Die Stunde ist aus Blei

Wer überlebt, denkt dran,

Wie die Erfrierenden den Schnee noch sehn –

Erst – Frost – dann Starre – und dann läßt man’s gehn –

EMILY DICKINSON[1]

 

Prolog

Wanderer und Reisende im ganzen Erdenrund

 

Der Reisebericht erscheint beschnitten, kastriert. Die Schriftstellerin hat ein ungutes Gefühl, als ob sie ihn mit gebundenen Händen geschrieben hätte. Mit Bleigewichten an den Handgelenken. Sie schreibt über die Landschaft, die Berge, die tausendjährige Kultur, über Sommerpaläste, den alten chinesischen Vers, über Eierschalenporzellan, über die Schwunghaftigkeit und die mühevolle Schönheit, die einem den Atem raubt, dass man keine Luft bekommt und erstickt. Sie schreibt über buddhistische Tempel; das Ziel ist das Nirvana, das Erlöschen aller Sehnsüchte und alles Neuerschaffens, wohliges Eingehen ins Nichts; jede Gewalttätigkeit wühlt die glatte Haut der Welt auf und verschmutzt das Karma. Sie schreibt über megalomanische Städte, chinesische Gärten, über chinesisches Essen, chinesische Kalligraphie, über die Feinheit und leises Beben, es ist witzig, es ist kurz, gespickt mit einer Menge Fotos und kleinen praktischen Tipps, Pünktchen für Pünktchen. Wenn Sie aufgegessen haben, geben Sie das bitte der Bedienung zu erkennen, indem Sie beide Stäbchen hübsch waagerecht nebeneinander über das Essschälchen legen. Wenn Sie Tee in Gesellschaft trinken, ist es höflich, zuerst die Schalen der anderen zu füllen, wenn Sie bemerken, dass sie leer sind. Und wenn Ihnen jemand Tee einschenkt, tippen Sie leicht mit dem Zeige- und dem Mittelfinger auf den Tisch zum Zeichen Ihrer Dankbarkeit. In der Stadt Lhasa achten Sie auf die Höhenkrankheit; mache Hotels bieten auch Sauerstoffflaschen an.

Es kommt die Zeit der Abenteurer und Reisenden. Sie werden die Welt neu entdecken, mit eigenen Augen, eigenen Ohren, eigener Seele, nicht nachplappern und halblügen. Sie werden endlich sehr vorsichtig mit täuschenden ersten Eindrücken sein. In China ist alles anders, als es sich auf den ersten Blick darstellt. Man braucht einen aufmerksamen zweiten, dritten und vierten Blick tief unter die Oberfläche. China ist nicht nur das Bild moderner Großstädte, so wie die Stadt Peking oder die Stadt Schanghai und die ganze Provinz Kanton. China ist mehrere Länder in einem einzigen. Jede der Provinzen hat wiederum ihre Zentren und ihre Peripherien mit miserablen Verkehrsverbindungen, rückständigen und armen ländlichen Gebieten und korrupten Machthabern; Armut und Reichtum lassen sich nicht verstecken.

Im neunzehnten Jahrhundert wurde die Macht der Stadt Peking in Tibet schwächer. Es blieb nur ein symbolischer Schatten ihrer einstigen Macht. Vom Zerfall des Kaiserreiches im Jahr 1912 bis zur kommunistischen Invasion in den Jahren 1950-1951 war Tibet ein unabhängiger Staat. Keine kommunistische Regierung möchte Tibet die Unabhängigkeit zuerkennen. Möchte sich nicht einmal mit dem tibetischen religiösen Oberhaupt, dem Dalai Lama, über Autonomie verständigen. Es ist ein großes Territorium und die Chinesen haben sich selbst überzeugt, dass es sich um einen Teil des historischen Chinas handelt. Die Menschen aus wohlhabenden Ländern reisen sehr gern hierher. Sie informieren sich unablässig in den sozialen Netzwerken gegenseitig darüber, was sie essen, trinken, besuchen, wo sie schwimmen gehen, welche Berge sie erklettern, in welche Betten sie kriechen. Eigenartig ist, dass sie dasselbe essen und besuchen; die Welt sieht wie die lustige Wanderung eines Haufens von Informationen über sie selbst aus. Sie bestätigen sich in dem Bild der Welt, über die sie Reiseführer schreiben.

Alles andere beunruhigt sie.

Im Jahr 1989 erhielt der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Seitdem ist Tibet populär wie nie zuvor. Die Stadt Dharamsala, oder genauer gesagt McLeod Ganj, ein indisches Städtchen, in dem seine Heiligkeit jetzt lebt, wurde zu einem Wallfahrtsort aller Idealisten, aller Glückssucher; ein Wallfahrtsort des Massentourismus des glücklichen Gemüts. Europäer und Amerikaner legen hier Hass, Zorn, Ängste, Beklemmungen, Wut ab. Mögen alle Wesen glücklich sein, lautet eine tibetische Redewendung. Alles Tibetische – der Buddhismus, die Medizin, die Kunst – wurde auf westlichem Boden zu etwas Heiligem; lässt sich gut verkaufen. Niemand beschäftigt sich mit der chinesischen Okkupation, niemand glaubt an die Rückkehr des Dalai Lama.

Zuerst ein Opfer der chinesischen Aggression. Jetzt ein Opfer des Neoliberalimus und der Touristen. Die nur eins erwarten: dass die Tibeter friedliebend und gottesfürchtig sind, auf Yaks reiten, auf den Berggipfeln sitzend meditieren, dass sie Buttertee trinken. Der Westen finanziert alles mit dem Adjektiv tibetisch großzügig, vor allem alles, was Mönche angeht, Heilpraktiken, Künstler, Mystiker. Aber er ist nicht bereit, die Tibeter zu unterstützen, damit China ihnen Tibet zurückgibt. Er ist nicht bereit, die Mönche zu unterstützen, die sich aus Protest gegen die chinesische Okkupation jedes Jahr verbrennen.

Sie sind nicht bereit, sich selbst zu verbrennen.

