mit ihr?“, fragte Jana Koutská.
„Mit wem?“
„Mit Zora Opasková.“
„Bist du wahnsinnig?“
„Sie ist intelligent, hübsch, jung. Eine Dreierkombi nach deinem Geschmack“, ergänzte sie mit wissendem Lächeln. Jana Koutská
wusste, wovon sie sprach. Sie war selber schlau wie die kluge Bau- erntochter und ihre Schönheit war auch noch nicht verblüht. Vor zwanzig Jahren, als sie außerdem noch über den dritten Teil der er- wähnten Kombination verfügte, hatte sie mit Viktor für ein paar Mo- nate in einer Beziehung gelebt, die viel zu intensiv war, um Hoffnung auf eine Zukunft zu haben. Mehrmals täglich schworen sie einander leidenschaftlich ihre Liebe (überwiegend in abgelegenen Winkeln des Rundfunkgebäudes, wo beide arbeiteten), ab und an kriegten sie sich genauso leidenschaftlich in die Haare, und ihre gegenseitige sexuelle Anziehungskraft war so gewaltig, dass für beide regelrecht die Gefahr bestand, sich zu Tode zu vögeln. Noch zwei Jahre nach ihrer Trennung waren sie nicht in der Lage, normal miteinander zu sprechen. Erst Viktors Weggang vom Rundfunk trug zu einer all- mählichen Beruhigung bei. Heute waren sie die allerbesten Freunde.
„Janička, du weißt genau, dass die Opasková nicht mein Typ ist.“
„Geschmäcker ändern sich.“
„Sie ist verheiratet“, sagte er, und da Jana gerade Luft zu einem Einwand holte, fügte er schnell noch hinzu: „Glücklich verheiratet.“
„Das ist ein triftiges Argument.“
„Ich kann mit einem noch triftigeren dienen: ihre Kandidatur.“ An Janas Gesichtsausdruck las er ab, dass sie ihm nicht folgen kon- nte, und schob eine Erläuterung hinterher: „Eine Wahlkampagne ist eine höllische Schufterei. In letzter Zeit krieche nicht nur ich, sondern jeder bei uns in der Bewegung wortwörtlich auf dem Zahn- fieisch. Wir arbeiten zwanzig Stunden am Tag. Und wir haben reale Aussichten auf einen Erfolg. Wegen einer kurzen Romanze alles aufs Spiel zu setzen, das wäre total idiotisch.“
„Also hast du dir’s im Prinzip verboten“, brachte sie seine Argu- mente auf den Punkt. „Liebst du sie platonisch?“
„Für platonische Liebe bin ich impotent“, antwortete er mit ei- nem Zitat. „Ich will einfach, dass die Opasková ins Europaparla- ment kommt. Und du kannst mir dabei helfen.“
„Warum sollte ich?“
„Weil sie gut ist. Darüber hinaus könnte dabei auch für dich was rausspringen. Würde dir’s nicht gefallen, deinen Ruf ein bisschen aufzupolieren? Deinem Chef und den jüngeren Kollegen, die dir im Nacken sitzen, zu zeigen, dass du immer noch die Janakonda bist?“ Ihr Spitzname, den sie sich vorzeiten durch ihre berufiiche Taktik aus blitzartigen Angriffen und furchtloser Verbissenheit eingehandelt hatte, war allmählich in Vergessenheit geraten. Er vermutete, dass sie das wurmte, und fuhr einschmeichelnd fort:
„Du moderierst doch die Debatte am Donnerstag, oder?“
„Du hättest gern, dass ich den Chytil durch den Dreck ziehe“, kapierte sie. „Der ist euer direkter Konkurrent. Die Opasková führt in Prag, Chytil in Mähren.“
„Seine Chancen sinken, wenn über ihn was ans Tageslicht kommt.“ Er holte eine alte Ausgabe des Respekt aus seiner Tasche, öffnete das Heft auf der mit einem Lesezeichen markierten Seite und legte es vor Jana hin. „Es reicht, wenn du die ersten beiden Absätze liest.“
Sie vertiefte sich in den Text. Nach einer Weile fragte sie: „Was ist Stavotep? Eine Baufirma?“
„Ein Mammutunternehmen. Das gibt’s schon lange nicht mehr. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger haben die in Russland eine Ausstellungshalle für den Ausschuss der tschechoslowa- kisch-sowjetischen Freundschaft gebaut. In dem Artikel geht’s da- rum, wie die ganzen riesigen Betriebe nach der Revolution den Bach runter gegangen sind, weil sie das Privileg als staatliche Monopo- listen verloren hatten.“ Er hörte auf zu sprechen, damit sie in Ruhe zu Ende lesen konnte. Als sie den Kopf hob, redete er weiter: „Der Ausschussvorsitzende war Svatopluk Ráž – noch bevor er Konsul in Moskau geworden ist. Ein anderer Svatopluk, der Matějček, war stellvertretender Direktor von Stavotep. Und die beiden Svatopluks haben zusammen Aufträge von den Sowjets gekriegt. So weit klar?“
Jana nickte.
