[S.41]

[…]

Im April 1935 traf mit dem Schnellzug aus Prag André Breton in Brünn ein …

War das für den Surrealismus ein eher marginales Ereignis, so hatte es für die jungen Männer aus der Plotní ulice enorme Bedeutung. Vítězslav Nevzal brachte seinen Gast schnell ins Zentrum, um ihn dort auf die „zufällige Begegnung eines Rathauses, eines Rades und eines Krokodils“ aufmerksam zu machen. Dann stellte er ihm rasch die „Gisèle Prassinos von Brünn“ vor: die Tochter des surrealistischen Verlegers Jicha, auch Katy King genannt.

Die echte Gisèle aus Nanterre hatte bereits mit vierzehn Jahren per écriture automatique so aufsehenerregende Bilder geschaffen, dass „die Surrealisten von der Kraft ihrer Imagination begeistert waren“ und, wie ihr Entdecker Breton schwor, alle Dichter sie darum beneideten. Die kleine Libuše Jichová dagegen hatte zur Erlangung der Position der wichtigsten tschechischen Surrealistin nichts weiter tun müssen, als sich kurz nach dem Abitur vom brünstigen Nezval verführen zu lassen … und die interessantesten surrealistischen Gedichte, die sie je schrieb, sind einige Briefpassagen über ein Praktikum im Seziersaal.

Aber Breton hat ein volles Programm. Am selben Abend hält er schon einen Vortrag in der hussitischen Kirche am Botanischen Garten … und Nezval wirft sich ins Zeug:

„Meister, das hier sind unsere jungen Surrealisten, les jeunes surréalistes locaux, äußerst talentierte junge Männer …“

Ivan Blatný und Jan Tomeš holen ihre druckfrischen Exemplare der Vases communicants aus der Tasche. Beim Unterschreiben bleibt Bretons Blick am Umschlag hängen: interessant! Er ist von Toyen, diesem zierlichen Mädchen mit dem Knabengesicht und den Herrenhalbschuhen, das er zwei Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hat. Sie werden Freunde sein, ihr ganzes Leben lang. Der Malerin gelingt, wonach sich Nezval lange Jahre vergeblich sehnt: dass Breton ihre spontane Liebe und Ergebenheit zwar nicht erwidert, aber ihr wenigstens seine vollen Gunst und eine größere Anhänglichkeit entgegenbringt.

„Hundertmal durfte ich meine Blicke zu glühenden Sternen-Augen Bretons schweifen lassen!“ ruft Nezval ein Jahr später auf den Seiten seiner Paris-Bibel #Ulice Gȋt le Coeur## aus. Eben reist er aus Paris ab, beugt sich aus dem Fenster – und in dem Moment explodiert ihm im Zugabteil eine Flasche Schaumwein.

Gern schaute er Breton zum hundertersten Mal in die Augen, muss aber nun stattdessen mit dem Schnupptüchl den Rock der älteren Dame abtupfen, die den Segen abgekriegt hat. Unter Entschuldigungen stürzt er zurück ans Fenster und überlässt die Dame ihrem Schicksal – doch unerbittlich hat sich der Zug an der Gare de l’Est in Bewegung gesetzt. Mit seinem verklebten Taschentuch winkt er und winkt, Benjamin Péret, klein auf dem Bahnsteig, schrumpft und schrumpft, bis er zum kleinsten surrealistischen Dichter der Welt geworden ist. Nezval lässt sich entkräftet auf seinen Platz fallen. Die Dame ist irgendwo verschwunden. Am Fenster huschen Häuser vorbei. Unter dem Schädeldach in Nezvals hoch erhitztem Kopf wirbeln die Luftballons von Tagen, die nun gerade schon vergangen sind, ohne Wiederkehr. Wie traurig doch der Abschied von sterblichen Menschen ist, denkt er, zumal man als Mensch selbst dem Tod geweiht ist. Welch eine banale Winzigkeit wird dazu führen können, dass sie einander nie mehr wiedersehen.

Madame kommt ins Abteil zurück und bedenkt ihn mit einem unflätigen Wortschwall in französischer Sprache …

[…]

♦♦♦

[S. 52]

Im Sommer 1935 vergeht kaum einen Tag, an dem der gute Nezval, der liebe Pleva1Josef Věromír Pleva (1899-1985) – mährischer Kinder- und Jugendbuchautor. A.d.Ü. und der liebe Ivan nicht wenigstens ein Weilchen am Fluss verbringen. Die Wasseroberfläche ist träge, der Sommer scheinbar endlos. Nicht nur in der sonnendurchglühten Stadt, sondern auch an der Peripherie, wo mehr Wind weht, sind die meisten Wirtshäuser und Biergärten leer. Die wirtschaftliche Lage hat sich gebessert, und so leben alte Gewohnheiten wieder auf: Man reist in die Beskiden oder ins Altvatergebirge, dort gibt es Hütten, Pensionen und kleine, billige Hotels. Kaum jemand verbringt die heiße Jahreszeit in der Stadt.

An der Svratka bleibt Ivan meist am Ufer sitzen und beobachtet Nezval, der das Wasser liebt. Es lohnt sich. Denn Nezval hält zwar zweimal wöchentlich eine strenge Apfeldiät, aber Blatný wird sich noch nach fünfzig Jahre später daran erinnern, dass er in der Badehose aussah / wie ein kleiner Elefant. Und wenn der kleine Elefant dann seine altmodische Badekappe aufsetzt, muss der kralevi

lachen. Von je her unfähig, sein innerstes Wesen zu verbergen, fällt Nezval ins Wasser ein wie ein Eroberer, nur um dann – seinem Gewicht sei Dank – minutenlang auf der Wasseroberfläche zu schweben, die Hände gemütlich auf dem Bauch gefaltet. Irgendwo in weiter Ferne rattern Straßenbahnen, doch hier herrscht eine Ruhe, die nur vom Lachen einiger Mädchen gestört wird. An ihren langen Wimpern hängen funkelnde Wassertropfen, und Pleva kann sich daran gar nicht sattsehen.