China ist Lächeln und Geduld.

Diese Teile des Manuskripts setzten die unsichtbare Hand der Redaktion und des Marktes rasant in Kursiv. Und strichen sie. Bemerkenswert ist, dass auch Konfuziuszitate gestrichen wurden. So haben wir uns das vorgestellt. Sagen sie süßlich.

Die Schriftstellerin weiß nicht, was sie mit diesem zweiten, dritten, vierten Text machen soll. Mit der brutalen Unruhe der Sätze und Figuren; jede hat eine andere Stimme verdient. Pünktchen um Pünktchen, Mikrosituation um Mikrosituation; Gespräche und Gespräche; Briefe und Briefe.

Ein chinesisches Tagebuch.

Die übereinander liegende Bodenschichten schieben sich durch die Jahrhunderte. Wenn der Mensch nicht weiß, wo er hintreten soll, fällt er in eine Kluft oder einen tückischen Erdriss. Verschwindet in einer unauffälligen Spalte für immer. Er hat nie existiert.

China entblößt Charaktere. China entblößt Beziehungen und den Kern. Ein Lagerkoller in der riesigen Menschenmenge ist eine Katharsis; der Grundton bleibt. Die Schriftstellerin verabschiedet sich vom alten Europa. Von den Idealen, an die sie glaubte. Europa ist ein Ameisenhaufen. Die Ameisen riechen nach klebriger Angst, schichten ihre Besitztümer um und bauen Mauern. Es nützt alles nichts. China kauft sich die Welt. Die totale Marktwirtschaft gegen die freie Marktwirtschaft. Und Meister Kronos sprach:

„Alle Menschen sagen: ‚Ich weiß!‘ Und dann fallen sie einmal in eine Grube oder eine Falle, und auf einmal weiß niemand mehr, wie er da herauskommt.

Alle Menschen sagen: ‚Ich weiß!‘ Dann entscheiden sie sich für die Doktrin der Mitte und es zeigt sich, dass sie sie nicht einmal einen ganzen Monat einhalten können.“

Eine Hölle, die du nicht veränderst. Eine Hölle, in der du sie alle wiedertriffst. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Bruder dem Bruder ein Basilisk. Alle Länder dieser Erde verwandeln sich in regelmäßigen Zyklen in eine Farm der Tiere.

Die Schriftstellerin wirft die Autorenexemplare des Reisetagebuch-Eunuchen in den Container. Die Uhr zeigt diese Zeit. Sie nimmt Tusche zur Hand, einen Kalligraphie-Pinsel und Papier. Sie malt ein Buch über ihr China; nicht der Mensch verstreicht die Tusche, die Tusche verstreicht den Menschen.

Wühlt sich mit dem Kescher ins Unterbewusstsein dieses Landes.

Wühlt sich so mit dem Kescher ins Unterbewusstsein ihres Landes.

Vielleicht irrt sie sich in allem.

Und das wäre die allerbeste Nachricht.

 

Die Blauelster (Cyanopica cyana) flattert kreischend zwischen den Bäumen in den Parks der Stadt Peking und in den angrenzenden Wäldern umher. Sie ist nur im Schwarm unterwegs. Sie hat einen schwarzen Kopf und einen langen blauen Schwanz, mit dem sie den Flug steuert. Beim Landen breitet sie ihn aus wie einen Fächer aus verkümmerten pastellfarbenen Pfauenfedern.

Ihr Schrei rasselt.

In ihrem Hals brechen rostige Stangen und Stacheldraht reibt darüber. Wenn der Draht die zarte Haut berührt, schreit die Blauelster auf, als ob ein zukünftiger Eunuch kastriert würde. Sie verteidigt ihr Territorium. Der Schrei ist qualvoll. Sie zahlt mit den Augen für alles, was sie sehen musste und sehen wird. Es gibt das Leben und es gibt den Tod.

Es gibt auch ein Nichtleben.

Dabei ist sie nicht sentimental. Und gehört nicht zu den Egoisten und Elitären, die sich die Welt als bequemes Plätzchen für sich selbst aneignen und auch die menschlichen Charaktere nur von der besten Seite nehmen. Das sind Ideale, die der Bequemlichkeit entspringen, derentwegen Wassergötter und Landgötter und Luftgötter keine Ahnung davon haben, wie die Menschen wirklich sind.

In der Stadt Peking hat sich die Rabenkrähe eingenistet und verbreitet. Die Rabenkrähe ist blind; ihr Gehirn wurde mit ganz und gar richtigen und ganz und gar widersprüchlichen Antworten ausgewaschen.

Der Krieg zwischen der schwarzen Krähe und der blauen Elster hat schon begonnen. China ist ein Konzentrationslager mit undurchlässiger Grenze. China ist ein blühender Garten. Und das ist kein Widerspruch. Es ist eine gegenläufige Doppelgeste des freudigen und pragmatischen Bejahens.

Das Zentrum der Stadt Peking ist verstopft, staubig. In den Straßen breitet sich träge eine stickige Mitternacht aus. Die Autos schwitzen, hupen um Hilfe; sie kündigen die Hetzjagd an und Meister Kronos sagte: „Der Weg entfernt sich nicht vom Menschen. Wenn jemand sich auf einen Weg machen wollte, der sich vom Menschen entfernt, könnte das kein Weg sein.“

Die entzündete Schnur brennt und die Uhr zeigt diese Zeit.

Sie pressen sich entlang der langen chinesischen Mauern zusammen. Am Fuß der Häuser sitzen im Widerschein der Neonlichter gebeugte Gestalten. Gekrümmte Rücken wiegen sich an Straßentischchen auf wackligen Plastik- und Bambushockern. Stäbchen flattern in der Luft. Sie füttern die Körper hastig, als wäre es nicht das letzte Essen des Tages, sondern das letzte Abendmahl ihres Lebens.