„Matějček ist 1971 in die Staaten emigriert. Besonders gut lief’s dort nicht für ihn. Er hat eine Firma gegründet, die ist bankrott gegangen, dann hat er …“
„Mach’s kurz, in zwanzig Minuten muss ich im Rundfunk sein.“
„Die Welt aus den Angeln gehoben hat der Genosse Matějček jedenfalls nicht. Heute lebt er in irgendeinem Kaff bei Boston. Er ist in Rente …“
„Holst du jetzt endlich mal das Ass aus dem Ärmel?“, fuhr sie ihn an und ihre Augen schlugen Blitze. Genauso zügellos hatte sie sich früher mal in seiner Haut verbissen. Das erregte ihn, vielleicht wür- de er sich das auch heute gefallen lassen. Aber heute spielten sich ihre Scharmützel lediglich auf verbaler Ebene ab. „Wie soll denn so eine eingestaubte Story den Chytil in die Bredouille bringen und die Opasková ins Europaparlament?“
„Guck mal auf Chytils Sponsorenliste und auf den Betrag, den ihm der Rentner Matějček überwiesen hat.“
„Ist es viel?“
Viktor hauchte die Glasplatte ihres Tischs an und schrieb die Ziffer mit dem Finger darauf. Beide sahen schweigend zu, wie sie wieder verschwand. „Erspartes wird das ja sicher nicht sein“, kon- statierte er.
„Wo kommt die Kohle deiner Meinung nach her?“
„Die Erklärung findest du in einem Text von Paul Klebnikov, der heißt Wo das Geld der Oligarchen landet. Das ist der letzte Artikel, den er für das russische Forbes Magazine geschrieben hat. Erschienen ist er ein paar Tage, bevor sie ihn vor der Moskauer Redaktion erschossen haben. Ich schick ihn dir, dann brauchst du ihn dir nicht selber raussuchen.“
„Und was hat der zweite Svatopluk damit zu tun?“
„Svatopluk Ráž war Konsul in Moskau zu der Zeit, als dort sein Sohn Jiří am Institut für Internationale Beziehungen studiert hat. Genau wie Chytil.“
„Chytil war am MGIMO?“ Ungläubig runzelte sie die Stirn. „Hast du das gegengecheckt?“
Viktor nickte. „Ist gar nicht so schwer, da ranzukommen, wenn du weißt, was du suchst.“
„Also deiner Meinung nach“ – sie schaute sich um und senkte die Stimme – „wird Chytils Kampagne von den Russen gesponsert. Die wollen ihn nach Straßburg kriegen. Richtig?“
„Lies den Artikel von Klebnikov und bild dir deine eigene Mei- nung.“
Eine Weile starrte sie schweigend ins Leere, dann schüttelte sie zweifelnd den Kopf. „Ich darf mich nicht blamieren, Viktor. Um damit zu kommen, müsste ich was Greifbareres in der Hand haben, als dass der Sponsor Svatopluk Matějček ein armer amerikanischer Rentner ist. Da müsste man gründlich nachrecherchieren, und dazu ist keine Zeit.“
Sie stand auf. Er begriff, dass sie nichts tun würde, was ihren guten Ruf als erfahrene Journalistin, die nicht so einfach jemandem auf den Leim geht, beschädigen könnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen letzten, vorerst noch unausgereiften Trumpf auf den Tisch zu packen.
