Kristina Hamplová

Lover/Fighter

2024 | Dokořán

Prolog

Einen Menschen auf Steroiden zu erkennen, ist nicht schwer. Man muss nur wissen, wonach man sucht und ein bisschen Geduld haben. Nach und nach werden euch sicher ein schnell alterndes, mit Akne-Hügeln übersätes Gesicht, gerötete Haut oder ein aufgedunsener Bauch auffallen. Nach kurzer Zeit werdet ihr außerdem beobachten, wie sich eine Glatze von den Geheimratsecken aus über den gesamten Kopf frisst wie ein hungriges Vieh und wie sich unnatürlich starke Muskeln über den ganzen Körper spannen, also natürlich nur dann, wenn der Konsum von einem entsprechenden Training begleitet wird. Am besten lässt sich die Wirkung von anabolischen Steroiden an der Schulter- und Rückenpartie erkennen. Sich diese Muskeln schön herauszumeißeln ist harte Arbeit, einem Juicer genügen aber meist ein paar Monate und schon ragen ihm seine Deltamuskeln wie zwei spitze Flügelchen von den Schultern ab. Auf seinem Rücken wölben sich massige Trapezmuskeln, die ihn aussehen lassen, als würde unterhalb seines Nackens ein Laib Brot aufgehen.

Teils wird auch der Einfluss von Steroiden auf die Persönlichkeit diskutiert, wobei es jedoch häufig zu einem Missverständnis kommt: Anabolika führen nicht zu einer gesteigerten Aggressivität, man bekommt nicht Lust, jemanden einfach so zusammenzuschlagen; sie erhöhen lediglich das Durchsetzungsvermögen. Im Gegenteil sogar, ein Großteil der Konsumenten berichtet von einer größeren Ausgeglichenheit aufgrund des chemisch evozierten Selbstvertrauens. Allgemein empfinden sich Menschen unter Drogeneinfluss als gut gelaunt, stärker und leistungsfähiger. Erst nach Absetzen der Anabolika kommt es zu starken Stimmungsschwankungen oder

Depressionen.

Sirdin, ein in letzter Zeit besonders beliebter Extrakt aus dem blauen Fleisch einer weitverbreiteten Papageienart, könnte – verglichen mit klassischen Steroiden – nicht unterschiedlicher sein: es ist ein stark halluzinogener Stoff, der bei seinen Konsumenten eine chaotische Aggressivität hervorruft. Ein durch Sirdin induziertes Hoch dauert nur wenige Stunden an, statt eines Glücksgefühls im klassischen Sinne lässt es sich aber eher als ein Schwall süßer, verstrahlter Schadenfreude beschreiben. Der langfristige Wachstumseffekt von Sirdin ist etwas geringer als bei Anabolika, eine intravenöse Verabreichung ist jedoch nicht erforderlich. Allgemein gilt, dass ihr bei Oxana, Diana oder Trena, wie die klassischen Steroide in der Szene genannt werden, wisst, was euch erwartet. Mit dem Konsum von Sirdin wiederum begebt ihr euch auf unerforschtes Terrain, wo euch alles und jeder auflauern kann.

Körperliche Auseinandersetzungen zwischen Konsumenten von Sirdin sind ein äußerst unterhaltsamer Anblick. Auch deshalb erfreut sich der Extrakt bei einigen

Schaukampfsportarten so großer Beliebtheit. Solltet ihr in letzter Zeit jemanden gesehen haben, der einen anderen wirklich leidenschaftlich gebissen oder auf besonders kreative Weise gewürgt hat, dann handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Sirdin-User.

Die physischen Auswirkungen von Sirdin sind auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen. Auch bei einer hohen Dosierung lassen sich weder geweitete Pupillen, noch ein verkrampfter Kiefer oder etwa die von Pervitin-Konsumenten bekannten verräterischen nervösen Tics beobachten. Sirdin verursacht nichts dergleichen, es belastet nicht einmal Herz oder Leber. Abgesehen vom Muskelwachstum ist der einzig sichtbare langfristige Effekt eine vermehrte Körperbehaarung. Es scheint, dass Langzeitkonsumenten – welche bisher aber in nur sehr überschaubarer Zahl bekannt wurden – wollig wie Schafe sind.

In den vergangenen zehn Jahren wurde ich wegen einer hübschen Reihe Straftaten angeklagt, vom Schmuggel exotischer Vogelarten bis hin zur Abgabe von Drogen an Minderjährige. Auch wenn das meiste davon frei erfunden ist, machte es mich zum unfreiwilligen Gesicht des Sirdinfiebers. Es stimmt, dass ich zu den Leuten gehöre, deren Geschichte untrennbar mit diesem Stoff verbunden ist, und eine gewisse Teilschuld an dem in Prag aktuell grassierenden Verzehr von Papageienfleisch kann ich nicht abstreiten. Glaubt mir, ich habe dafür auch mehr als einmal auf die Fresse bekommen. Ich selbst habe Sirdin zum ersten Mal 2014 genommen und zum letzten Mal 2023.

Im Gegensatz zu dem, was über mich erzählt wird, habe ich aber nie auch nur eine einzige Krone an dem Papageienfleisch verdient. Auch Minderjährigen habe ich nie was gegeben, wenn ich auch für den Tod eines jungen Menschen verantwortlich bin. Der Zweck dieser Geschichte ist also nicht, meinen Namen rein zu waschen, sondern vielmehr über die anderen auszupacken. Am Anfang der Sirdin-Mania stehen außer mir drei weitere Personen: ein leidenschaftlicher Biologe aus der Prager Südstadt, ein Kleinstadt-Dealer und meine Ex. Von diesen dreien leben nur noch zwei – und die können mich am Arsch lecken.

 

*

2014

DONNERSTAG, ABEND: IM LICHT DER TASCHENLAMPEN FÜHLE ICH MICH SCHÖN WIE EIN POPSTAR

 

Es ist wahrscheinlich etwas peinlich, das so zu sagen, aber die Stadt, aus der ich komme, wurde vom Radsport zerstört. Ich wohne in einem hässlichen, aufgeblähten Kaff, das vom meistfrequentierten Radweg Mittelböhmens in zwei Hälften gehackt wird. Die Einwohner haben den Kampf gegen diese Sportinvasion längst aufgegeben: entweder sie schwangen sich selbst in den Sattel oder gewöhnten sich an den Ansturm behelmter Clowns wie an eine nicht zu stillende innere Blutung.

Sollte sich mal jemand die Mühe machen, einen Reiseführer über unsere Stadt zu schreiben, würde auf der ersten Seite Folgendes stehen:

Das Nationalgetränk ist Birell Pomelo-Grapefruit.

Die traditionelle Tracht ist der Fahrraddress.

Gesetzlicher Feiertag ist immer samstags.

Zentraler Marktplatz ist der Radweg.

Der Radweg ist in Wirklichkeit allerdings mehr als nur ein Marktplatz. Er ist Zentrum, Äquator, Aorta. So wie Küstenbewohner ihre Rituale an Ebbe und Flut ausrichten, so lassen wir uns vom Radweg durch alle Lebensphasen begleiten: Kinder lernen hier Inlineskaten, wir kommen zum Saufen her, Nachbarn treffen hier ihre Absprachen, Laientheatergruppen führen frivole französische Komödien auf. Die Heiligen Drei Könige kommen hier lang genauso wie die Markthändler mit ihren Rucksäcken voll hässlicher Töpferwaren. Im Sommer schwillt der heiße Asphalt dann unter den Hufen der müden Pferde an, die jedes Jahr aufs Neue die Kronjuwelen von Prag auf die nahegelegene Burg befördern müssen. Kurz gesagt, der Radweg ist für uns alles.

Den Asphalt haben sie irgendwann nach dem Hochwasser 2002 dort ans Flussufer hingegossen. Nachdem das Wasser über die Ufer getreten war, wurde damals auch eine Menge Geld angespült. Dieses Hochwasser ist sowieso eine meiner frühesten Erinnerungen: ich stehe auf der Fußgängerbrücke und unter mir treiben Einrichtungsgegenstände vorbei. Wie eine wilde Modenschau, nur dass sich hier statt Models eben Küchenzeilen und Waschmaschinen produzieren. Wir wohnten weiter oben am Berg und deshalb werde ich seitdem den heimlichen Gedanken nicht mehr los, dass Naturkatastrophen auch immer ein bisschen lustig sind.

Später riss das Wasser dann auch die Fußgängerbrücke mit. Die Stadt ließ eine neue bauen – für ein paar Millionen Kronen, die nach der Flut aus den matschigen Ufern herausgeschürft werden konnten. Diese neue Brücke ist sogar von der Nachbarstadt aus zu sehen: ein Sinnbild für das Überleben, für die neue Identität der Stadt und für eine strahlende Zukunft voll Prosecco und Border Collies. Um klar zu machen, dass diese riesige Brücke nach wie vor ausschließlich für Fußgänger gedacht ist, wurde auf beiden Seiten ein Poller in Form eines hässlichen, etwa einen halben Meter hohen Nagels hineingerammt. Diese Nägel waren lange die hässlichsten Skulpturen weit und breit.

Diese Scheußlichkeit konnte die Stadt erst viele Jahre später toppen: jede Ortschaft in der Region (entlang des Radwegs, versteht sich) konnte damals eine Schachfigur wählen, von der sie repräsentiert werden würde. Die Bewohner unserer Stadt votierten in einer Online-Abstimmung einstimmig für einen Bauern, ließen sich ein zwei Meter großes Exemplar gießen und platzierten es stolz neben dem Radweg. Manchmal muss ich mich über meine Heimatstadt gar nicht lustig machen, sie beleidigt sich selbst.

Die neueste Dumm-Skulptur wird ab 2022 das kleinstädtische Panorama bereichern. Es handelt sich um ein großes Thermometer aus Marmor, das die Stadt enthüllt, um zu feiern, dass es nirgendwo sonst im Land so fucking heiß ist wie hier bei uns. Grandios.

Jetzt haben wir aber September 2014, lange noch vor dem Bauern und dem Thermometer, ich stehe am Ende der Brücke, an den funkelnden Nagel gelehnt und starre in die Dunkelheit des Radwegs. Julie steht am Geländer und beugt sich hinunter. Heute kriegen wir auf die Fresse. Wo sonst, wenn nicht auf dem Radweg.

Das wissen wir, weil Julie heute Morgen eine SMS bekommen hat, in der drinstand:

Komm um Mitternacht zu den Betonbänken, da kriegst du auf die Fresse.

Die Betonbänke, das sind die, die verstreut am Radweg entlang stehen. Sie sind furchtbar unbequem, man kann sich auf ihnen aber gut die Inliner anziehen oder als Teenie auf der Lehne sitzen und in Ruhe saufen.

Das Problem ist, dass es ungefähr fünfzehn Stück davon gibt und wir nicht wissen wo wir hinmüssen, wenn wir jetzt also auf die Fresse bekommen wollen.

Niemand zu sehen, verkündet Julie, wahrscheinlich sind die weiter oben.

Und so ziehen wir flussaufwärts los.

Gegen den Strom zu gehen hat immer etwas von bergauf gehen und so kommt uns der Weg unendlich lang vor. Was hast’n du da am Schuh?, fragt mich Julie genervt. Bin irgendwo in ne kaputte Jelzin-Flasche getreten, sage ich ihr. Gesöff für Dumme und Schwangere, antwortet sie altklug und den Rest des Weges schweigen wir.

Es ist zwar schon Mitternacht, aber so richtig dunkel ist es nicht geworden. Der Himmel wirkt nur an einzelnen Stellen ein bisschen blasser, als wäre jemand mit dem Staubsauger drüber gegangen. Plötzlich kommt uns ein starker Wind entgegen. Es ist diese Art von Wind, bei der man sofort merkt, der kommt von weit her. Er reißt die Landschaft in Stücke, portioniert Entfernungen, schleudert uns weitentfernte Bäume direkt ins Auge und lässt wiederum das, was wir vor der Nase haben, fast unsichtbar werden.

Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum wir beinahe all die beleuchteten Unterarme übersehen, die wie aus dem Nichts vor uns auftauchen. Es erwartet uns eine eigenartige Formation: sechs Mädels und alle zielen sie mit den grell leuchtenden Kameralichtern ihrer Smartphones auf uns. Sie filmen uns. Als ich mich ein wenig umsehe, wird mir klar, dass sie in Wirklichkeit zu siebt sind: eine von ihnen hält ihre Unterarme allerdings in der Dunkelheit verborgen. Das verleiht ihr eine besondere Wichtigkeit – sie muss keinen Finger rühren, dafür hat sie Leute.

Als Julie und ich uns den Betonbänken nähern, den fremdländischen Wind im Haar, fühlen sich die leuchtenden Handys an wie eine volle Konzerthalle. Die siebenköpfige Schar empfängt uns mit einem aufgeregten Schweigen. Sie warten auf uns. Ich allein fände das ja ein bisschen peinlich, ich mag es nicht, wenn jemand auf mich wartet, und sei es mein Feind. Julie aber hält sich nicht mit solchem Blödsinn auf: sie weiß ganz genau, dass wir heute die Stars des Abends sind – und die kommen nie vor Mitternacht auf die Bühne. Ich mache es wie Julie und ihr Selbstbewusstsein ist ansteckend: im Licht der Taschenlampen fühle ich mich schön wie ein Popstar. Also nicht nur eine Kuh, sondern auch noch eine besonders blöde, zerstört das Mädchen mit den in der Dunkelheit versteckten Armen endlich die Stille und ruiniert damit meinen kleinen Moment der Wonne. Es ist Saša.

Was ich über sie weiß: wir kannten uns mal ziemlich gut, sie ist zwar ein paar Jahre jünger als ich, aber unsere Mütter waren befreundet. Ihre Familie wohnte in einem großen Haus mit einem Hund und einem stinkreichen Vater, der irgendwo in den Emiraten arbeitete und praktisch nie da war. Saša ging immer richtig gerne Schwimmen – sie war überzeugt davon, eine tiefere Verbindung zum Element Wasser zu haben als wir alle. Sie ging uns damit manchmal richtig auf die Nerven und wehe, man sagte vor ihr, dass man selbst gerne baden ging, dann wurde sie stinksauer. Das ist aber alles furchtbar lange her, damals, als wir uns noch nicht selbst aussuchen konnten, mit wem wir unsere Zeit verbringen. Und jetzt tun wir immer so, als wäre das alles nie passiert und als würden wir uns überhaupt nicht aneinander erinnern. Saša ist jetzt hübsch wie eine Bratz-Puppe und bis heute Nacht hatte ich gedacht, dass sie auch ganz nett ist. Ich weiß noch, dass sie sich im Skikurs beim Liftfahren vollgekotzt hat und dass sie mit einem Typen geht, der ein gutes Stück älter sein muss als sie, weil irgendjemand mal erzählt hat, dass er ihn gesehen hätte, wie er Saša mit dem Auto von der Schule abholt.

Saša teilt Julie also mit, dass sie eine blöde Kuh ist, und dann fliegt auch schon ihr rechter Haken aus der Dunkelheit hervor und Julie bekommt einen ordentlichen Schlag auf die Nase. Ich bin erstmal in Schockstarre, aber dann fällt mir ein, dass ja gefilmt wird. Und ich will sicherlich nicht in dem Video zu sehen sein, wie ich einfach nur dumm rumstehe und glotze. Während ich versuche, mich zu prügeln, nagt der Gedanke in mir, ob ich nicht vielleicht auf der falschen Seite kämpfe. Ich kenne Julie ja eigentlich gar nicht und ehrlich gesagt, ist sie ganz schön seltsam. Gerade ist aber nicht die Zeit, um darüber nachzudenken und außerdem sind die anderen in der Überzahl. Für Schwächere einzustehen ist schließlich immer richtig, egal wer gerade Recht hat. Julie reißt währenddessen Saša an den Haaren, als ginge es um ihr Leben. Vielleicht wäre sie bei diesem Powerplay auch allein ganz gut klar gekommen.

Es ist die erste richtige Schlägerei meines Lebens und boah, dauert die lange, fast fünf Stunden – macht mir aber ziemlich Spaß. Wir prügeln uns, laufen um die Betonbänke herum und dabei fängt es langsam an zu dämmern. Auf die kalt gewordenen Beton fallen die ersten Sonnenstrahlen, der Wind lässt nach. Wir atmen schwer und hauen uns jetzt ein bisschen sanfter. Ein paar Mädchen liegen schon auf dem Boden und schauen uns auf die Ellbogen gestützt zu. Gefilmt wird schon lange nicht mehr, das Material ist im Kasten, aber wir haben noch keine Lust aufzuhören und nach Hause zu gehen. Ich habe mir das Schienbein aufgeschürft und das Knie aufgeschlagen, von meinem Bein tropft Blut auf den Boden. Es kitzelt, als würde eine Maus über mich laufen.

Der Kampf endet erst, als sich am Horizont ein Schatten abzeichnet. Der Schatten heißt Zdeněk und ist der Vater von einem Jungen, den wir Pelikan nennen. Warum, verrate ich euch nicht. Er kommt in Inlineskates auf uns zu, droht uns mit seiner Sporthandschuh-Hand und wird von einem tiefen, kehligen Lachen geschüttelt. Was denn unsere Eltern sagen würden, zu so einem nächtlichen Vergnügen.

Wir grüßen höflich, rappeln uns auf, ich verdecke mein blutendes Bein und wir trollen uns nach Hause zu unseren eigenen Zdeňeks. Die meisten Väter hier in der Stadt sind so – Fahrraddress, die Haare weich wie ein Frotteetuch und die Hand eher aus Spaß erhoben. Kannst dir deine Ohrfeige gleich abholen, hatte Zdeněk immer zu Pelikan gesagt, wenn der Sohn frech war, und über sein Gesicht hatte sich dabei ein lachender Halbmond gezogen. Zdeněk hat früh Kinder bekommen – mit fünfundzwanzig hatte er schon drei. Er war so ein Papa-Muli, das Pelikan in einem Fahrradanhänger hinter sich her zog, bis der Sohn alt genug war, selbst Fahrrad zu fahren. Pelikans Mutter, sorgenvoll, aber schlussendlich willig, ließ sich zu allem möglichen überreden, kümmerte sich an den übrigen fünf Tagen um ihr Kind, wenn das Papa-Muli im Büro in Prag eingespannt war und mit seinem schallenden Lachen die Siebträger der Kaffeemaschinen oder die Zapfhähne in Prager Kneipen in Schwingung versetzte.

Meine Eltern waren in dieser Hinsicht schon immer anders und verfolgten uns Kindern gegenüber eine harte Linie. Leise schleiche ich mich ins Haus, ich habe Hunger, aber an den Kühlschrank kann ich nicht ran, weil Mama eine Gabe dafür hat, selbst im tiefsten Tiefschlaf das Schmatzen der Kühlschranktür zu hören, und dann sofort alle Geschütze auffährt. Meine Eltern reden seit ein paar Jahren mit niemandem mehr im Ort und eigentlich reden sie auch nicht mehr viel mit uns Kindern. Bei Familienfeiern sitzt Mama da wie ein Teenager, mit angezogenen Knien, auf denen sie das Kinn ablegt, und verdreht die ganze Zeit die Augen.

 

*

 

MITTWOCH, NACHMITTAG: JULIE IST PARANOID

Mit Julie spreche ich am Tag vor der Prügelei am Radweg zum ersten Mal. Unser Kennenlernen ist richtig romantisch: an einer Tankstelle.

Also, es ist nicht so, dass wir vorher nicht von unserer Existenz gewusst hätten, aber in einer Kleinstadt ist es oft einfach Zufall, mit wem man sich angewöhnt zu reden und wen man eben übersieht. Von den meisten Leuten weiß man ungefähr, wer sie sind, wo sie wohnen oder zu wem sie gehören, aber man kann halt nicht immer alle grüßen. Es macht Sinn, sich seine Höflichkeit für die älteren Leute aufzusparen und auf die Kinder und Teenager eher zu pfeifen, also, wenn man jetzt nicht konkret mit ihnen befreundet ist. Anfang September 2014 war Julie definitiv keine Freundin von mir.

Die Tankstelle am Rand unseres hässlichen Städtchens ist vor kurzem um eine Stop & Relax-Zone erweitert worden, was bedeutet, dass es draußen jetzt eine hübsche Sitzgarnitur aus Holz gibt und drinnen Würstchen mit Chilisauce. Ja, ich weiß, das klingt furchtbar, aber für uns ist es einfach der perfekte Ort. Nicht so teuer wie die Cafés am Marktplatz oder die Pizzeria, die Eltern erwischen einen hier nicht mit der Kippe im Mund (wie am Fluss) und es belästigt dich keiner (wie in der Bahnhofskneipe).

Ich komme gerade aus der Klokabine, da hockt Julie auf dem Waschbecken wie eine Vogelspinne und glotzt mich an. Sie mustert mich vom Kopf bis zu den Finger- und Zehenspitzen, von den Wänden und dem Boden dröhnt noch die Spülung wider und sie sagt:

In meinem ganzen Leben habe ich noch kein hottes Girl getroffen, das keine Verdauungsprobleme gehabt hätte.

Wie kommt man auf die Idee, so etwas zu sagen? Aber ich bin geschmeichelt. Hör zu, du hast hier Freundinnen, redet Julie direkt weiter und ich nicke stolz. Sie sitzen draußen, die meisten sind aus Prag, sie sind gekommen, weil heute mein letzter Tag Hausarrest ist. Ich habe Hausarrest, aber ich kann mit dem Hund raus (er liegt unterm Tisch), also kann ich auch Würstchen mit

Chilisauce im Stop & Relax essen und dann

Verdauungsprobleme haben, so wie jedes hotte Girl.

Weißt du, ich werde verfolgt. Ich brauche jemanden, der mich beschützt, sagt Julie zu mir und erst jetzt fällt mir auf, dass, abgesehen davon, wie sie da auf dem Waschbecken kauert, auch ihr Outfit komisch aussieht: sie trägt eine Windbreaker-Jacke, darunter ein rot-schwarzes Korsett und in den Haaren verhedderte dünne, bunte Haargummis. Möchtest du das nicht vielleicht direkt auch den Mädels draußen erzählen, schlage ich vor. Nicht, dass die besser wüssten, was zu tun ist, aber ich habe keine Lust, ihnen alles nochmal vorzukauen.

Julie ist eine von den Waldhäuslern. Das ist kein Nachname, es heißt, dass jemand in den Wohnblocks oben am Waldrand wohnt. Ich weiß nicht, ob die Waldhäusler alle miteinander verwandt sind oder nicht, sie werden halt einfach so genannt. Diese Wohnblocks sind wohl mal für die Mitarbeiter der Forstverwaltung oder so da hingesetzt worden. Hier zu uns in die Stadt gekommen sind die Waldhäusler auf jeden Fall schon lange vor dem Hochwasser, lange vor dem Radweg und lange vor den vielversprechenden Paaren mit ihren Hypotheken wie meine Eltern oder Pelikans Vater. Julies große Schwester war früher meine Trainerin beim Sportverein und sie kannte alle Alteingesessenen. Wenn wir von der Turnhalle nach Hause gegangen sind, hat sie immer wieder mal die Fenster von halbzerfallenen Häusern an der Hauptstraße zugemacht, die heute natürlich nicht mehr stehen, und sagte so was wie, ach je, der Vohejl, irgendwann rauben sie ihn noch aus, der arme Kerl lässt sich immer so volllaufen, dass er die Haustür nicht mehr findet und dann müssen sie ihn immer zum Fenster reinlassen.

Es verfolgt mich jemand, wiederholt Julia also brav vor den Mädels draußen. Auch jetzt kauert sie wieder da, das Kinn auf den angezogenen Knien, und in ihrer zittrigen Hand glüht eine L&M light. Leider entkommt einer von uns ein Lachen, aber es ist so kurz, dass es eh mehr nach einem Stöhnen klingt.

Na, und woran merkst du das, fragen wir Julie und sie sagt, es geht nicht darum, was einem passiert, es passiert gar nichts besonders, sondern es geht mehr darum, dass man ein plus one dabeihat, aber nicht weiß, wer das ist. Morgens in der Schule merkst du zum Beispiel, dass schon jemand auf deinem Stuhl gesessen hat, oder manchmal nimmst du dein Handy in die Hand, es ruft dich eine unterdrückte Nummer an und niemand ist dran.

Julie blickt sich auf dem Parkplatz um und wir uns auch. Wir sehen niemanden. Wenn ich gleich gehe, bittet sie uns, könnt ihr dann schauen, ob mir nicht jemand folgt? Wir blicken ihr aufmerksam und in völliger Stille hinterher, um dann guten Gewissens feststellen zu können, dass sie ganz schön abgefucked ist. Und um dann wieder über etwas Lustigeres reden zu können.

Aber das wird sowieso nichts. Ihr dürft nicht vergessen: es ist das Jahr 2014. Die Millenials haben all das, worüber sie ein paar Jahre später bei Radio Wave sprechen werden, erst noch vor sich. Mental Health war noch nicht erfunden.

Damals sagen wir noch nicht, jemand hätte „krass ADHS“, wenn ihm langweilig ist. Auch nicht, dass mal wieder unsere „OCD kickt“, wenn wir uns an Unordnung stören. Von all diesen Diagnosen haben wir noch kaum eine Ahnung und die paar, die wir kennen, machen uns Angst. Ich weiß nicht, wer es damals als Erste aussprach, dass Julie paranoid ist. Für uns bedeutet das aber zwei Dinge: erstens, dass sie gefährlich sein könnte und zweitens, dass das vom vielen Kiffen kommt.

 

Aus dem Tschechischen übersetzt von Susa Wolfrum