Hoch am Himmel ist die Stadt von den Lichtern der Wachtürme der umliegenden Wolkenkratzer eingekreist. Die Wolkenkratzer überwachen sich gegenseitig hasserfüllt. Die Gestalten nehmen Bissen von benachbarten Schüsselchen, Tellern, Tabletts. Die Schriftstellerin schaut in die verschwitzten, glänzenden Gesichter. Die Augen weichen nicht aus, die Münder hören nicht auf zu kauen. Eine Frau gräbt sich mit der Hand in einen heißen grünen Haufen. Steckt sich die gekochte und gesalzene Bambussprosse in den Mund wie eine Schote. Langsam schiebt sie sie durch die zusammengebissenen Zähne und saugt. Der salzige Saft läuft ihr das Kinn hinab. Die leere Schale wirft sie auf die Erde, zu den staubigen Zehen in den schwarzen Sandalen. Die Schriftstellerin weiß überhaupt nicht, was diese Menschen denken; hier hat das Denken klare Grenzen. Sie wissen genau, worüber man nicht spricht. Es existieren Worte, die nicht in Sätze gelangen. Es existieren Sätze, die die menschliche Stimme nicht kostet. Symbolische Werte und Formeln der Großen Lehre und der Doktrin der Mitte hörten nie auf, in China zu funktionieren. Der, der lesen kann, genießt sie wie den Saft der gekochten Sojaschote. Er beherrscht sie so, dass er sein ganzes Leben lang nicht aufhört, sie zu benutzen. Ohne sie je erschöpfen zu können.

In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie wälzt den nackten, verschwitzten Körper auf dem zerknüllten Bettlaken herum. In ihrem Kopf wälzen sich schwere Felsbrocken herum. Jedes Mal wählt sie dieselbe Trasse für den mehrstündigen, langen nächtlichen Marsch. In schnellem Tempo läuft sie viermal vier Kilometer ab.

Jeder hat seine Rituale. Unweit des Eingangs zur Metro, bei einem der verwaisten Bäume, wohnt unter freiem Himmel ein Mann. Er ist vom Dorf. Wenn die Schriftstellerin in der Nacht an ihm vorbeikommt, winkt ihr Meister Kronos zu. Den Körper hat er um den aufrechten Stamm gewickelt. Die Hand flattert mit den durchgefrorenen Fingern. Der Baum ist in ein Lehmviereck einbetoniert. Dem Mann ragen schmutzige, von eingetrocknetem Dreck umhüllte Stäbchen aus der Tasche des abgewetzten Sakkos. In der Nacht zieht er sie aus der Tasche und lockert die Erde damit auf. Er nimmt eine Handvoll des kostbaren Lehms, in den der Baum gepflanzt wurde. Er zerreibt ihn in den Fingern, mischt ihn umständlich in der Handfläche und isst ihn. Dazwischen zieht er hoch; befeuchtet die Schleimhaut. Wenn es ihm gelingt, einen lebenden Spatzen zu fangen, beißt er ihm den Kopf ab und spuckt ihn aus.

Das ist sein Lieblingskunststückchen. Die nächtlichen Vorübergehenden lachen. Sie werfen dem Mann, der blutige Federn spuckt, eine Handvoll kleiner Münzen zu Füßen.

Die Schriftstellerin und der Freund kommen an einem Haus vorbei, das an eine riesige glatte Zigarre oder ein stehendes Glied erinnert. Das Nachbarhaus hinter der Ecke erinnert an die Stadt Prag; die Wohnblocks in den Neubaugebieten sind im Vergleich mit dem robusten Bau Häuschen für kaputte Puppen. Wenn vor der Eingangshalle die Rabenkrähen laut krächzen, kommt bald Besuch. Am Eingang stehen drei Männer in grauen Anzügen und weißen Hemden. Sie schauen vor allem den Freund an.

Der Freund tut, als sähe er die grauen Anzüge nicht.

Sie gehen durch die hohe Glastür. Die grauen Anzüge quetschen hinter ihnen die forschenden Nasen an das verschmierte Glas.

Sie fahren in den neunundachtzigsten Stock hoch. In den kleinen Gängen des trüben Labyrinths wabern Essensgerüche; sie steigen von den Straßen herauf, den offenen Grills und Feuerstellen. Der Freund klopft leicht an die nummernlose Tür. Die Knöchel des gebeugten Zeigefingers und des Mittelfingers der rechten Hand erobern eine geheimnisvolle Festung. Der Waldspecht klopft eine Parole in die Baumrinde. Auf den Tasten der Schreibmaschine schreibt er das Morsealphabet. Kann man das Morsealphabet für Chinesisch benutzen, mein Herr?

Zwei Körper drängen sich durch einen Spalt, als würden sie gerade geboren. Schlagen die Tür hinter sich zu. Die Wände haben Ohren. Die Wände sind mit Vorsicht getränkt, die der Freund ignoriert. Der Freund kennt keine Vorsicht; er ist entschlossen und sachlich. Er lässt sich von der Welt in Erstaunen versetzen, nicht schwächen. Situationen analysiert er überlegt, mit überraschendem Verständnis. Er ist sich sicher, dass er nicht anders handeln kann. Dass ihm nichts passiert. Dass das Schicksal, das von den antiken Göttern vorgegeben ist, ihn nichts angeht, weil er sein Leben selbst lenkte und lenkt, weil er an sich glaubt, weil er das Schlimmste schon erlebt hat. Von allem hält er eine seltsame Distanz; er erstarkt. Die schützende, selbsterhaltende Distanz erlaubt es ihm, „innen“ zu sein. Sein Weg als edler Mensch liegt ganz verschwenderisch offen, und dabei verborgen.

Die Schriftstellerin hat keine Schutzhaut. Sie fühlt sich in Menschen ein, nimmt ihre Qualen mit vollen Händen auf, mischt sie und schluckt sie ohne Stäbchen, versucht, ihnen Erleichterung zu bringen. Ohne es zu bemerken, dass sie auf ihrem Rücken deren Last trägt; durch fremden emotionalen Abfall wird man geschwächt. Gibt sein Leben für die anderen.