„Da wäre noch eine Sache“, deklamierte er mit stiller, konspira- tiver Stimme, und er wusste, dass er sie damit ködern würde. Was auch klappte. Sie setzte sich wieder hin. „Ich trage erst das Material zusammen, aber falls sich mein Verdacht bestätigen sollte, dann ist das wirklich eine dirty bomb. Es geht um Ráž junior.“
„Der in Moskau mit Chytil studiert hat?“
Er nickte. „Der Sohn des ehemaligen Konsuls ist Unternehmer im Bereich Nanotechnologie. Und meiner Meinung nach umgeht er mit Hilfe von Chytil und seinem Posten beim Amt für Aus- und Einfuhrkontrolle das Wassenaar-Abkommen für Exportkontrol- len von konventionellen Waffen und doppelverwendungsfähi- gen Gütern und Technologien. Also die man für zivile und auch für
militärische Zwecke nutzen kann. Und genau solche Güter expor- tiert Jiří Ráž.“
„Wohin?“
„Früher ausschließlich nach Russland, aber die Sanktionen ha- ben ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, also hat er einen neuen Weg gefunden. Der führt über Serbien – und Chytil fegt den für ihn sauber.“
„Hast du Beweise?“
„Bis jetzt nicht. Meine Kontakte nach Serbien sind nicht so, dass ich mich darauf verlassen könnte. Aber Jana, wenn ich mich recht erinnere, warst du mal die …“ Rechtzeitig konnte er sich bremsen und ersetzte die Formulierung, die er auf der Zunge hatte, durch eine weniger treffende, aber im gesellschaftlichen Umgang an- nehmbarere: „Du hast doch mal freundschaftliche Beziehungen zu so einem charmanten serbischen Journalisten gepfiegt, der hier ein Praktikum beim Rundfunk gemacht hat. Wie hieß der noch mal?“
„Bogdan. Der ist dann zurück nach Belgrad.“
„Seid ihr Freunde geblieben?“
„Beste Freunde, so wie mit dir“, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Viktor hatte keinen Zweifel, dass es von solchen „besten Freunden“ ganze Heerscharen gab. Auch ihnen verdankte sie es, dass sie so gut informiert war. „Er schreibt für die Pregled.“
„Wenn er bei so einem ambitionierten Wirtschaftsmagazin ist, sollte er den Überblick haben. Er soll mal gucken, was er über die Firma Napretka rausfinden kann. Die hat ein großes Netz aus Tochtergesellschaften in Serbien und im Ausland. Mit ein paar von denen hat Jiří Ráž geschäftliche Kontakte.“
„Ist das verboten?“, fragte sie und stand wieder auf. Viktor erhob sich ebenfalls. Er nahm ihren Mantel vom Garderobenständer und hielt ihn für sie auf.
„Ich mach mir keine Illusionen über die Vertrauenswürdigkeit von den Firmen. Die stellen nichts her, Webseiten findet man nicht.
Als würde’s die gar nicht geben. Sie vermeiden Reklame. Das macht auf mich den Eindruck, dass ihre einzige Aufgabe Im- und Export ist.“
„Von Ráž’ Waren“, ergänzte sie. „Nach Russland?“
„Vielleicht auch in andere Länder, die mit Sanktionen belegt sind. Beim Amt für Aus- und Einfuhrkontrolle habe ich die Auskunft bekommen, dass Serbien in den Kompetenzbereich von Chytil als stellvertretendem Abteilungsleiter fällt. Wenn er bei der Wahl jetzt Erfolg hat – und das großzügige russische Sponsoring könnte dazu beitragen –, wird seine Agenda von einem gewissen Grajcar über- nommen. Und ich hab’s geschafft, mir den zu schnappen.“
„Was hast du aus ihm rausgeholt?“
„Nichts. Aber einen Effekt hatte das Ganze doch: Kurz danach habe ich von Ráž eine Einladung zur Wildschweinjagd gekriegt. Willst du mir einreden, dass das auch ein zufälliges Zusammenspiel ist?“, fragte er und antwortete sich voller Überzeugung selbst: „Ach wo! Janička, der ahnt, dass ich ihm auf den Fersen bin.“
Konsterniert sah sie ihn an. „Fährst du hin?“
„Wenn ich Beute machen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf die Jagd zu gehen. Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit …“
„… dich zu erschießen“, sagte sie lächelnd. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wangen – vier Mal, auf bretonische Art. Wer auch immer ihr das beigebracht haben mochte (ein „bester Freund“ aus Rennes?), es war eine unabänderliche Angewohnheit, eine Art personal brand. Genau wie das Herausfischen eines Ta- schentuchs und die vertrauliche Bewegung, mit der sie ihm den dunkelroten Abdruck ihres Lippenstifts von beiden Wangen weg- wischte.
„Ich schick Bogdan in die Spur und geb Bescheid“, versprach sie und ging zur Tür.
„So bald wie möglich“, rief er ihr nach.
„Waidmanns Heil!“, sagte sie, statt zu antworten, und ging hi- naus auf die Straße.
Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch