Anna Beata Háblová

Urbane Nicht-Orte

2019 | Host

Statt eines Vorworts

Es war ein seltsamer Ort zwischen der Haltestelle Palmovka und dem Prager Stadtteil Horní Libeň. Ich fand mich an jener Stelle wieder, an der die Stadt der Bahnstrecke den Rücken kehrt und Mietshäuser in der Ödnis aus dem Boden ragen lässt, so unpassend, als ragten die letzten noch nicht herausgezogenen Zähne aus einem Mund. Es war kurz vor Mitternacht und alle Kneipen waren geschlossen. Die leere Straße lag in Dunkelheit getaucht da. Ich zog um die Häuser und wollte einen Blick in Orte erhaschen, an die ich nicht gehöre. Es sah zunächst so aus, als ob mich in dieser Gegend rein gar nichts mehr überraschen könnte. Bis ich dann an einer seltsamen Tür vorbeikam, die voll war mit Plakaten von unbekannten Bands. Ich klingelte, und der Summer ließ mich sofort hinein. Ich betrat einen voll bemalten Flur, von dem aus eine Wendeltreppe direkt nach unten führte. Vor mir öffnete sich ein ziemlich großer Raum mit abgeranztem Mauerwerk und einer Couch, auf der drei riesenhafte Hunde herumfläzten. In einer Ecke eine Bühne mit einem Mischpult und einem Spiegel, der die halbe Wand bedeckte. Hinter der Bar eine circa achtzehnjährige Frau mit Piercing, im Raum nur drei Männer und eine Frau. Alle betrunken. Die Frau trug eine Hüfthose und ein kurzes T-Shirt, krümmte und wand sich vollkommen abseits des Rhythmus der Musik und betrachtete sich im Spiegel. Die anderen bewegten sich noch chaotischer. Ein Mann, der sabberte wie ein vom Wettrennen erschöpftes Pferd, drehte sich zu mir und brabbelte etwas Unverständliches. Plötzlich begann jemand die Musik immer wieder aus- und anzuschalten, ein noch größeres Durcheinander entstand. Ich weiß nicht mehr, wie ich von dort weggekommen bin und in welchem Zustand, aber als ich eben diese Türe in jener Straße später noch einmal suchte, fand ich sie nicht mehr. Manche urbanen Nicht-Orte haben keine Pointe. Sie existieren nur aufgrund von chaotischen Zuständen oder Notwendigkeiten des Lebens. Jedoch können sich gerade auch hier Geheimnisse verstecken.

Die urbanen Nicht-Orte, die ich in diesem Buch freilegen will, bezeichne ich als verlorene Orte, Deponie-Orte, Transitorte, temporäre Orte und virtuelle Orte. Verlorene Orte sind etwa Ergebnis von Planungen ohne langfristiges Konzept, es können Reste einer Baustelle, ungenutzte Flächen entlang eines Transitsystems oder Orte sein, mithilfe derer sich die wilde Natur einen Zugang ins Innere der Stadt verschafft hat, wo sie in dezimierter und ungepflegter Form verbleibt. Deponie-Orte, die ursprünglich „außerhalb der Stadt“ lagen, an die die Stadt aber bereits herangewachsen ist und sie erreicht hat, werden selbst Teil der Stadt, und ihre Schließung und Revitalisierung werden unvermeidlich. Transitorte sind diejenigen, die überall auf der Welt gleich sind, durch die wir nur hindurchreisen, sie entbehren Authentizität, Identität, Geschichtsspuren und die Möglichkeit, hier Beziehungen zu führen (wobei die Abwesenheit von Beziehungen nicht auf die Menschen zutrifft, die an diesen Orten arbeiten). Sie sind Folgen der Moderne, der Globalisierung und der Möglichkeit in Bewegung zu sein, Repräsentanten dieser Form sind Flughäfen, Einkaufszentren, Parkhäuser, Fernstraßen oder Tankstellen.

Temporäre Orte tragen die Polarität des auf der einen Seite gewollten und auf der anderen Seite ungewollten Provisoriums in sich. Festivalstädte mit begrenzter Existenzdauer können eine Gelegenheit sein, eine Stadt aus einer anderen Perspektive zu erleben. Demgegenüber kann der provisorische Urbanismus von Flüchtlingslagern zur Falle werden, in der Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und die nicht von anderen Staaten aufgenommen werden, hängen bleiben. Virtuelle Orte sind Nicht-Orte in dem Sinne, dass sie ein Stück weit die Funktionen des öffentlichen Raums übernehmen und die Art, wie er in der heutigen Zeit funktioniert, grundlegend beeinflussen. Nicht-Orte sind sie auch dadurch, dass sie über keine physische Form verfügen, eine Vorbedingung für die Existenz des Ortes an sich.

Gemeinsamer Nenner der Nicht-Orte ist ihr Anderssein, ihre Fähigkeit, die scheinbare Kontinuität des städtischen Raums zu durchbrechen. Man kann sie als Orte der Heterotopie betrachten, die den Rhythmus verändern oder die Wahrnehmung des Ortes durch seinen Besucher beeinflussen. Sie sind durch ihre pure Existenz Orte der Verunsicherung.

Das Buch Urbane Nicht-Orte ist ein Genre-Experiment. Jedes Kapitel beginnt mit einer Erzählung, die den Leser auf den folgenden Einblick in die übergangenen, vergänglichen und vorübergehenden Orte vorbereitet. Offen bleibt, inwiefern solche Orte notwendige Bestandteile für die natürliche Entwicklung von Städten, oder ob sie vielmehr Ergebnis einer Art von Scheitern und Ratlosigkeit sind. Sicher ist, sie sind integraler Bestandteil urbaner Räume.

Temporäre Orte

Rami

 

Gegen Abend erwachte Rami aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Sein Kopf schmerzte und er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Etwas wimmelte in ihm und durchzuckte ihn, biss sich langsam aus ihm heraus und trug ihn irgendwohin in die Hitze der Verrenkungen. Erst, als er sich bewegte, stellte er fest, dass er am ganzen Körper schwitzte. Auf dem Gesicht der Abdruck des Kopfkissenreliefs. Er lag in einem Zelt, es war aus Planen und wurde von Eisenstangen gestützt. Auf das dünne Material drückte die Sonne, und durch kleine Spalten fiel sie bröckchenweise hinein. Decken, Teppiche und klebrige Schwüle füllten den Raum aus. In der Ecke stand ein alter Fernseher. Sonst nichts. Es gab nichts Festes, auf Dauer installiertes. Als hätte ein hier stattfindendes Leben nur den Zweck, auf den Moment zu warten, an dem alles rasch eingepackt, auf einen Pick-up geschmissen und irgendwohin gefahren werden könnte. Aber wohin?

Rami konnte sich nicht erinnern, was mit ihm passiert war und wo er sich hier befand. Er überlegte, was er nun tun sollte. Vom Gedanken an Essen wurde ihm schlecht. Er bemerkte einen säuerlichen Geschmack am Gaumen, so als hätte er sich vor Kurzem übergeben. Er beschloss aufzustehen, doch seine Beine glitten ihm weg wie Gelee. Am linken Fuß sah er Spuren einer frischen Prellung. Er kroch auf allen Vieren an den Rand des Zeltes, schob mit zitternder Hand die Plane zur Seite und blickte hinaus. Identische weiße Zelte standen wie Frontsoldaten in Reihen nebeneinander, jedes von ihnen vielleicht drei bis vier Meter lang. Rechts von Rami schlackerten in der glühendheißen Luft die Maschen eines Metallzauns und darüber eine Reihe Stacheldraht. Ein Gefängnis. Doch dann entdeckte er an einigen Zelten das türkise Symbol einer, wahrscheinlich, humanitären Organisation. Ein Lager. Jetzt dämmerte es ihm. Sein Bruder Nadim war nicht hier. Das Einzige, was er auf der Welt noch hatte, war nicht bei ihm. In seinem Kopf lief wie vom Band der Schrei des Vaters, wie er ins brennende Haus rennt um die Schwester und die Mutter zu holen. Die zwei Brüder, die miteinander übrig blieben, standen vor dem einstürzenden Haus, und jede Sekunde dieser Kriegstragödie fräste sich in ihr Gedächtnis ein.

Das Kribbeln in Ramis Körper wurde stärker und verwandelte sich in Schüttelfrost. Er fasste sich an die Brust und wusste, dass er genau dort drin durch und durch zermalmt war. Irgendwo am Horizont vor sich, an dem Fluchtpunkt, an dem alle Linien des geometrisch angelegten Lagers zusammenliefen, erblickte er die Umrisse seiner Zukunft. Hoffnung und Hilflosigkeit, die sich abwechseln, Abhängigkeit von fremder Hilfe, passives Warten. Die Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren, nach Syrien, die mit der Sehnsucht ringt, ein neues Leben in Europa zu finden. Der Krieg in Syrien wird aber nicht aufhören, wird weiter Häuser zerstören, Familien auseinanderreißen und Baumkronen in Flammen setzen. Ist ein Leben im Lager ein Leben? Ohne Arbeit, ohne Schulen, ohne Dächer, ohne Freiheit. Ohne die Möglichkeit fortzugehen. Morgens ein Stück Brot und ein Gutschein für den Einkauf im provisorischen Supermarkt, der den Schein der freien Auswahl vermitteln soll. Der einzige Moment von Würde. Schon jetzt in diesem Augenblick weiß Rami, dass das hier nur eine sich immer weiter fortsetzende Verzweiflung ist. Er will weg von hier.

Erinnerungen blitzen auf. Rami sieht, wie er und sein Bruder alles verkaufen, was sie noch haben und was man verkaufen kann. Er bezahlt Schleuser, zwei Männer mit schiefem Grinsen. Gemäß der Abmachung übergeben die Schleuser sie zusammen mit weiteren Flüchtenden in Libyen anderen Menschenhändlern. Dort werden sie von einer somalisch-libyschen Gang überfallen. Sie werden auf einem Bauernhof in einen Stall gesteckt. Um sie herum Tierkot, Vermoderung, Gestank. Kein Essen, manchmal Wasser. Niemand darf die schwarzen Bauten auch nur für eine Minute verlassen. Dunkelheit und Schritte draußen, betrunkenes Gelächter. Die Angst breitet sich wie Alkoholdunst um sie herum aus. Die Höhe des Lösegelds steigt immer weiter an. Die Frauen werden vergewaltigt. Rami zahlt 9000 Dollar für sich und seinen Bruder von den Rücklagen, die fürs Überleben in Europa gedacht waren. Sie werden auf ein Boot geladen. Das Boot hält sich kaum auf der Oberfläche, es ist zum Zerbersten überladen. Sie legen ab. Da taucht ein anderes Schiff auf, libysche Milizionäre, sie nähern sich ihnen mit schwarzen Gewehren. Die Bewaffneten brüllen etwas. Auf dem Boot seien doppelt so viele Leute wie mit den Schmugglern abgesprochen. Die Miliz will von den Flüchtlingen mehr Geld. Rami zahlt ihnen das letzte, was er hat. Er zahlt noch für eine andere Frau und ihr Kind. Das Schiff fährt wieder weiter, die Wellen pulsieren mit dem Boot auf der Oberfläche. Nach zwanzig Minuten taucht hinter ihnen ein weiteres Schiff auf. Es verfolgt sie. Es will, dass sie ans libysche Ufer zurückkehren. Die Flüchtenden paddeln weiter vom Ufer weg, manche versuchen das Tempo zu steigern, indem sie die bloßen Arme ins Wasser tauchen. Vom Schiff hinter ihnen wird nun geschossen. Die Unglücklichen heben die Hände, sie sind ja nicht bewaffnet. Weiterhin regnen kleine metallene Projektile auf sie ein. Frauen, Kinder und Männer weinen, rufen und schreien vor Schmerzen. Das Boot beginnt zu sinken. Es dauert nur ein paar Minuten, bis es gänzlich unter Wasser ist. Danach erinnert sich Rami an nichts mehr. Ach doch. Da ist noch ein Erinnerungsfetzen, wie er nach dem Bruder ruft. Sein Gesicht ist kurz unter Wasser und kurz wieder oberhalb, dann kann er seinen Kopf nicht mehr sehen. Aber vielleicht ist er ja immer gerade dann über Wasser, wenn Rami untertaucht. Nadim, Nadim! brüllt Rami, aber seiner Brust entweicht nur ein unverständliches Röcheln, das sich mit den Geräuschen der anderen Ertrinkenden vermischt. Rami schwimmt in Richtung seines Bruders, er sieht ihn nirgends. Da packt ihn etwas am linken Fuß und zieht ihn nach unten. Die Hand des Bruders reißt ihn im Todeskrampf mit zu sich ins Wassergrab. Panik ergreift Rami, und doch schließt er geistesgegenwärtig die Kiefer, um kein Wasser einzuatmen. Er tritt heftig mit dem linken Fuß und befreit sich aus der Umklammerung. Obwohl er von Salzwasser umgeben ist, spürt er, dass ihm salziges Wasser aus den Augen rinnt. Das Schiff, das zuvor auf sie geschossen hat, nähert sich zögernd den letzten Überlebenden. Rami schwimmt mechanisch zum Schiff, wie ein auf Autopilot gestellter Motor. Jemand beugt sich über ihn, Rami sieht aber nur den Körper seines Bruders, der ganz weich auf den Grund des verflüssigten Weltraums hinabsinkt.

Rami erwacht auf einem nassen bestickten Kissen im Niemandsland.

Zeit der Unsicherheit

Die Architektur war immer mit dem Prinzip der Beständigkeit verbunden. Die Vergänglichkeit von Bauwerken aus sonnengetrockneten Ziegeln, mit einem Untergrund aus festgetretenem Lehm und einem Reetdach würde die Mission der Architektur nicht so erfüllen, wie sie Vitruv im Mittelalter definierte. Laut Vitruv ist die Festigkeit (firmitas) das erste von drei Grundprinzipien zur Beurteilung der Qualität von Architektur. Dazu kommen die Nützlichkeit (untilitas) und die Schönheit (venustas). Die Qualität von Architektur wurde auf der Basis ihrer Beständigkeit bewertet und auch legitimiert, und dasselbe galt seit jeher für die Stadtplanung. Menschliche Gemeinschaften begannen bei der Gründung neuer Siedlungen immer mit besonders haltbaren Baumaterialien, als wollten sie mittels großzügiger architektonischer Pläne der Unsterblichkeit ein Stück näher kommen.

In der gegenwärtigen Welt ist der Anspruch der Beständigkeit in der Architektur nicht mehr stichhaltig. Die postindustrielle Gesellschaft hat den Glauben an die architektonische Monumentalität verloren und betrachtet die Planung von Großprojekten mit wachsender Skepsis. Wir leben heute in einer verflüssigten Zeit, in der neben den Informationen und den Finanzen auch die Menschen ständig im Fluss sind. Die klimatischen Bedingungen unseres Planeten verändern sich permanent, und neben kriegerischen Auseinandersetzungen sind auch Trockenheit und Wassermangel Ursachen für große Migrationswellen. Architekten und Ingenieure kämpfen mit neuen Herausforderungen, etwa der Planung von Flüchtlingslagern, die so groß sind wie ganze Städte. Auf der ganzen Welt steigt die Nachfrage nach temporärem Urbanismus und leicht demontierbaren Bauwerken. In unserer heutigen Zeit ist die Unsicherheit die neue Norm.

Orte für Utopien

Auf das Temporäre und Unbeständige wurde im Kontext von Architektur und Urbanismus immer despektierlich herabgeblickt. Hütten, Flüchtlingslager, Notunterkünfte und andere provisorische Behausungen waren und sind Symbole von Armut, Verzweiflung und schlechter Konzeption. Das ist auch die einzig plausible Erklärung dafür, warum das Thema des temporären oder beweglichen Urbanismus historisch gesehen so ein Schattendasein führte. Eine Ausnahme sind Utopien, die eine Art Reaktion auf den sterilen und eintönigen Modernismus darstellten. Die sechs Architekten der Londoner Avantgarde-Gruppe Archigram, die sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts formierte, wurden zu führenden Vertretern radikaler neofuturistischer Ideen. Der Name der Gruppe, der die Wörter „Architektur“ und „Telegramm“ verbindet, sollte die Dringlichkeit ihrer Botschaft ausdrücken. Ihre Ideen und nicht realisierbaren Projekte, die von Wissenschaft, neuen technischen Möglichkeiten, kosmischen Forschungen, Kybernetik und Sci-Fi beeinflusst waren, wurden jedes Jahr in einer gleichnamigen Broschüre vorgestellt.

Einer ihrer nicht realisierbaren Entwürfe, die gehende Stadt (Walking City), stellte eine massive, intelligente Roboterstruktur vor, die sich frei durch eine postapokalyptische Welt bewegen würde. Solche beweglichen Städte könnten sich miteinander koppeln und eine gehende Metropole bilden, oder sich wieder zerstreuen, sobald ihre Ballung nicht mehr vonnöten wäre. Ebenso mobil wären auch die einzelnen Gebäude, damit sich ihre Besitzer dort befinden könnten, wo sie gerade gebraucht würden. Ein anderer utopischer Entwurf von Archigram war Plug-in City, die Stadt als eine Maschine, die auf der Struktur eines Gitters basierte, in dem alle anderen und schneller alternden Teile leicht austauschbar wären. Die einzelnen Funktionen der Stadt würden in Form von Kapseln zur Verfügung gestellt werden, die sich dem aktuellen Bedarf entsprechend mithilfe von riesigen Kränen darauf aufsetzen lassen würden. Die Plug-in City sollte eine Stadt sein, die nie vollendet wäre, und diese Unvollkommenheit war sogar ästhetisiert. Sie war jedoch weit davon entfernt, die banalen, dafür jedoch sehr wirklichen und realen Probleme zu lösen. Und das, obwohl dieses Konzept als eine Reaktion auf das ansteigende Lebenstempo und den Vormarsch neuer Technologien verstanden werden kann.

Das Oktoberfest

Provisorische Zelte, schmutzige Slums oder auseinanderfallende Hütten sind nicht die einzigen Strukturen, die den temporären Urbanismus kennzeichnen. Auch musikalische und kommerzielle Festivals, religiöse Feiern, Messen oder Märkte gehören dazu. Alle diese Formen entsprechen temopräre Orten, und sie betreffen das ganze Spektrum sozialer Schichten. In Slums leben die Ärmsten der Armen, Festivalgelände werden im Gegenteil für diejenigen aufgebaut, die Geld haben. Ein solches Festival ist auch das Oktoberfest. Auf der Theresienwiese in München wird jedes Jahr zu Ende Oktober eine provisorische Stadt errichtet, deren Größe der des Vatikans entspricht. Dieses größte Bierfestival der Welt soll an das Jahr 1810 erinnern, als die Hochzeit von Prinz Ludwig von Bayern mit Therese von Sachsen-Hildburghausen gefeiert wurde. Die Trauung wurde auf einer Wiese außerhalb der Stadt gefeiert, wo Pferderennen stattfanden und in großen Zelten Bier und Wein ausgeschenkt wurde. Seitdem wurde diese Feier jedes Jahr wiederholt, mit Ausnahme der Jahre 1939 bis 1948.

Zelte von der Größe mehrerer Sporthallen werden jährlich von tosendem Lachen, lauten Gesprächen und dem Klirren von Maßkrügen erfüllt. Außerordentlich fröhliche Leute in Trachten (die Damen in Dirndeln mit tiefen Ausschnitten, die Männer in Lederhosen) zwängen sich um die Tische oder stehen in den Gässchen. Es ist quasi unmöglich sich durch den Raum irgendwohin durchzudrängen. Thematisch bemalte Wände blicken auf das menschliche Wirrwarr herab, und eine Musikkapelle auf der Bühne übertönt diesen Lärm noch um ein Vielfaches. Die Gesichter der anwesenden Konsumenten glänzen vor Zufriedenheit und ungestümer Freude. Die Stadt in der Stadt ist gesteckt voll von Attraktionen und Verkaufsständen, es gibt hier keinen einzigen ungenutzten Fleck. Obwohl die von Bierzelten umgebenen Gassen an Straßen erinnern, kann man diesen Raum nicht als einen öffentlichen begreifen, da er nur für die bestimmt ist, die sich diese Art des Vergnügens leisten können.

Jeder Besucher, der sich hier aufhält, hat eine klar definierte Rolle, und zwar möglichst viel zu konsumieren. Man könnte diese Trinkszene für einen Moment als eine Gesellschaft des Spektakels begreifen, wie sie der Philosoph und Marxist Guy Debord in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Debord kritisiert darin eine Gesellschaft, die ein falsches Bewusstsein von der Realität hervorbringt. Die Realität wird ersetzt durch Unterhaltung und ununterbrochenen Konsum. „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“ Debord meint damit, dass die Authentizität aus unserem Leben verschwunden ist und wir nur zwischen den unechten Repräsentationen der Realität umherschweifen, abgetrennt vom wahrhaftigen Sein. Man könnte das Oktoberfest jedoch auch als eine Möglichkeit betrachten, die Stadt einmal anders zu erleben, sie aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es ist eine Chance, die Alltagsroutine einmal durchzuwirbeln. Der Reiz des Festivals lebt von der Abwesenheit der normalen Regeln. Man muss beim Bau von riesigen Bierzelten keine Richtlinien und Regulierungen beachten, und dasselbe Privileg ist auch bei anderen Festivals dieser Welt oder beim Karneval vorzufinden. Die begrenzte Dauer des Ereignisses lädt zu mehr Toleranz ein und ermöglicht es, vom Normalen abzuweichen. Nach knapp drei Wochen leert sich die Theresienwiese wieder und wird als freie Fläche die Phantasien und Vorstellungen davon anregen, wie dieser Platz ansonsten genutzt werden könnte.

Die Brachflächen der Städte geraten oft durch spekulative Konzepte, wie sie funktional zu verankern wären, wie man sich also dieser schwer definierbaren Unbestimmtheit wieder entledigen könnte, unter Beschuss. Für die Theresienwiese beispielsweise überlegte man sich in der Vergangenheit bereits einen Park und ein Villenviertel. In den 50er Jahren diskutierte man die Möglichkeit, dass eine Fernstraße hindurchführen könnte. Wäre sie ein Parkplatz, hätten 17.000 Autos auf dieser Fläche Platz. Würde man die Wiese so dicht bebauen wie das Stadtviertel Schwabing, hätte sie laut Immobilienexperten einen Wert von 6,5 Billionen Euro. Die Theresienwiese zuzubauen ist jedoch eine ebenso undenkbare und inakzeptable Idee wie etwa der Verkauf der New Yorker Freiheitsstatue oder eine Bebauung des Central Park.

Die Prager Letná-Ebene

 

Auch die Prager Letná-Ebene ist im Laufe der Geschichte auf dem Radar der Developer und Urbanisten aufgetaucht. Es ist die bis dato größte unbebaute Fläche in Prag, in Größe und Ausmaß der Münchener Theresienwiese vergleichbar. Sie trug früher auch die Namen Leteň, Sonnenhügel, und Letná pole, Feld Letná, und verwies damit entweder auf eine besonders sonnige Fläche oder auf einen baumlosen Ort mit Aussicht auf den Prager Talkessel. „Dank ihrer scharfen Begrenzung über dem Fluss konkurriert sie mit den bedeutendsten Terrains von ganz Prag: der Prager Burg, Vyšehrad und Vítkov. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte es sich bei dieser Fläche de facto um das Gebiet unmittelbar hinter der Burg (extra muros), und es war so wie bei anderen barocken Festungen angezeigt, sie frei und ungenutzt zu lassen.“ Bei jeder Belagerung Prags war die Letná-Ebene von strategischer Bedeutung. Aus diesem Grund war hier keine stabile Siedlungsentwicklung möglich, weshalb hier vor allem Weinberge und Gärten lagen. Die Situation änderte sich jedoch, als der Prager Burggraf Jan Chotek 1804 eine Serpentine bauen ließ, die die Ebene mit dem Stadtzentrum verband, Letná war nun nicht mehr in der Peripherie. Seitdem musste sie Plänen für einen Bau der Technischen Hochschule, der Staatsgalerie, des Parlaments, eines Gebäudes der Nationalversammlung und auch von Mietshäusern in Zeiten der Wohnungsnot trotzen. Eines der breit diskutierten Vorhaben war auch ein Gebäude der Nationalbibliothek nach einem Entwurf des Architekten Jan Kaplický. Beim Nachdenken über die Siedlungsentwicklung darf nicht vergessen werden, dass freie Flächen einen unschätzbaren kulturellen Wert haben können. Großzügige Freiflächen zeugen von der Großzügigkeit der ganzen Stadt.

Die Letná-Ebene hatte im Laufe ihrer Geschichte eine unersetzliche Rolle als Versammlungs-, Vergnügungs- und Erholungsort für ganz Prag. Schon im Jahr 1261 war sie der Ort für die Feierlichkeiten anlässlich der Krönung von Přemysl Otakar II., Relikt hiervon ist der Name der nahegelegenen Straße der Krönung (Korunovační ulice). Ende des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts befanden sich hier bedeutende Sportanlagen – die erste Prager Rennbahn, das hölzerne Fußballstadion von Slavia Prag und die Stätte der großen Sokol-Versammlungen. Darüber hinaus fanden hier Militärparaden, Demonstrationen, Erster-Mai-Umzüge, aber auch Protestdemonstrationen statt. In der Zeit der Samtenen Revolution war die Letná-Ebene wichtig (am 25. und 26. November 1989 versammelten sich hier bis zu 800 Tausend Menschen, und diese Demonstrationen waren die ersten Massendemonstrationen in jener Woche, die live im tschechoslowakischen Fernsehen übertragen wurden), und im Jahr 1990 feierte Papst Johannes Paul II. hier bei seinem ersten Besuch in der Tschechoslowakei eine Messe. Heute wird die Letná-Ebene von gastierenden Zirkussen genutzt (man denke an das beliebte Festival Letní Letná) sowie für Modellbaupräsentationen oder zum Drachensteigen mit Kindern. Obwohl sie inzwischen eher als Naherholungsgebiet für informelle Sportaktivitäten wahrgenommen wird (von Inline Skating bis Skateboard Fahren), ist und bleibt sie ein wichtiger Ort gesellschaftlicher Möglichkeiten und ein räumlicher Meilenstein in der urbanen Geschichte von Prag.

Nichtkommerzielle Festivals

Es gibt jedoch auch unkommerzielle und autonome Festivals, die als Orte gedacht sind, an welchen man Erlebnisse teilen, frei zusammentreffen und sich ungebunden selbst verwirklichen kann. Die Idee vom Festival, das an einem abgelegenen Ort fernab der Zivilisation stattfindet, trägt den Kern des Nonkonformismus in sich. In kurzer Zeit entstehen buchstäblich aus dem Nichts temporäre, selbstständige Strukturen. Die schwere Erreichbarkeit der Orte und die Regeln, die sich von den gewöhnlichen Normen unterscheiden, funktionieren als eine Art Sieb, durch das zu solchen Festivals vor allem Leute kommen, die sich ähnlich sind. Die hier verbrachte Zeit kann für alle zum Erlebnis werden, das sich mit nichts vergleichen lässt.

Ein solches Beispiel ist das amerikanische Festival Burning Man, das Ende August bis Anfang September am Grund eines ausgetrockneten Sees im Norden Nevadas stattfindet. Die Wurzeln dieser Tradition reichen zurück zu einer unglücklichen Liebesgeschichte. Ein junger Mann, den seine Geliebte gerade verlassen hatte, beschloss im Jahr 1986 eine riesige Holzstatue zu verbrennen, um sich symbolisch von seinem bisherigen Leben zu verabschieden. Dieses Happening wurde dann Jahr für Jahr wiederholt und zog mehr und mehr Zuschauer an. Die Anzahl der Besucher erhöhte sich später von den ursprünglichen 200 auf 70 Tausend. Einen Kontrapunkt zur spontanen inhaltlichen Ausfüllung des Festivals bildet die geradezu streng geometrische Anordnung der Siedlung in Form eines konzentrischen Kreisgitters, durch welches das Gebiet in gleichmäßige Grundstücke aufgeteilt wird. Die Teilnehmer müssen sich für den Eintritt in dieses Wüstenareal zwar eine Eintrittskarte kaufen, dürfen dann jedoch während des Festivals nichts mehr verkaufen oder kaufen, und die Menschen müssen mit den Dingen auskommen, die sie mitgebracht haben. Gemeinsames Merkmal solcher Orte, die auf freien Flächen entstehen und nur für kurzzeitige Ereignisse zur Verfügung stehen, ist ihre Fähigkeit eine utopische Welt zu erschaffen. In einer solchen Welt sind die Menschen gelöst von der Arbeit, befreit von der Bürde der gesellschaftlichen Struktur und getrennt von der Stadt als Paradigma der primären Ausrichtung auf den Austausch von Waren.

Die europäische Version des Burning Man ist das Festival Nowhere, das jedes Jahr im Juli in der staubigen aragonischen Ebene in Nordspanien stattfindet. Ähnlich wie Burning Man wird auch dieses Festival dafür geschätzt, dass es die Teilnehmer so leicht von eingefahrenen gesellschaftlichen Vorstellungen befreit. Eine unerschöpfliche Menge an Aktivitäten erwartet sie: Man kann Teil eines lebendigen Bildes werden, an einer japanischen Teezeremonie teilnehmen, ein erotisches Porträt von sich anfertigen lassen, eine Zirkusvorführung ansehen oder einfach nur Musik hören. Das Nowhere verändert und zerlegt die Konventionen normaler Orte, verlässt sich aber zugleich auf eine genau definierte Arbeitsteilung. Freiwillige kümmern sich um bestimmte Aufgaben, die das Funktionieren des ganzen Campus‘ sicherstellen – sei es durch das Reinigen von Toiletten, den Verkauf von Eintrittskarten, die Müllentsorgung oder durch Erste Hilfe. Die Organisatoren und Teilnehmer bauen aus dem Nichts heraus einen funktionstüchtigen Raum auf und lassen ihn anschließend genauso leicht wieder verschwinden, zurück bleibt nur die reine, leere Landschaft. Das Schaffen von neuen funktionablen Orten, die danach wieder perfekt weggeräumt werden, kann Menschen begeistern, wie weitere Veranstaltungen in ähnlichem Geiste beweisen, etwa die Musikfestivals Glastonbury (England), Roskilde (Dänemark) oder Rock Werchter (Belgien).

Temporäre Märkte

Eine zentrale Rolle bei der demokratischen Nutzung städtischen Raums spielt in einigen Kontexten der Konsum. Das gilt besonders für temporäre Märkte, also für den Austausch von lokalen Produkten durch Landwirte oder Kleinunternehmer. Im Unterschied dazu, wie große multinationale Firmen funktionieren, die für ihre Plantagen zunächst ein fremdes Gebiet okkupieren, Areale von Verwaltungsgebäuden aufbauen und schließlich riesige Einkaufszentren bauen müssen, sind die Transaktionsorte der Märkte um Einiges flexibler. Sie können innerhalb einer Woche, eines Tages, einer Stunde oder einer Minute auftauchen und wieder verschwinden. Die temporäre Form des Warentauschs im öffentlichen Raum kann verschieden groß ausfallen – vom Straßenverkäufer, der minutenschnell einen tragbaren Verkaufsstand aufklappt oder nur eine Decke auf dem Boden ausbreitet, bis hin zu weitläufigen Überdachungen, die das Zusammenkommen einer großen Menge von einzelnen Verkäufern erlauben. Temporäre Märkte sind auch in der Lage, in Nicht-Orte hineingezwängt zu werden, an denen man einen Warenaustausch überhaupt nicht erwarten würde. Insofern stellen sie eine unerwartete Nutzung bestimmter Flächen dar und bringen uns dazu, die Stadt in noch feineren Nuancen wahrzunehmen.

Ein einzigartiger Markt ist Talat Rom Hoop im Zentrum der Stadt Samut Songkhram unweit von Bangkok. Einen halben Kilometer ziehen sich die mit Planen überdachten Warentische an einer Eisenbahnschiene entlang, über die acht mal täglich ein Zug fährt. Alle Stände sind perfekt darauf ausgerichtet, dass man sie entweder blitzschnell zusammenklappen oder verschieben kann, oder dass sie nicht in die Bahn des vorbeifahrenden Zuges hineinreichen. Man muss nur ein paar Kisten wegschieben und kurz zur Seite treten. Während weniger Sekunden wird aus dem Markt dann eine Eisenbahnstrecke. Sobald der Zug durchgefahren ist, werden die Planen wieder ausgebreitet, die Waren herausgeräumt, und die Luft füllt sich wieder mit den Handelsgesprächen zwischen Käufern und Händlern. Beim Anblick dieser unerwarteten Symbiose fragt man sich, was eigentlich zuerst da war. Der Markt oder die Bahn? War die Bahnstrecke vielleicht einer der wenigen Orte, wo man in der überfüllten Raumstruktur überhaupt noch etwas unterbringen konnte? Nein. Es war genau umgekehrt. Der Markt befand sich hier bereits ein Jahrzehnt und sollte durch den Bau der Eisenbahn Maeklong Railway geschlossen werden. Doch es gibt in Thailand kein Gesetz, mit dem man die Verkäufer zwingen könnte, wegzugehen. Diese wollten den Ort nicht verlassen und verließen ihn auch nicht. Stattdessen fanden sie einen Weg, den fahrenden Zug in ihren Betrieb zu integrieren.

Für den Austausch von Waren muss nicht immer nur der feste Boden einer Stadt hergenommen werden, und das gilt insbesondere für Thailand. Beliebte Orte sind auch Flüsse und Kanäle, wo Waren von traditionellen thailändischen Lebensmitteln bis hin zu Haushaltsgegenständen auf allem ausgebreitet werden, was schwimmen kann. Auch die Boote mit Waren, die auf den Kanälen von Amsterdam oder Venedig herumfahren, erinnern an die schwimmenden Märkte – Ergebnis des stetigen Wettbewerbs zwischen Wasser und Land. Ein anderes Beispiel für einen außergewöhnlichen Markt ist der riesige Tepito Market in Mexico City, der mehr als zwanzig Straßen in Beschlag nimmt. Auch der größte Flohmarkt Prags zwischen Harfa und Lehovec lohnt eine Erwähnung. Zu manchen Zeiten ein Ort gähnender Leere, zu manchen Zeiten vollgestopft mit herumwuselndenden Leuten.

Flüchtlingslager

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute immer mehr Menschen die alternative Lebensart leben, für die andere Leute, nämlich im Fall von kommerziellen Festivals, Unsummen zu bezahlen bereit sind. Mit dem Unterschied, dass jene es unfreiwillig tun. Über 65 Millionen Menschen auf der Welt sind auf der Flucht, und es werden immer mehr. Flüchtlingslager entstehen aus dem Versuch heraus, mit den Strömen der umsiedelnden Menschen, die politisch oft als Belastung wahrgenommen werden und die man temporär irgendwohin „wegräumen“ muss, einen Umgang zu finden. Diese provisorischen Konzepte werden jedoch oft zu dauerhaften Lösungen, ohne in langfristige Planungen eingebunden zu werden. Beispiel hierfür sind Flüchtlingslager, die schon seit mehr als dreißig Jahren betrieben werden, deren provisorischer Charakter jedoch überhaupt nicht abgenommen hat. Und diese Siedlungen wachsen immer weiter. In einem Lager in der Elfenbeinküste leben zum Beispiel mehr als 900.000 Geflüchtete, die meisten kommen aus dem benachbarten Liberia. Ein anderes riesiges Lager ist Dadaab in Kenia auf einer Fläche von 58 Quadratkilometern. Hier leben je nach Bedarf 300.000 bis 500.000 Geflüchtete, die meisten aus Somalia. Unter anderem gibt es noch das Breidjing im Tschad oder Lager in Sri Lanka, die 300.000 Einwohner haben. Und diese Lager erfassen nur einen Bruchteil der 65 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und die dauerhaft auf der Flucht sind.

Ein solcher Urbanismus, der aus in geometrischen Gittern gefassten Einheiten besteht, verhindert die Entstehung einer eigenen Identität des Ortes und reduziert das Leben auf pures Überleben. Es gibt aber Fälle, in denen Communities auch versuchen, solche neutralen Orte an ihre Bedürfnisse anzupassen. Im Lager Dadaab sind Unterschiede in der räumlichen Anordnung der einzelnen Behausungen erkennbar. In den Vierteln, in denen die Bewohner ursprünglich aus Somalia kommen, sind die einzelnen Wohnungen zerstreut und die Grundstücke nicht deutlich voneinander abgegrenzt. Dort, wo mehr Menschen aus Äthiopien zusammen sind, stehen die Wohnungen dagegen dicht aneinander, werden von hohen Mauern getrennt und mit kleinen Läden und Geschäften bestückt. Trotz der beträchtlichen Homogenität in den Strukturen temporärer Orte entstehen in Flüchtlingslagern Gemeinschaftszentren, Krankenhäuser, Bibliotheken, Begräbnisorte und Landwirtschaftsflächen. Auch in dieser Umgebung extremen Mangels finden die Menschen eine bestimmte Art von Freiheit.

Es gibt auch Fälle, in denen die Geflüchteten an solchen Orten möglichst wenige Wurzeln schlagen wollen. So gab es den Versuch einer der humanitären Organisationen, im östlichen Teil der mittelafrikanischen Republik Tschad ihre Hilfe anzubieten. Dort lebten damals in zwölf Lagern ungefähr 300.000 Geflüchtete aus dem Sudan. Ziel der Organisation war es, in diesen Lagern Bäume zu pflanzen, um die Lebensqualität zu erhöhen, Schattenflächen zur Verfügung zu stellen und das trockene und heiße Klima zu lindern. Auf den ersten Blick lässt sich dagegen nichts sagen. Das Pflanzen von Bäumen ist ein Akt, gegen den nichts einzuwenden ist. Nun ist es interessant, dass die Geflüchteten diesen Plan nicht nur nicht unterstützten, sondern sich direkt dagegen wehrten. Die humanitäre Organisation, enttäuscht und frustriert von der Reaktion der Geflüchteten, verließ diese Region sofort wieder. Die Menschen, die in diesem Lager schon mehr als ein Jahr leben mussten, verstanden das Bäumepflanzen als das Bestreben, sie hier auf Dauer anzusiedeln. Aus dem provisorischen Lager wäre für sie dadurch eine auf Dauer angelegte Struktur geworden, etwas Definitives. Die Geflüchteten hätten dadurch die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat verloren. Die temporäre Form des Lagers gibt ihnen die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder alles einpacken und zurück in die Heimatstadt bringen können. Etwas, das zunächst eindeutig positiv erscheinen mag, kann also im Kontext von Krieg und Gewaltherrschaft zu unerwarteten Folgerungen führen. Bäume, die zunächst einmal nichts Schädliches sind, können zum politischen Werkzeug werden. Die Tragödie ist jedoch, dass in diesen Lagern des östlichen Teil des Tschad auch nach zehn Jahren noch dieselben 300.000 Geflüchteten leben. Die Ablehnung des Bäumepflanzens hatte also leider keinen Einfluss auf ihre schnellere Heimkehr.

Die versteckten Ursachen der Migration

Wenn wir urbane Lösungen für die Folgen der Migration finden wollen, dann müssen wir uns auch ihre Ursachen ansehen. Warum entstehen Migrationswellen? Das massenhafte Verlassen der Heimat wird überwiegend als eine Folge von Krieg und Gewalt interpretiert. Aber woher kommt diese Gewalt? Die Soziologin Saskia Sassen zeichnete eine der Ursachen für Migration am Beispiel der Rohingya in Myanmar nach. Die Rohingya sind eine kleine muslimische Gemeinschaft, die kaum beachtet in den Tiefen landwirtschaftlich geprägter Landstriche von Myanmar lebte. Die Einwohner von Myanmar sind in der Mehrheit Buddhisten, und ihr Zusammenleben mit den Rohingya war in den letzten Jahrhunderten konfliktfrei und friedlich. Im Jahr 2016 jedoch fielen militärische Streitkräfte in das von Rohingya bewohnte Gebiet ein und ermordeten Männer, Frauen und Kinder. Woher kam der plötzliche Hass auf die unbewaffneten und friedsamen Rohingya? Die Erklärung findet sich laut Sassen einige Jahre zuvor, als es in Myanmar zu einer massiven Vertreibung von (buddhistischen) Kleinbauern von den durch sie bestellten Böden kam. Der Grund für die Verdrängung von Millionen von Buddhisten war eine Initiative internationaler Investoren, die diese Gebiete gewinnen, Zugang zu Wasser bekommen, große Plantagen anlegen und neue Bürogebäude bauen wollten. Es muss hierbei hinzugefügt werden, dass die beliebte Führungskraft Myanmars, Suu Kyi (ehemalige Dissidentin und Friedensnobelpreisträgerin), die Beschlagnahmung der Böden lange Zeit nicht infrage gestellt hat und sich zur Tötung der Rohingya erst im September 2017 äußerte. An diesem Beispiel kann man sehr gut sehen, dass die Migrationswelle der Rohingya aus einem viel breiteren Kontext heraus und nicht durch eine rein interne Logik des gegebenen Ortes entstand. Die Vertreibung der Rohingya durch die Buddhisten wurde durch die Vertreibung der Buddhisten von ihren ursprünglichen Ländereien durch ausländische Investoren verursacht. Die extreme Gewalt ist zwar der sichtbarste Grund für die Migration, die Ursache ist jedoch auch die herrschende ökonomische Entwicklung, die jedem Handeln die massive erwerbsmäßige Nutzung von Gebieten zugrunde legt. Das rücksichtslose Ziel der Gewinnmaximierung führt zur Umsiedlung lokaler Einwohner, die dann keine andere Möglichkeit haben als in Slums zu ziehen oder sich auf die Flucht zu begeben. Im schlimmsten Fall kann es zur gewaltsamen Besetzung von Gebieten kommen, die jemandem anderen gehören. Myanmar ist in dieser Hinsicht leider kein Ausnahmefall. Solche Ketten von Umsiedlungen der lokalen und armen Landwirte, die nie einen Beleg oder Vertrag darüber, dass sie die Eigentümer des von ihnen bestellten Landes sind, besaßen, geschweige denn je benötigt haben, geschehen auf der ganzen Welt.

Heutige Städte sind mit einem wachsenden Zustrom von Menschen und mit wiederholten ökonomischen Krisen und Naturkatastrophen konfrontiert. Eine neue Art von Flexibilität wird erforderlich, die es den Städten ermöglicht, dem inneren und äußeren Druck standzuhalten. Die Offenheit der Städte wird nun unentbehrliches Attribut, um überhaupt die Möglichkeit einer Weiterentwicklung aufrecht zu erhalten. Die Städte müssen ihre Überdeterminiertheit der Formen und Funktionen hinter sich lassen. Ein zeitgemäßer Urbanismus müsste lernen, Ströme eher zu erleichtern. Mehr als je zuvor lassen sich Städte heute mit dem Bedürfnis nach Gastfreundschaft, mit dem Bedürfnis nach der Stadt als Zufluchtsort zusammendenken. Man sollte in den Städten neutrale Orte finden können, Räume der Unpersönlichkeit, die es verlorenen Menschen ermöglichen, ein Zuhause und eine Lebensstruktur zu finden. Denn „möglicherweise ist es derjenige, der von außen kommt, der als Barbar wahrgenommen wird, gerade er, der Wüstenmensch oder der Mensch der vita contemplativa, der verirrte Mensch, der an der Schwelle steht und ans Tor anklopft, gerade er wird vielleicht die politische Bedeutung der Stadt vergrößern“.

 

Aus dem Tschechischen von Lena Dorn