Im Türrahmen steht ein uraltes und verschrumpeltes Abbild seiner selbst. Die Schriftstellerin unterdrückt den Wunsch, eine Hand nach dem Körper auszustrecken; sie streichelt ein schwächliches Kind, das tapfer eine Fieberkrankheit überstand. Vor ihr steht der Anwalt. Trotzig verteidigt er die Mücken, die surrend dieses prächtige Land ärgern.

Die Autokolonnen hupen warnend; sie kündigen die Hetzjagd an.

Der Anwalt hat seine Meinung gesagt. Hier sagt niemand seine Meinung. Hier gelten die kollektive Meinung und die Regeln des Kaiserhofs; der Polizeistaat ist der Feind des Rechtsstaats und der Herrscher stützt sich auf Armee, Beamte, Denunzianten. Man unterhält sich über Wirtschaft, Zahlen, Prozente, Gewinne, Verluste, Umsätze, ökonomisches Wachstum. Ein Rettungsnetz aus Geschwätz. Eine dichte Konversation, so wie Gespräche übers Essen oder das Wetter.

Neun Monate wurde er verhört. Jetzt hat man ihn überraschend freigelassen. Der Freund fürchtet sich nicht. Der Freund geht ihn als erster besuchen.

Vier Jahre wird der Anwalt unter Kontrolle stehen. Vier Jahre darf er sich nicht den kleinsten Fehltritt erlauben. Darf er sich keinen einzigen Fehler erlauben. Um das linke Handgelenk hat er ein schönes Schmuckstück gewunden. Er lebt in einer doppelten Welt und in einer doppelten Zeit.

Die Schriftstellerin beugt sich vor und kneift leicht die gelben Katzenaugen zusammen. Sie untersucht den Schmuck aus der Nähe. Es ist ein massives Armband aus Metall. In der Mitte ist ein Diamantkästchen eingesetzt. Ein Zifferblatt fehlt. Das ist keine Uhr. Das ist das Armband eines Elitegefangenen. Gefängniswärter und Denunziant in einer modernen Zeit. In regelmäßigen Intervallen blinzelt das Auge ausgelassen und durch das rote Licht blitzt ein Blutsfaden. Es schläft nicht, es ermattet nicht. Es sieht alles. Es hört alles. Es ist mit seinem Gefangenen in der Dusche, im Schlaf, auf der Toilette; es wird mit ihm jeden Bissen kauen und schlucken, mit ihm masturbieren, ausscheiden, wird sich in seinen Geist drängen, die Gedanken beherrschen und sie lesen und interpretieren. Vier Jahre lang wird es genau so sein.

„Vielleicht wird er bald verrückt davon.“ Sagt die Schriftstellerin zum Freund.

„Auch das kann passieren.“ Sagt der Freund. „Und damit rechnen sie.“

In diesem unverständlichen, staatsbildenden Pragmatismus des Denkens und Handelns hört jeder jeden ab. Die Kommunistische Staatssicherheit in ihrem Land hörte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nur die Nichtumerziehbaren ab. Sie installierten Wanzen in ihren Wohnungen, zapften Telefone an. In den verseuchten Wohnungen machten sich die Nichtumerziehbaren laut das Radio an, den Plattenspieler, das Telefon und die Dusche. Um sich auf dem Wannenrand sitzend ungestört unterhalten zu können.

Die angekratzte Privatsphäre entsetzt sie am meisten.

Die Doktrin der Mitte stellt eine Gedankenordnung dar, die in Konfuzius´ Schule einer dem anderen weitergab. Der Anwalt war ein vorbildlicher Hörer. Er ist ausgezehrt, die Wangen sind eingefallen. Der Anwalt und der Freund geben sich als edle Männer, die sich zu ihrer edlen Größe entschlossen haben.

Solche sind ihr immer ziemlich verdächtig.

Sie sitzen aufrecht auf der roten Couch wie zwei Brüder und vorzeitig erwachsen gewordene Kinder. Die Noblesse, an der sie jeden Tag arbeiten, besteht in Selbstkontrolle, Selbstpflege, Selbstvervollkommnung. Daraus folgt, dass ein edler Mensch, wenn er schon einen großen Weg hat, loyal und vertrauenswürdig sein muss, um ihn zu erhalten; durch Stolz oder Anmaßung verliert er ihn. Die Aristokraten im Geiste werfen in dieser Sekunde banale Wörter durch die Luft; die Wörter gelten dem Reifen am Handgelenk des Anwalts. Sie fühlen sich nicht einmal diskriminiert und tun nichts nur aus theoretischer Überzeugung; das würde sie nicht zum Handeln bewegen. Es ist eine menschliche Selbstverständlichkeit für sie. Ein Stück Schicksal und ein Stück Erfahrung als Folge ihrer Wahl.

Sie schaut sie an. Vielleicht bekommt sie hier die Antwort auf die Frage, warum der Mensch sich eigentlich bemüht, sich verantwortlich zu benehmen.

Der Armreif ist schwer. Der Mann erhebt sich und übergießt die Teeblätter mit heißem Wasser. Das Gelenk der linken Hand hält er fest; das Gewicht der Bleikugel droht den Arm aus der Schulter zu reißen. Er wiegt das bleierne Baby in der Hand.

Das Handgelenk hält er oder stützt es wie einen gegipsten Bruch auf dem Stuhl ab. Niemals auf den Knien. Er ekelt sich vor dem Armreif, hält ihn sich vom Körper fern. Er zeigt guten Willen, was erschöpft, erschöpft, erschöpft, erschöpft. Er will den Gefängniswärter so weit entfernt wie möglich haben.

Der Gefängniswärter ist sein Körper.

Seine rechte Hand ist gepflegt; die Nägel sind geschnitten und poliert, die Finger gecremt.

Die Hand im Armreif ist nicht seine; die entfremdete Schere ignoriert er. Die Schere lebt ein abgetrenntes Leben, sie gehört einem Eindringling; die ganze Hand ist ein Eindringling. Die Nägel im Armreif sind nicht geschnitten; sie drehen sich zu Spiralen. Die Nägel der linken Hand sind von dichtem, tintenschwarzem Dreck gesäumt, Dreck schwarz wie Teer. Die schmutzige Hand darf die saubere nicht berühren. Die Haut ist trocken, löst sich ab.