Auf das Baden folgt ein Spaziergang entlang der vielen idyllischen Stellen am Ufer der Svratka, das damals noch nicht mit eingezäunten Schrebergärten übersät ist. Der Stadtrand von Brünn ist typisch ländlich: durch das Vogelgezwitscher klängt von Zeit zu Zeit der Glockenton der Kirchtürme von Jundrov und Komín herüber. Und nur ab und zu mischt sich auch das murmelnde Rauschen der Großstadt darunter, die geduckt jenseits der Obstgärten und der Weinberge lauert. In Písarky, wo es nach Heu und Äpfeln duftet, verabschiedet sich Pleva: er hat noch „Pflichten“, die nicht aufgeschoben werden dürfen. Nezval wünscht ihm, er möge seine „Pflichten“ mindesten dreimal ausüben … und da lugen schon die ersten Mietshäuser um die Ecke und das verwaiste Paar biegt ab nach Steinmühle, einem Flecken, bestehend aus ein paar Vorstadthäusern, mehrheitlich kleinen Gartenwirtschaften. Man betritt direkt von der Straße durch ein Gartentor. Hier machen unsere Freunde Halt und setzen sich an einen der kleinen Tische, nah am Fluss.

„Lieber Ivan“, Nezval lehnt sich weit über den Tisch und drückt ihm fest den Oberarm, wie immer, wenn ihn irgendwas bewegt. „Hörst du diese großartige Symphonie, die nur das Leben hervorbringen kann, mit allen seinen Gegensätzen?“

Ergriffen schweigt er eine Weile, der liebe Ivan holt Luft, aber bevor er einen Satz bilden kann, der dem Pathos des vorangegangenen das Wasser reichen könnte, setzt sich der gute Nezval wieder auf, stemmt sich dann mit dem gesamten Gewicht seines mächtigen Körpers gegen die Rückenlehne seines kleinen Gartenstuhls und ruft fast schon ein bisschen zornig ins kühle, dunkle Innere der Gastwirtschaft hinein.

Ein Ober in einer alten und augenscheinlich lange nicht mehr gewaschenen Schürze kommt wortlos herbei, er trägt einen Backenbart à la Kaiser Franz Josef.

„Die Herrschaften wünschen?“

„Hören Sie die Akkorde, wie der Wind sie sachte aneinanderfügt?“ spricht Nezval eindringlich zum Wirt, mit leisem Tadel in der Stimme. „Das Straßenbahn-Klingeln, das Tschilpen des Rotschwänzchens und das Tirilieren des fliegenden Seidenschwanzes, dann irgendwo von dort eine Harmonika … grässlich, diese Hitze, finden Sie nicht auch?“

Der Wirt schweigt … Was der Herr sich denkt, geht ihn nichts an.

„Bringen Sie mir ein großes Bier und ein Viertel Roten für diesen jungen Dichter hier.“ Er zeigt auf Blatný.

Ungerührt dreht der Wirt sich um und geht ruhigen Schrittes ins Lokal zurück.

Nezval wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, seufzt tief und reibt sich mit einer theatralischen Grimasse den linken Brustmuskel. Ein Weilchen hält er inne, mitten in dieser Geste, die Hand auf dem Herzen, und ruft dann laut, wie wenn man eine Grammophon-Nadel plötzlich auf die Platte setzt:

„Nun erzähl mir schon etwas von eurem surrealistischen Atelier.“

Ivan zündet sich eine Zigarette an und beginnt mit einem hastigen Bericht seiner Eindrücke von der neuen Nummer der Revue Minotaure. Brassaïs zoomorph ausgekeimte Kartoffel habe alle am stärksten fasziniert … er persönlich habe aber Fana Povolnýs2František „Fana“ Povolný – Fotograf, Brünner Surrealist. A.d.Ü. Eierschalen auf der Geige verständlicher gefunden.

„Und wie oft trefft ihr euch?“ fällt Nezval, dessen Blick irgendwo in einer Kastanien-Krone hängt, dem atemlos vortragenden ins Wort und streicht sich auf dem Bauch die grüne Krawatte glatt, die bis jetzt auf dem Tisch lag wie eine herausgelassene Schlange.

„Jeden Samstag, fast …“, kann Ivan gerade noch sagen, bevor der Wirt geräuschvoll mit der Hüfte die Tür aufstößt, einen halben Liter Bier mit Schaumkrone und einen kleinen Krug rubinroten Wein in der Hand.

Kaum hat er die Getränke vor die beiden Gäste hingestellt und wendet sich zum Gehen, da legt Nezval los:

„O zauberhafte Musik der Tage! Surrealistische Samstage sind so weiß wie die Totenmaske eines Priesters. Und ich liebe weiße Samstage, Ivan, ich liebe diese Luftballons, leicht zu unterscheiden von grauen oder braunen Samstagen, Samstagen mit Pepita-Muster, geblümten oder sommersprossigen! Ebenso kann man einen Samstag im September von einem Novembersamstag unterscheiden, der wie die Wölbung einer Landstraße ist, über die sich die Räder eines rauchenden Wagens schieben, aber nein doch, der Samstag ist für mich eine algebraische Zahl, für die man jede mögliche Anzahl einsetzen kann …

Fürchte Dich, Ivan, vor dem Tag, da dich der Zug nicht mehr in Wallung bringt!“ zitiert er übergangslos seinen heißgeliebten Apollinaire.

Crains qu’un jour un train ne t`émeuve plus!3Zitat aus dem Gedicht „Victoire“ von Guillaume Apollinaire, 1917, A.d.Ü.