Die Haut ist mit Schuppenflechte befallen, deren Name Angst ist.

Die Schriftstellerin erforscht das Halsband. Das Schicksal von Philosophen, Schriftstellern, Ketzern, die verunsichern. Das kann das Schicksal von Anwälten sein. Sie ist sich nicht sicher, ob in ihrem Land jemand Jura studieren würde, wenn das so ein Schicksal bedeutete. In ihrem Land ist jeder Pate Anwalt. Das Recht hat sich vereinfacht. Die Juristen studieren und wollen das Gesetz kennen, um es umgehen zu können. Die Vorherrschaft der Juristen hängt nicht mit der Vorherrschaft des Rechts zusammen und das Recht verteidigt der, dem ein Gewinn winkt.

Worte, ausgesendet für das gespitzte Ohr des Armreifs; über das ökonomische Wachstum, über eine neue Bebauung, über das Wetter, über die Schönheiten der Stadt Peking. Die Schriftstellerin verlässt die Wortautobahn. Sie biegt in eine dunkle Sackgasse ein.

Sie sind im selben Jahr wie ich geboren.

Ein merkwürdiges Jahr.

Mein Vater erinnerte sich immer mit Rührung daran. Sind Sie in der Stadt Peking geboren`

Nein.

Und wo?

Ich mag die Stadt Peking.

Und wo sind Sie geboren?

Die Stadt Peking ist ein Schmuckstück.

Ihr Vater ist auch Anwalt?

Nein.

Und wo sind Sie geboren?

Der Freund tritt sie unter dem Tisch heftig, danach frag ihn nicht, provozier nicht, er ist in Wuxuan geboren. Der Anwalt spricht über die Mama; sie konnte nicht lesen und schreiben. Er spricht von den Onkeln, die Fischer waren, die ihn aufzogen. Über die fischenden Kormorane; die hat er in der Kindheit in der Dämmerung beobachtet. Die Kormorane fangen für ihre menschlichen Besitzer Fische und kehren mit dem Fang gehorsam aufs Schiff zurück. Er spricht von seiner einstigen Sehnsucht zu studieren, davon, wie einsam er war. Aber der Mensch hat immer noch sich selbst, auf sich kann er sich stützen.

Er darf nur kein zu weiches Herz haben.

Also der Vater ist auch Anwalt.

Die Schriftstellerin bekommt eine Portion frischer Tritte in die nackte Wade. In der Wohnung des Anwalts ist es peinlich sauber. Nichts Überflüssiges, nichts Persönliches. Keine Familienfotos. Gegenstände, Bücher, Bilder, Souvenirs. Er lebt in einer Zelle. An der Wand hängt das Plakat der chinesischen Schauspielerin Tang Wei. Der Freund lässt das Englisch sein, redet nur Chinesisch. Der Armreif fängt alarmierend mit dem roten Auge zu blinken an, das Herz schlägt schneller, die Blutfäden fließen zusammen. Die Schriftstellerin unterdrückt den Drang, das blutige Auge mit dem Wollschal zu verbinden, mit einem schneeweißen Verband zu bedecken, mit einem Küchenhandtuch, es mit wasserdichtem Pflaster zu überkleben. Das Auge mit dem Taschenmesser herauszuschälen. Mit einem Zahnstocher auszustochern. Auf einen Spieß zu stechen.

Der Mann reißt von einem geordneten Häufchen ein rosa Papierquadrat ab. Die unabhängige Hand nimmt sich einen Bleistiftstummel mit der Aufschrift IKEA. Die ausgesprochenen Worte bedeuten nichts; mit den Worten spült er die Zeit fort, lenkt die Aufmerksamkeit vom Bleistift weg. Die Theatervorstellung für das im Armreif versteckte Publikum; vorhersehbare und verständliche Rollen der Pekinger Oper. Der Mann verziert das rosa Weihnachtsgebäck mit einer neuen Glasur; eine schwarze Linie von Krakeln. Das Papier rutscht weg und die Schriftstellerin hält es an den oberen Ecken mit Daumen und Zeigefinger fest.

Die gepflegte Hand schreibt Worte und die geschriebenen Worte bedeuten Leben.

Die Schriftstellerin verfolgt fasziniert die freie Hand des Anwalts. Die Hand zeichnet chinesische Zeichen. Die einzige Möglichkeit, dem Freund zu sagen, was der Kopf denkt. Die einzige Möglichkeit zu sagen, wie weit die Furcht reicht. Die freie, gepflegte Hand stolpert. Der hölzerne Stummel rollt unter den Tisch. Die Schriftstellerin bückt sich danach. Sie hebt ihn auf und schlägt mit dem Hinterkopf an die Kante des geschliffenen Tisches.

Der Freund liest die Zeichen über dem Toilettenbecken. Er brennt sie sich ins Gedächtnis. Das rosa Blättchen zerdrückt er mit schwitzenden Händen; der Schweiß lässt die Buchstaben zerfließen. Die Schrift ist mehlig und die Finger, grau in Richtung rosa, reißen das Papier systematisch in kleine Streifen. Die Streifen reißen sie in Briefmarken. Die Hälfte der Zeichen schluckt er, die Hälfte wirft er ins Toilettenbecken. Es ist zu hören, wie er spült.

Der Anwalt schenkt der Schriftstellerin weißen Tee nach.

Etwas zu essen?

Nein, danke.

Der Invalide gießt Tee ein. Die linke Hand mit dem Metallarmreifen, der die Vorstellung eines dicken Gefängniswärters auslöst, beachtet er nicht.

Es ist vergeblich. Es sind vier hier. Die Ordnung herrscht immer.

Und das offizielle Lächeln der chinesischen Schauspielerin an der Wand.

Der Schriftstellerin hebt sich der Magen. Das ist nicht zu ertragen. Die Zeit der Wanzen ist vorbei. Es ist die Zeit findigerer Abhörmethoden. Unverhohlener, höhnischer, schmachvoller. Diese Art des Lebens ist seine Wahl. Herausforderung und Schicksal. Er nimmt die Folgen dieses Lebens ruhig an. Vier Jahre wird er mit dem Armband schlafen, mit dem treuen Liebhaber. Er wird verheiratet sein mit dem Reif. Vier Jahre wird er auf Schritt und Tritt vorsichtig sein und isoliert. Niemand weiß, was diese Vorsicht mit seinem Denken macht, der Wahrnehmung, dem Verhalten, dem Handeln. In China folterte man Gefangene, indem man sie festband und ihnen in regelmäßigen Intervallen Wasser auf den Kopf tropfte. Bis sie verrückt wurden.

Auf des Anwalts Kopf tropft es aus einem giftigeren Hahn. Es tropfen die Sekunden. Jede Sekunde hütet der Wachhund und leckt sie auf. Die Uhr zeigt seine Zeit.

Sie schlürfen weißen Fünf-Uhr-Tee. Die Konversation passen sie dem Armband an: Wie das Wetter war, wie das Wetter ist, wie das Wetter sein wird. Welche Wassertemperatur die einzelnen Teesorten verlangen, wie viele Minuten sie ziehen müssen.

Die Schriftstellerin erinnert das Gespräch an chinesische Literatur. Der Anwalt und der Freund halten einen unsichtbaren Kalligraphie-Pinsel in der Hand. Sie schreiben in die Luft. In der klassischen chinesischen Literatur sind uneindeutige Titel keine Ausnahme. Die Leser nahmen die verschiedenen Lesarten als selbstverständlichen Teil des semiotischen Spiels an, das allen zu eigen war. Ohne ursprüngliche verschiedene Schreibarten wäre es den Autoren unbehaglich gewesen. Ohne die Möglichkeit nachfolgender unterschiedlicher Lesarten hätten sich die Leser ärmer gefühlt. Zu diesem semiotischen Spiel gehören auch die Titel zweier kanonisierter Texte, der Großen Lehre und der Doktrin der Mitte.

Die Schriftstellerin hört den gesprochenen Texten zu, die ihr „Lesarten“ anbieten. Für die beiden Männer sind sie klar. Sie tragen Bedeutungen, die ihr verwehrt bleiben.

Sie verlassen die Wohnung. Steigen in den Fahrstuhl. In die Kabine schlüpft ein Männerkörper in weißem Hemd zu ihnen, das graue Sakko hat er über die Schulter geworfen. Bevor sie das Gebäude verlassen, fotografiert das weiße Hemd sie. Frech und wortlos. Als ob es zwei Europäer verewigt hätte, zwei zufällige weiße Touristen. Die Schriftstellerin ist so überrascht, dass sie dem Herrn in Weiß nett in den Fotoapparat lächelt; in den Ohren die Stimmen der Sirenen, Achtung, sagt Cheese, lächeln bitte. Die Rabenkrähe raschelt mit den Flügeln.

Vor der Glaseingangstür nähern sich ihnen drei Männerkörper in Grau. Sie standen vor dem Gebäude mit der Form einer riesigen Zigarre. Die Schriftstellerin muss den Inhalt ihres kleinen schwarzen Rucksacks zeigen. Eine Männerhand verschwindet in dem Rucksack und mischt den Inhalt wie in einer Lostrommel. Der Freund wird gefilzt. Beide werden legitimiert.

Kann man gleichzeitig schreiben und gleichzeitig leben?

Das Leben greift aggressiv mit seinen eigenen Themen an.

Die Worte, die sich in Europa von allen Seiten herandrängen, bedeuten nichts.

Die Worte, die in diesem Land auf Miniaturwaagen gewogen werden, bedeuten Leben oder Tod.

Sie hat keine Zeit und keine Energie für andere. Sie hat damit zu tun, das innere Universum im Zaum zu halten; zu viele Welten leben in ihr und so viel will man von ihr.

Das ganze Leben ein staunendes Kind zu sein, das ist ein Ziel.

Das hier sind Stunden aus Blei. Über der Stadt Prag breiten sich Streifen von Grau und Blau aus. In der Ferne hängen senkrechte Streifen, die der Erde Regen herunterschicken. Sie geht nicht aus der Wohnung. Jede Begegnung mit Menschen kostet sie viel Energie; das sonnendurchwärmte Gleichgewicht ist viel zu zerbrechlich, als dass sie Gespräche mit fremden Menschen riskieren könnte. Das Schreiben, ihre ständige geistige Tätigkeit, ist ein schmaler Fußweg über dem Abgrund.

In der Stadt Peking existieren keine Fußwege. Nur Abgründe.

Der Freund hat seit seiner Jugend graue Haare. Sie wirken unschuldig und machen ihn paradoxerweise jünger. Als wäre er außerhalb des Bereichs der Sterblichkeit. Der Schriftstellerin reißt er mit einer Pinzette einzelne Haare heraus, die auf dem Scheitel inmitten tigerfarbener Strähnen grau werden. Sie ragen in die Luft. Sind stärker, härter. Irgendjemand hat irgendwo entschieden, dass ihr ein Warnsignal geschickt werden muss; sie hat nicht endlos Zeit.

Der Baum vor dem Fenster. So gern würde sie sich daranhängen.

Die Scheuche im Feld würde die Schwärme der Rabenkrähen vertreiben.

Nadeln unter der Haut. Nadeln in der Haut. Der Körper warnt sie vor irgendetwas. Oder schützt sie vor irgendetwas. Sie sollte die Wohnung verlassen, an die frische Luft gehen. Da droht die Gefahr, jemanden zu treffen. Sie umarmt das Leben und die schlüpfrige Schlange rutscht durch die freien Hände; sie fällt in die Tiefen des Sees des Sommerpalastes. Den Körper lässt sie auf der Oberfläche. Existiert wirklich das Zeichen hun für die Seele, die mit dem Körper zur gleichen Zeit stirbt? Existiert wirklich das Zeichen po für die Seele, die außerhalb des Körpers existieren kann?

Um Mitternacht schläft sie ein. Träumt einen chinesischen Traum. Wacht gegen drei Uhr morgens auf. Nimmt eine Schlaftablette. Dem Schlaf schmeckt die Tablette nicht. Sie träumt einen tschechischen Traum. Erwacht gegen fünf Uhr morgens. Liest vernebelt. Zwischen den Zeilen des Gelesenen blitzt das vergangene Leben auf, all die Treffen, Hoffnungen, na na, nun vergieß keine Tränen, solange du hoffen darfst. Der Kopf ist überspannt, brummt auf vollen Touren. Rettung in Form von Unkenntnis abzulehnen ist ein Ziel; Unkenntnis ist eine Überlebensstrategie, die wirksamste Strategie. Eine gewisse Art Unkenntnis schützt jede Gesellschaft, jedes Volk, jeden Verstand. Unkenntnis über die eigene Vergangenheit.

Die Bösen gewinnen, weil sie die Regeln nicht einhalten. Hat Olivia ihr gesagt. Olivia konnte alles sehr einfach formulieren. Olivia aus der Stadt Peking.

Erste Familie

unterm Himmelsgewölbe

 

Von der Terrasse seiner Firmenwohnung in der Stadt Peking sieht der Programmierer einen überwältigenden Wald aus Wolkenkratzern. Gegen Abend fangen sie heftig an zu blinken und der Neon-Urwald stößt Flugzeuge und Himmel ab. In Wellen laufen über die höchsten Etagen Dschungel blendender Farben und Reklameslogans von Aufbausätzen. Die Häuser haben Bauchbinden aus goldenen Schleifen und leuchten in die dunkle Nacht. Der Mond und die Sterne verlieren sich bescheiden im Meer der vielfarbigen Lichter, sie verneigen sich und treten demütig zur Seite. Die schmalen schwarzen Bänder am Fuß der Hochhäuser sind mehrspurige Autobahnen. Schlangenknäuel schlängeln und winden sich in alle Richtungen und verschieben die Autos 24 Stunden täglich über die Autobahnen.

Der Programmierer lässt die Terrasse mit Blumen bepflanzen. Bäume werden in Blumenkübel gepflanzt und die Blumenkübel mit Kieseln gefüllt. Auf der Südseite steht ein Massagebecken mit Whirlpool; jetzt ist er mit einer blauen Schutzplane bedeckt. Von der verglasten Terrasse tritt man in eine riesige Halle; sie hat einen weißen Marmorfußboden, einen Tisch mit Marmorplatte, auch die Aschenbecher sind aus Marmor. Die chinesischen Putzfrauen kommen regelmäßig jeden Dienstag und Freitag. Vergeblich polieren sie den Marmor. Der Programmierer beobachtet sie; steht ihnen streng im Rücken und knurrt. Er liebt glatte und glänzende Fußböden und sein Fortkommen im Leben ist nicht umsonst; er bezahlt mit dem Schwinden der Fähigkeit, als physische Person ganz einfach glücklich zu sein. Er möchte, dass die Putzfrauen Blumen nicht nur auf den runden Tisch in der Halle stellen; aber auch die Blumen besänftigen seine innewohnende Wut nicht.

Das Weihnachtsfest richtet das.

Kein Gepäck. Nur Weihnachtsgeschenke; Päckchen mit ausgesuchten Sorten chinesischen Tees, pikante Packungen Ginseng und Chinesische Engelwurz. Nach Hause fliegt er mit der Familie über die Stadt Wien.

Die europäischen Städte erscheinen ihm im Vergleich mit der Stadt Peking jetzt nichtig. Die Stadt Wien ist eine Adventssahnetorte mit mächtiger Buttercreme. Er geißelt Olivia mit Fragen, anders kann er mit der Tochter nicht kommunizieren. Er prüft ihre Kenntnisse über die österreich-ungarische Monarchie und seine Fragen schwimmen die Donau entlang.

„Die Tschechen waren stolze Österreicher, das weißt du, nicht wahr?“

„Hmmmm.“

Sie steigen beim Stephansdom aus dem Taxi und gehen durch den Zimtfrost zur Hofburg. Sie schauen in die Zimmer von Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth, genannt Sissi.

„Die Tschechen gaben dem Kaiser den Spitznamen Procházka – Spaziergang.“

„Hmmmm.“

„Interessiert dich nicht, warum?“

„Warum?“

„Der Kaiser besuchte die Stadt Prag. Unter seinem Foto in der Zeitung stand: Spaziergang auf der Brücke.“

Olivia lacht nicht pflichtschuldig.

[…]

Opfergaben

Ohne Worte

 

Der Außenseiter versucht, an der Karlsuniversität der Stadt Prag Fuß zu fassen. Er tritt vor eine größere Menschengruppe, der Körper beginnt zu schwitzen, er hustet theatralisch und wird starr. Auf der Stirn perlen die Schweißtropfen und die Studenten spüren die Unsicherheit. Zu Beginn des Seminars wabern um den Körper Wölkchen kaum wahrnehmbarer Unsicherheit herum, am Ende der Stunden aus Blei werden die Wolken dichter und der Körper seiht Blut ab. Mit jeder Frage, mit der die Studenten ihn testen, wächst die Unsicherheit. Unsicherheit kann andere nicht leiten und lehren.

Sie kommen scharenweise zu ihm in die Konsultationsstunden. Willig leiht er ihnen teure Bücher, die sie nicht zurückbringen. Er kopiert und druckt das Material, das sie angeblich nirgendwo anders finden können. Am Ende ertappt er sich, wie er die Aufgaben der Seminararbeiten nicht nur erklärt und kommentiert sondern sogar unauffällig auch selbst ausarbeitet. Voller Schrecken schaut er auf den Monitor; Wikipedia spuckt sein Portrait aus, ein falsches. Vergeblich versucht er, richtige Informationen hinzuzufügen. Irgend so ein Student mit Minderwertigkeitskomplexen und dem Spitznamen Pfote gestattet ihm das nicht, ironisch verdreht er Fakten und Geburtsdatum, blockiert dem Außenseiter den Zugang; er selbst jagt durch seine Seiten wie im nächtlichen Museum. Der Außenseiter ist außen neben der Zeit, auch wenn er noch nicht alt ist. Die Generation des neuen Jahrtausends, die Milleniums, ist eine Mediengeneration.