Zone musst du lesen, Ivan, das ist die Startbahn, von der Breton, Picabia und Éluard abgehoben haben, denn es war ja Apollinaire, L’enchanteur pourissant, der sich schon im Krieg die Bezeichnung Surrealismus ausgedacht hat …“

Jetzt allerdings interessiert sich Nezval für zwei hübsche Mädchen, die sich auf Deutsch unterhalten und über den Zaun in den Garten gucken. Verschwörerisch drückt er Ivan die Hand und starrt die beiden dreist an. Die Mädchen lächeln und winken sogar, gehen aber weiter.

„Stell dir vor, gerade jetzt umgibt mich plötzlich eine Atmosphäre, wie ich sie schon einmal erlebt habe, ganz genauso, als der Krieg ausbrach. Auf einmal fühle sie überall.“

Die beiden trinken einen Schluck, Nezval hat feuchte Augen.

Ivan ist fasziniert von Apollinaires Zug. Er muss wohl für den Surrealismus geboren sein, denn Züge erregen ihn ungemein. Manchmal geht er hinaus in die Südvorstadt zu den Obstgärten und den Gewächshäusern der Krautgärtner, wo die Svitava schon aus ihrem regulierten Flussbett ausgebrochen ist und sich fast jedes Frühjahr über die breiten Wiesen entlang der Gleise ergießt, auf denen die Züge nach Břeclav und nach Wien fahren. Kann es etwas Nostalgischeres geben als einen pfeifenden Zug, der Menschen in nie gesehene Fernen bringt, einem anderen Leben entgegen? Und etwas Schöneres als den wehenden Schweif aus Rauch, aus dem der Wind traurige Funken herauskämmt!

Nach sechs Gläsern Wein entschwindet alles im Nirgendwo…

♦♦♦

[S. 59]

Etwas Wichtiges liegt in der Luft: Der überraschende Wahlsieg von Henleins Sudetendeutscher Partei bei den Wahlen im Mai 1935 und Hitlers frecher Einfall ins Rheinland deuten darauf hin. Nie habe er sich so gefürchtet wie in den Tagen der Rhein-Aktion, wird Adolf Hitler später im Privaten zugeben. Seine Einheiten haben Befehl, sich augenblicklich zurückzuziehen, falls sie auf französischen Widerstand treffen.

Der polnische Botschafter und der tschechoslowakische Botschafter bieten ohne Zögern bewaffnete Unterstützung an … aber der Westen hat, bildlich gesprochen, keine Lust, die Rüstung anzulegen. Man begnügt sich mit einem formalen Protest. Und doch lässt Papst Pius XI. seine Schäfchen in Frankreich wissen: „Wenn Sie augenblicklich 200.000 Mann in die deutsch besetzten Gebiete schickten, würden Sie der gesamten Menschheit einen unschätzbaren Dienst erweisen.“

Im selben Jahr beginnt die Firma Müller & Kapsa die Arbeiten am Brünner Stausee. Endlich! Die vollständige Baugenehmigung für das Projekt war schon 1929 erteilt worden, aber die Nachbeben des Schwarzen Freitag in Amerika haben den Baubeginn um sechs Jahre verzögert.

[…]

♦♦♦

[67f]

„Schau mal!“ Nezval zeigt auf den verwitterten Putz eines Hauses, wo sich ein kleiner Hausrotschwanz sein Nest gebaut hat. „Nehmen wir doch die Straßenbahn nach Bystr

und laufen dann flussaufwärts bis zum Staudamm. Die Zeitung schreibt, er soll in ein paar Wochen fertig sein. Schauen wir ihn uns doch mal an …“

„Und gehen dann zum „Fischer““, setzt Ivan hinzu, mit einem ganz kleinen Fragezeichen in der Stimme.

„Aber nur zum Kaffeetrinken“, meint Nezval und beantwortet damit auch gleich Ivans unausgesprochene Frage: „Weißt du, mein Junge, ich mache manchmal fürchterliche Sachen. Vor ein paar Wochen habe ich im Suff Lilly geschlagen, am Ufer, und einer, der mich zudem noch erkannt hat, hat die Polizei gerufen. Mir tat das alles so entsetzlich leid, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe mir wirklich geschworen, nicht mehr zu trinken, und würde das auch gerne durchhalten, so gut es geht.“

Sie klettern einen Hang hinunter, an dem verstreut die leeren Häuser eines geräumten Dorfes kleben. Die neue Ortschaft Kniničky steht schon, nur 2 km von hier entfernt. Hier, aus dem alten Dorf, sind auch die Schwalben schon davongezogen. Nur ihre festen Nester säumen immer noch die Wand eines verlassenen Stalls. Verblichene, teilweise zerstörte Zäune bieten keinen Schutz mehr. Leer die Hundehütten. Durch nur noch halb in den Angeln hängende Hoftüren bläst der Wind, der langsam stärker wird. Zwei Überschwemmungen hat es unlängst gegeben, und jetzt sieht es hier so aus, als seien die Menschen schon vor Jahrzehnten fortgezogen. Der heiße Sommer hat den angeschwemmten Schlamm in eine graue, staubige, bröckelige Masse verwandelt. Das Tor des barocken Kirchleins auf dem Grund des Tales ist vernagelt, aggressives Unkraut wächst durch die Wand. Der Fluss führt dieses Jahr kaum Wasser. Nezval hebt plötzlich die Hand und daraufhin blicken die Beiden lange vom zukünftigen Grund des Stausees hinauf in den dunklen, violetten Himmel, an dem zwei Punkte kreisen. Bussarde. Die alte Post steht sperrangelweit offen, am Mast hängt schlaff ein Fahnen-Rest. Der Schieferbelag der Treppe fehlt, es bleiben nur Stücke des Fundaments, die unter den Füßen plötzlich zusammenbrechen. Die Stille wird auf einmal tiefer, als bereite sie sich schon auf die Lautlosigkeit der kommenden Jahre vor.

Auch unseren beiden Wanderern ist nicht nach Reden zumute. Das hier ist ein Ort, wo der Mensch nichts mehr zu suchen hat. Das flüstern sich die löchrigen Dächer zu, die weniger zerstört sind als auseinandergenommen: Balken kann man im Garten immer brauchen, Strohbündel zum Anheizen … Und auch der Knöterich, dessen verstaubte Triebe die verschwindenden Reste der Wege bevölkern, verweist darauf, schweigend. Hinter einer wackligen Hütte stoßen sie auf eine tote Katze, ein Kadaver voller Fliegen, sofort ist jeder poetische Gedanke wie weggeblasen. Ivan betrachtet seine verdreckten Schuhe. Es beginnt zu regnen. Nezval steigt langsam und angestrengt den Berg hinauf. Ein erster Blitz durchzuckt den Himmel in der Ferne, hinter einer Wand dicker, elektrisch geladener Luft ertönt der Donner. Es regnet stärker, jetzt schüttet es bereits, Ivan und Nezval suchen schleunigst Unterschlupf in einem menschenleeren Haus am Hang.

Draußen ist es plötzlich völlige dunkel und es dauert etwas, bis sie etwas sehen können. Es stinkt es nach Mäusedreck und Schimmel. Im Dämmerlicht sind erste Dinge erkennbar, ein vermoderter Bauernstuhl, den jemand in einem Winkel stehen lassen hat, und gleich daneben eine wackelige Eckbank. Der müde Nezval setzt sich gleich, Ivan zieht erst noch sein Taschentuch heraus und setzt sich dann. Ein Jazz-Besen trommelt auf das Dach, die Tropfen draußen klatschen auf die dürre, harte Erde. In unberechenbaren Intervallen nimmt der Regen weiter zu, bildet Rinnsale auf dem Boden.

„Ivan, ich habe Angst, dass es so richtig schlimm wird. Hitler holt sich bei uns das, was er will, und ringsum werden alle so tun, als nehme er sich nur, was ihm gehört. So schlau hat er es schon in Österreich angestellt. Alle konnten so tun, als sei er gekommen, um sie zu retten. Und unsere Bündnisverträge über die wechselseitige militärische Unterstützung, die werden uns nichts nützen. Niemand wird das als Konflikt betrachten.“

„Russland wird uns helfen!“

„Quatsch, mein Junge, wird es nicht. Stalin hat schon so genügend Sorgen mit der Opposition zu Hause. Der braucht seine Ruhe, und keinen Krieg. Und außerdem hat sich der Russe schon im ersten Krieg mit dem Deutschen verständiget, also wird er es wieder tun.“

„Ich glaube, Hitler hat im Mai gesehen, dass wir uns verteidigen werden. Und er ist noch nicht stark genug, um eine Schmach zu riskieren …“

„Für den Anfang wird er sich ganz einfach mit den Engländern und den Franzosen verständigen. Die haben beide nach Versailles den Deutschen ihre Kolonien abgenommen und sind froh, wenn über das gesprochen wird, was wir den Deutschen schulden. Schau dir den Runciman doch an! Der ist nur hier gewesen, um festzustellen, was man auch vorher schon wusste.“

„Wenn Hitler kommt, wird Brünn aussehen wie vor der Republik. Nur noch Deutsche, alle. Du wirst sehen!“

„Aber meine Frau Großmutter ist auch halb Deutsche, oder nicht?“

Darüber lachen beide. Aber dann sagt Nezval noch:

„Mit einem Unterschied. Die reichsten Deutschen in Brünn sind schließlich Juden. Und die werden nicht hierbleiben. Einige von ihnen verkaufen ja jetzt schon alles, was sie haben, zum halben Preis.“

„Das Recht zu sterben kann dem Menschen keiner nehmen. Nicht einmal ein Deutscher.“

„Ach Ivan, mein Guter, ich hoffe, dass du niemals an das denken musst, was du gerade gesagt hast“, ruft Nezval aus, hörbar bewegt. Und wendet schnell das Blatt.

„Der Damm ist fast fertig. Wenn es nicht aufhört zu regen, bleiben wir hier stecken und werden Wassermänner.“

„Vielleicht ist das ja die bessere Lebenswelt für einen jungen und einen alten Hasterman“, lacht Ivan. Aber Nezval ist schon begeistert von der Vorstellung und spinnt sie weiter aus:

„Stell dir vor, wir schwimmen hier herum, zwei Menschen-Fische, ich ein alter Wels und du mein Freund Zander. Wir atmen nur reines Wasser und backen uns in einem Ofen Brot aus Wasserpflanzen. Oben wütet vielleicht ein Krieg, aber was wissen Fische schon von Kriegen?! Und abends, wenn uns der Mond ins Zimmer scheint, lesen wir einander die Wassergedichte vor, die wir tagsüber den Schmerlen und den anderen Wasserbewohnern abgelauscht haben.“

Die Staumauer von Kniničky wird im Herbst 1938 fertig gestellt. Gerade rechtzeitig, denn die nächste Herbstüberschwemmung füllt das Becken schnell auf. Kniničky verschwindet für immer unter der Oberfläche des Staussees und schäumendes Wasser jagt durch die Überlaufrinnen des neuen Wasserwerks.

Die Staatsgrenze verläuft jetzt zwanzig Kilometer hinter Brünn.

Die traurigen Clowns des Poetismus sitzen auf gepackten Koffern und ziehen weiter ins Landesinnere. Die Fische dürfen unter der Wasseroberfläche bleiben. Unsere beiden Freunde von heute aber trennt das Protektorat.

[…]

♦♦♦

[S.253f]

Ende Februar 1948 lagen in den Druckereien – wie zu allen Zeiten seit dem Krieg – bergeweise druckfrische Bücher und warteten auf die Auslieferung. Viele von ihnen gelangten aber gleich in den ersten Tagen nach dem Sieg der Arbeiterklasse nicht mehr auf die Ladentische der Buchhändler, sondern wanderten direkt in den Reißwolf. Betroffen waren beispielsweise die Erinnerungen Edvard Benešs, der zu jener Zeit noch Präsident der Tschechoslowakei war. Oder die Schlesischen Lieder des Dichter Petr Bezruč, deren Distribution Pavel Reiman, Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees der KSČ wegen ihres angeblichen Antisemitismus persönlich abbrechen ließ. Oder der Bildband Jan Masaryk in Fotografien.

Es scheint, als hätte jemand das Schicksal des damaligen Außenministers4Jan Masaryk, 1886-1948, Sohn T.G. Masaryks, ab 1940 Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung, nach 1945 bis zu seinem lange Zeit ungeklärten Tod 1948 weiter Außenminister der Tschechoslowakischen Republik. besser gekannt als dieser selbst: Jan Masaryk wurde am 10. März 1948 von den sowjetischen Agenten Belkin und Bondarenko ermordet.

Zur gleichen Zeit wurden aus dem Syndikat der tschechischen Schriftsteller Dutzende Mitglieder ausgeschlossen, unter ihnen Bohdan Chudoba, Bedřich Fučík, Josef Knap, A. C. Nor, Ferdinand Peroutka, Bohuslav Brouk, Zdeněk Rotrekl und Edvard Valenta.

Brouk floh umgehend über die Grenze, wogegen sein Bruder Jaroslav, der die im Familienbesitz befindliche Warenhauskette Brouk&Babka verwaltete, direkt verhaftet wurde.

Aus einer Delegation, die Ende März auf Einladung des British Council nach England reisen soll, wurde der katholische Autor Jan Čep abberufen. Auf Vorschlag Nezvals und mit dem Zuspruch von František Halas wurde an seiner Stelle Ivan Blatný nachnominiert.

Am Morgen des 28. März 1948, vor seiner Abreise nach Prag, klopft Ivan Blatný an die Schlafzimmertür seiner Vermieterin.

„ Frau Kainarová, ich würde gerne meine Rechnung begleichen.“

„Aber Herr Ivan, es ist doch noch gar nicht Monatsende, was wollen Sie denn … „

„Ja, aber ich fliege nach England …“

„Dann geben Sie es mir eben, wenn Sie wiederkommen.“

„Aber ich möchte wirklich lieber jetzt schon bezahlen.“

„Aber Herr Ivan, das ist doch Unsinn. Schauen Sie, Sie bezahlen, wenn Sie wieder da sind.“

♦♦♦

„Am 31. März“, erinnert sich Dresler5Jaroslav Dresler, Journalist und Prosaautor, vor Februar 1948 Mitarbeiter der Brünner Redaktion der Lidove noviny. A.d.Ü., „kam Kainar in die Redaktion der Svobodné noviny6„Freie Zeitung“, A.d.Ü. gerannt. Er hatte die Nachricht gerade im tschechischen Programm der BBC gehört. Und lud uns ein, sie in Ivans Wohnung zu feiern, er habe noch den Schlüssel. tatsächlich haben wir uns dann an dem Abend am Obilní trh besoffen. Kainar ging dann tags drauf zum Journalistenverband, um mich anzuzeigen: Ich hätte Blatnýs Überlaufen zum Feind gebilligt.“

Vorher setzt sich der liebe Josef Kainar aber noch auf Ivans Schreibtischkante, sinnt ein bisschen nach und tippt dann schnell auf Blatnýs Schreibmaschine noch einen neuen, witzigen Kommentar, der bei seinem Blatt schon sehnsüchtig erwartet wird:

Ein Jung-Genie ist Gegenstand des Stolzes seiner Stadt,
Eine Art Statue von ihr, obwohl es noch zu leben hat,
in einer Pose, die im Ichgefühl erbebt
und mit gewagten Akrostychen über Aprikosen in den Parnass strebt.

Niest das Genie, so schreit die ganze Stadt: Was für ein Abgrund! Welch Skandal!
Stottert es: Höret den Propheten, radikal!
Verguckt sich gar in eine Dame unser junger Mann,
haben drei Biographen ihr gefundenes Fressen dran.

Doch dann packt er sein Köfferchen, unser genialer Junge,
mit Zuckerwerk, Parfüm und Handcreme, und er zeigt frech die Zunge
Leb Wohl, ČSR, alter Lappen du, mein Fußabtreter,
An meinen Gittern will ich Wappen sehn, dem Hamsterrad der Poesie adé – bis später.“

Staatlich subventioniert reist unser Genius in England ein,
und will gleich ungeniert der Bi Bi Si von Nutzen sein.
So trägt er hurtig vor, was er sich alles denkt und was ihn juckt,
wie er, was er, dass er, und auf was er so alles spuckt.

Das hört die Stadt, und wundert sich, man denkt:
Hol doch der Teufel das Genie!
Davongemacht wie er hätt ich mich nie.
Uns bleiben Äpfel, Pflaumen … gut, geschenkt.

Als Diener eines Staates endet das Genie.
Ein solches Schicksal wollte unser Ivan sicher nie.
Jetzt muss er immerzu für jedes Pfund
Nachrichten schreiben, reden nach dem Mund.

Vorträge über Freiheit halten, aber unter Zwang.
Der Bi Bi Si zu Willen, Ivan, wird Dir da nicht bang?
Britannias Löwe hat die längeren Krallen.
Was solln wir tun? Ach, lassen wir ihn fallen.“

[…]

♦♦♦

[S. 279]

Am Freitag, den 3. Mail 1948 sitzt im Brünner Café Flora eine Gruppe junger Autoren mit ihrem Patron František Halas. Die Feiern zum Tag der Arbeit haben einen üblen Nachgeschmack hinterlassen, wie eigentlich alles in letzter Zeit. Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen haben die Kommunisten haben sich bemüht, den Mai-Demonstrationen den Anstrich einstiger Maifeste zu geben. Aber kaum jemandem war zum Lachen zumute. Stalin, Beneš, Gottwald: Hier kamen sie ein letztes Mal zusammen, Seit an Seit – auf großen Fotos.

Auch die jungen Männer, die hier in der Flora noch zusammen am Tisch sitzen, wird das Schicksal schnell in alle Winde zerstreuen. Aber noch werden staatsfeindliche Reden geführt, Halas ist betrunken eingeschlafen, den Kopf auf dem Tisch. Täglich brandet das Donnern der Propagandageschütze aus den Straßen in die menschlichen Behausungen und Kneipen herein. Kein Zweifel, ein neuer Kampf ist entbrannt und er wird seine Opfer fordern. Aus der Perspektive der Strategen und Planer einer besseren Zukunft ist das Fußvolk bedeutungslos. In ihren Händen verwandeln sich Tausende, ja, Millionen konkreter Menschen blitzschnell in eine große Plastelin-Kugel namens Volk.

Irgendjemand zieht die Ausgabe der Rovnost vom 1. Mai aus der Tasche, in der eine kryptische Erzählung über Ivan Blatný erschienen ist.

„ Jungs, habt ihr das hier schon gelesen? Es lohnt sich!“

Bohumír Polách, Sohnemann eines Armeeoffiziers, der schon auf die fünfzig zugeht, hat sich entschlossen, den Kommunisten zu beweisen, dass auf ihn Verlass ist. Er ist der Autor mehrerer relativ erfolgreicher Operetten-Libretti – und die Operette ist ja nun doch ein Genre, das sich für alle Zeiten eignet. Die Nazis hatten nichts dagegen, warum sollten sie die Kommunisten da verbieten? Man muss sich nur sehen lassen …

„Ich wusste nicht einmal, dass er Blatný kannte.“

Ein Knall bricht das verlegene Schweigen der Runde am Tisch: Jemand vom Nachbartisch hat seinen leeren Halbliter auf den Boden geschleudert.

Halas hebt jäh den Kopf und blinzelt vor sich hin …

Plötzlich erschrickt er: „Wo ist Skácel?!“

„Der ist aufs Klo gegangen …“ sagt Jaroslav Dresler.

„Na dann ist ja gut …“ Halas beruhigt sich und setzt leise hinzu:

„Ich dachte schon, er ist los, um uns anzuschwärzen.“

Dann trinkt er einen Schluck Wein. Egal, dass es nicht seiner ist. Kainar, dem das Weinglas gehört, will wissen, ob František diesen Polách gut kennt. Ob er weiß, was das für einer ist. „Na allerdings,“ prustet der einst so vornehme Halas los und zitiert ironisch jemandes Lobeshymne, derzufolge Poláchs Libretti „durch frische Einfälle und gutmütigen Humor glänzten.“

„Na dann hört euch das hier an, den gutmütigen Humor! Ivan würde sicher vor Lachen platzen.“

Endlich gelang es ihm, das Fenster aufzumachen. So ein seltsames System … Frische Frühlingsluft, kühl und nebelschwanger, peitscht den Körper in dem dünnen, teefarbenen Pyjama wie eine Rute. Mechanisch greift er nach dem Veloursmantel, den er aufs Bett geworfen hatte, und knotet fieberhaft den Gürtel zu.

Verfluchte Nächte. Lang und freudlos. Nicht auszuhalten. Ivan Bříza stützt sich mit den Ellbogen auf das äußere Fensterbrett und bemüht sich, den dichten weißen Nebel zu durchdringen … Seine kindlich-weiche Kinn ist aufgeklappt, die Lippen sind leicht geöffnet und gekräuselt wie zum Weinen. Dort, bei ihnen, blühen jetzt die Himmelschlüssel und die Gänseblümchen. Dort, bei ihnen, ist jetzt eine klare Sternennacht. Vielleicht jagen auch dort am Himmel Wolken, vielleicht ist auch dort der Himmel dunkel wie die Augen eines Mädchens, das am Herzen seines Liebsten ruht. Vielleicht. Aber die Laternen aus den Stra0en schreien dich aus der Ferne an und die erleuchteten Fenster der Häuser gegenüber scheinen dir zuzunicken …

„Was für ein Idiot!“, macht sich Dresler Luft.

„Und warum Bříza?“ fragt irgendjemand.

„Weil das Kunst ist,“ keift Kainar giftig. „Weil wir die Zeiten der wortwörtlichen Kritik und der Anprangerungen hinter uns gelassen haben und das Schicksal eines Renegaten nun zum Gegenstand von Kunstwerken wird.“

„Lies weiter …“

[…]

♦♦♦

[S. 286]

Der Winter 1946-47, so ein harter Winter, wie ihn Großbritannien in sechzig Jahren nicht erlebt hatte, erinnerte alle daran, dass das Kriegsende nicht automatisch das Ende aller Probleme bedeutete. Nun wurde an anderen Fronten gekämpft. Und als infolge der Fröste und Schneekatastrophen der lebensnotwendige Export für einige Monate um über zweihundert Millionen Pfund einbrach, war der Effekt ein ähnlicher wie der der deutschen Gegenoffensive im Dezember 1944.

Hatten jedoch die Deutschen in den Ardennen ihren Schwanengesang gesungen, kam diesmal bald nachdem der Winter vorbei war, noch ein Schlag: Um einen amerikanischen Kredit zu bekommen, musste Großbritannien sich verpflichten, dass es seine Währung frei konvertierbar zu machen. Die führte im Juli 1947 zum einem so massiven Rückgriff auf die Dollar-Reserven führte, dass der freie Wechselkurs des Pfundes bereits im Monat darauf wieder gestoppt werden musste. Da stand das Land bereits am Rande des finanziellen Zusammenbruchs … und nur die jähe Aufstockung amerikanischer Hilfen im Rahmen des Marshallplans brachte die Rettung.

Noch im Frühjahr 1948 sahen manche Viertel Londons aus wie die Überreste von Pompeji. In den Zeitungen wurde daran erinnert, dass die deutschen Luftangriffe zehntausende Häuser komplett zerstört hatten und 1,5 Mio. Menschen das Dach über dem Kopf verloren hatten … Straßenkinder spielen in den Vorstädten Schutt- und Ziegelbergen, unter denen immer noch Tote verschüttet waren. In den verlassenen Häusern mit dem geborstenen Mauern roch es nach Schimmel und Fäulnis.

England hatte, um es kurz zu machen, eigene Sorgen am laufenden Meter … und die Probleme eines introvertierten Emigranten aus der Tschechoslowakei waren das letzte, womit man sich intensiv beschäftigen konnte und wollte. Ivan Blatný war jedoch nur die Vorhut einer gewaltigen Emigrationswelle, die während des kommenden Jahres über 60.000 Menschen aus dem von den Kommunisten vergewaltigten Land wegschwemmen sollte. Sofort nach den Februar-Ereignissen wurde London zum begehrten Fluchtort für diverse Prominente – Ex-Minister, Abgeordnete, Diplomaten, Generäle, Publizisten, hochkarätige Mitarbeiter der Parteisekretariate. Sie alle erwarteten eine deutlich erklärte und materielle Unterstützung, war hier doch vor nicht allzu langer Zeit noch der Sitz der tschechoslowakischen Exilregierung gewesen.

Es sollte sich bald zeigen, dass die britische Regierung mit etwas Derartigem nicht gerechnet hatte. Sie war zunächst nach wie vor damit beschäftigt, Essen, Wohnung und Arbeit für die eigenen Bürger zu sichern.

♦♦♦

Die Rovnost vom 1. Mai liegt noch auf dem verlassenen Tisch im Café Flora …

Über Ivan Blatný und sein Schicksal sind die wildesten Gerüchte im Umlauf. Einem zufolge soll Ivan versucht haben, als Arbeiter in einer Textilfabrik anzufangen, sicherlich vergebens. Auch soll er „seinen Bankier“ besucht haben, um sein Geld aus der Schweiz auf ein neu angelegtes Konto zu übertragen. Es heißt, er sei nach Schottland gereist, zum Forellen-Angeln. Karel Brusák behauptet, er habe eine zeitlang irgendwo als Lagerarbeiter gearbeitet.

Außerdem hat sich Blatný – und das ist sicher! – ein paar Mal beim BBC etwas dazuverdient. Man hatte ihm ermöglicht, auf die Anwürfe aus seiner Heimat zu reagieren. Wir wissen, dass er sich vor den hysterischen Reaktionen der tschechoslowakischen Presse wirklich fürchtete. Seine Nachrichten pro Pfund waren also schwer verdientes Geld.

[…]

[S. 375]

Vítězslav Nezval

Ach schade

Ach schade, schade, ewig schade
um diesen Dichter, der uns fremd geworden!
Du, dessen Herz unsere Nation verlassen hat,
Der du dich deiner, unserer Sprache so entfremdet hast,

über die du hättest doch wachen können, sollen,
und in der soviel Schönheit liegt, verborgen.
Sag mir, sag mir, wie geht es Dir?
Trotz alledem: Mir tust du leid.

Wie konnte dich die Themse locken,
znd Frauen und Gott weiß was noch“
Was schwirrt dir jetzt im Kopf herum!
Was für ein Nadelwald spendet dir Schatten!

Schlechtes Gewissen ist ein fürchterlicher Wurm.
Du zahlst ihm Tribut ohne Ende!
Wenn man ihn in Konservenbüchsen einschließen könnte.
Trotz alledem: Mir tust du leid.

Was wolltest du denn? Was? Ruhm? Ruhe,
während wir hier schuften?
Wie wenig hast du unser Volk geliebt!
Verraten hast du es, doch wir dich nicht!

Noch auf dem kleinsten Weiler
werden wir in diesem Jahr zusammen Korn einfahren,
während hinter den den Mauern eines Irrenhauses …
Trotz alledem: mir tust du leid.

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Nezvals Gedicht Ach schade, das in der Tschechoslowakei 1952 erschien, nennt keinen Namen. Dennoch wissen alle, von wem hier die Rede ist. Und das war es gerade: Denn obwohl es auf den ersten Blick nach einem mustergültigen Aufbau-Reimchen aussieht, erinnert Nezval hier wahrhaftig ganz unverblümt an Ivan Blatný. Und das zu einer Zeit, als der in seinem Land bereits komplett persona non grata war, zufällig genau in dem Jahr, in dem der kommunistische Rundfunk Blatnýs Tod verkündete!

Im Ausland, hinter den hermetisch abgerigelten Grenzen, waren solche Nuancen allerdings nicht lesbar. So ist es denn auch kein Wunder, dass Nezval von den Schriftstellern im Exil ganz schön eins auf den Hut bekam. Noch 1979, in seinem Nachwort zu Blatnýs Alte Wohnsitze, knöpfte sich Antonín Brousek dieses Gedicht erneut vor. Mit dem ihm eigenen Sakrasmus nimmt er alle ideologischen Klischees auseinander, die das Gedicht zu bieten hat, und bemerkt zum Abschluss seines Ausfalls ironisch: „Es bleibt zu loben, dass Blatný dem Humanisten Nezval wenigstens leid tat.“

Und hier ist es nun passend, Brousek anknüpfend eine Frage zu stellen, die er in seinem Text nicht mehr stellt:

Gab es denn wirklich einen Grund, um Blatný zu bemitleiden?

Es soll hier gar nicht darum gehen, wie er seine Zeit Exil erlebt hat, über die wir nun schon sehr viel mehr wissen, als Nezval je gewusst hat. Die Frage ist, wie die Dinge wohl gestanden hätten, wäre Ivan Blatný Herz nicht im März 1948 seine Nation verlassen. Wenn er also nach seinem Stipendienaufenthalt zurückgekommen wäre in die Heimat …

Bohumír Polách imaginiert ihn bei der Mai-Demonstration, die Jungen und die Mädchen gehen irgendwohin, in ein Wäldchen, werden vielleicht unförmige Herzen mit den Monogrammen ihrer Lieben in die Baumrinde schnitzen …und Ivan Blatný reist ein- bis zweimal im Jahr ins Ausland, Diäten vom Schriftstellerverband in der Tasche, ganz zu schweigen von den Literaturpreisen, die man hierzulande für ihn bereit hält.

Nezval schickt Ivan aufs Feld, was dem der manuellen Arbeit abholden Freund wahrscheinlich weniger gut gefallen hätte als die Auslandsreisen. Aber wenn wir uns vorstellen, wieviel Feldarbeit wohl Nezval selbst abgeleistet hat … Und wenn doch — stellen wir es uns vor — wäre das immer noch besser, als in irgeinem englischen Loch unter Verrückten zu vergammeln.

Wir wissen, dass Blatný schon im März 1948 in seinem Brünner Briefkasten eine Liste vorgefunden hätte – mit den Themen, über die er in Zukunft schreiben sollte. Aus seiner Rede im BBC erinnern wir uns, wie sehr erschreckend und abstoßend er das fand. Aber vielleicht konnte er sich einfach nur nicht vorstellen, wie er über Dinge schreiben sollte, die er nie erlebt hatte.

Dieses Problem machten sich die weisen Köpfe vom Schriftsteller-Syndikat glücklicherweise schnell bewusst – und begannen, ihren Mitgliedern, Dichtern und Schriftstellern außer den Themen auch „Dienstreisen“ zuzuschicken. Josef Hiršal verbrachte auf diese Weise mehrere Monate in der Brünner Munitionsfabrik, um Inspirationen für ein Kinderbuch zur Traktoren- Fabrikation zu sammeln.

Jiří Kolář, den die Führung der Genossenschaft Dílo, wo er damals arbeitete, unter etwas dramatischeren Umständen auf eine zwangsfreiwillige Brigade schickte, wischte sich mit diesem „Angebot“ – bildlich gesagt – den Hintern ab und verlor seinen Arbeitsplatz. Sicherlich, anders als Hiršal hatte er kein halbjähriges Kind. Aber er hatte auch nichts mehr zu verlieren. Kurz zuvor war nämlich unter dem Titel Fahnenflucht in der Tvorba ein Artikel von Jan Štern gedruckt worden, der sich auf Kolářs soeben erschienenes Buch Tage im Jahr bezog.

Diese Hinrichtung kündigte die Tvorba auf der Titelseite mit den Worten an: „Jan Štern kritisiert literarische Missgeburten“ … und dieser eine Text war ausreichend, dass das Buch augenblicklich aus dem Verkehr gezogen und eingestampft wurde.

„Wenn Kolář mit seiner Poesie so etwas säen will, dann muss er sich einen anderen Sandhaufen suchen“, wettert Jan Štern in gerechter Empörung. Es sieht aber nicht so aus, als hätte Kolář wirklich irgendeine Wahl gehabt.

„Kolářs Fall ist eine Warnung für alle diese wankelmütigen Dichter, die in matter Verlegenheit dahintaumeln. Revolutionäre Zeiten sind unsentimental. Sie kennen nur nein oder ja. Nichts dazwischen.“

Wie jenes ja geklungen hat, dokumentiert das von Brousek herausgegebene Buch Merkwürdige Zauberer, das den vielsagenden Untertitel „Lesebuch des tschechischen Stalinismus in gebundener Sprache aus den Jahren 1945-55.“ Trägt.

Es wäre sicher vergnüglich, sich daraus wenigstens ein paar solcher dichterischer „Ja-s“ in Erinnerung zu rufen. Aber wir sollten nicht die Frage aus den Augen verlieren, um die es hier eigentlich geht: Wäre es Ivan Blatný wohl besser ergangen, wenn er zu Hause geblieben wäre?

[Ivan Blatný verbrachte den Rest seines Lebens in psychiatrischen Einrichtungen in England. Er starb 1990 in England. Vermittelt durch die Krankenschwester Frances Meacham und tschechoslowakische Dissidenten im Exil wurde er bereits vor 1989 zu einer Legende des tschechoslowakischen Undergrounds.

Seinem Alltag, seinem Schreiben und seinen Gewohnheiten in der englischen Psychiatrie, seinem Verhältnis zur Tschechoslowakei und seinem späten schriftstellerischen Ruhm ist die zweite Hälfte des Romans gewidmet.]

Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka.

   [ + ]

1. Josef Věromír Pleva (1899-1985) – mährischer Kinder- und Jugendbuchautor. A.d.Ü.
2. František „Fana“ Povolný – Fotograf, Brünner Surrealist. A.d.Ü.
3. Zitat aus dem Gedicht „Victoire“ von Guillaume Apollinaire, 1917, A.d.Ü.
4. Jan Masaryk, 1886-1948, Sohn T.G. Masaryks, ab 1940 Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung, nach 1945 bis zu seinem lange Zeit ungeklärten Tod 1948 weiter Außenminister der Tschechoslowakischen Republik.
5. Jaroslav Dresler, Journalist und Prosaautor, vor Februar 1948 Mitarbeiter der Brünner Redaktion der Lidove noviny. A.d.Ü.
6. „Freie Zeitung“, A.d.Ü.