[…]

Wie soll er erklären, dass die akademische Welt ihn enttäuscht hat? Eine kalte Höhle voller selbstverliebter Idioten. Sie reiten auf Fakten herum, Daten, Linien, Anmerkungen, das große Ganze entgeht ihnen. Wird nicht die Beschränkung eines Wissenschaftlers durch eine enge Spezialisierung größer? Diese unsinnigen Schubladen, Formen, Bedingungen, die das Denken schon im Keim kastrieren. Sie beschreiben die Geschichte von Ländern in einzelnen Tagen, aber die Zusammenhänge entgehen ihnen.

Der Außenseiter träumt von der Zeit, in der Wissenschaft und Kunst gemischt waren, die Freiheit des Denkens muss uferlos sein. In starren Kategorien kann kein Intellektueller sich gut fühlen, Mama. Überall nur Fachleute, aber keine Denker. Bis heute wundern sich alle, wie es sein kann, dass so viele Spitzenwissenschaftler mit den Nazis zusammengearbeitet haben, Papa. Der Kontext ist ihnen entgangen oder war ihnen gleichgültig. Eine Anhäufung faktografischer Details trifft das Wesen nicht. Die Wahrheit versteckt sich hinter der Faktografie, die Wirklichkeit wird von dieser Faktografie verfälscht, Mama. Er kennt Kollegen, die nur Texte schreiben können, wenn sie Ritalin nehmen oder sich aus den USA die Arznei „Focusfaktor“ mitbringen; wer Schwierigkeiten mit der Konzentration hat, wirft eine Pille ein und arbeitet weiter. Nichts hat sich geändert und nichts wird sich ändern, nur Froschmäusekriege, Kämpfe um Projektgelder, immer wieder aufs Neue Wissenschaft über Mukařovský und den Strukturalismus, immer wieder aufs Neue wird nur die Geschichte der tschechischen Literatur geschrieben, ohne Zusammenhänge und Kontext. Vor der Literatur und dem Leben haben sie Angst und die versnobten Künstler kennen nur die Stadt New York und die Stadt Berlin und nur die Namen Franz Kafka und James Joyce. Die versnobten Wissenschaftler kennen nur die Harvard Universität und die Stadt Oxford und die Stadt Cambridge. Und die unaufhörlich abgeforderten Beiträge für wissenschaftliche und bepunktete Journale, die überhaupt niemand liest! Das erinnert an Briefe, Mama. Das erinnert an Briefe aus Lagern, nazistischen und kommunistischen und heutigen, als man nur über bestimmte Themen schreiben durfte. Und man durfte nur todernst schreiben, denn Humor würde Missachtung der Haftstrafe bedeuten. Einmal in der Woche ein Brief ohne ein Fünkchen Humor oder Ironie, leserlich, ohne Ausbesserungen oder Streichungen. Den Gefangenen waren Anführungszeichen, unterstrichene Wörter und Fremdwörter verboten. Auch die dümmsten Gefangenen stellten fest, dass ein verständlicher Text nicht durchkommt. Eine größere Chance, abgeschickt zu werden, hatten Briefe mit so kompliziert wie möglichem und so verworren wie möglichem Inhalt. An Einschränkungen und Zensur aller Art gewöhnen sich alle und alle passen sich an.

Alle hängen an einem Seil, Mama. Auch in der akademischen Welt. Sie käuen das längst Aufgeschriebene und Durchdachte wieder und nutzen einen technokratischen Wortschatz. Sie übernehmen flächendeckend die Sprache der Naturwissenschaften, die anderen Zwecken dient, und treffen darüber hinaus auf die Grenzen ihrer unzureichenden Phantasie. Sie begreifen nicht, dass die Geisteswissenschaften und die Philosophie eine metaphorische Sprache brauchen. Das ist eine Sprache, die eher poetisch als im traditionellen Wortsinne philosophisch ist, und deshalb kann man die Sätze nicht beim Wort nehmen und die Wörter nicht wörtlich. Dann sind für seine Kollegen seine geliebten und großartigen Autoren natürlich unlesbar, die übersichtlichen und klaren und reinsten, Nietzsche, Hölderlin, Kafka. Sie setzen diesen Autoren feste, schlecht sitzende Halfter auf. Nietzsche, das Thema seiner Dissertation, ein antijudaistischer Philosemit; anders als paradox kann man das doch nicht ausdrücken, Papa. Ich liebe die Literatur. Literatur ist die Gemeinschaft der Menschen mithilfe der Sprache. Literatur ist die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes. Aber die akademische Welt ist verknöchert und hat den Horizont von Gartenzwergen übernommen. Die Intelligentesten und Nichtumerziehbaren fallen sofort aus dem Spiel.

[…]

 

Der Außenseiter wirft sich auf das Studium der Sinologie mit demselben Eifer, wie er sich früher auf die Literaturkomparatistik geworfen hatte. In seinem Gebiet der Beste sein, der Beste auf der Welt. Er hört wieder die Stimmen, wie außerordentlich klug er sei, anders; der Außenseiter weiß schon, dass der klug ist, der die anderen kennt. Wer sich selbst kennt, ist verzweifelt. Diesmal darf er nicht über sich selbst stolpern, über sein Lampenfieber, die Scheu, die Naivität. […]

Vor den Eltern stottert er, müht sich zu erklären, warum er Sinologie studiert und spricht über qing. In den Knochen spürt er die Zukunft dieses Fachs, natürlich. Das ist keine Modeerscheinung. Sprachen haben in der Geschichte der Menschheit ihre Zeiten der Konjunktur.

Er spricht ins Leere. Er spricht eine Sprache, die die Familie nicht versteht, sie ist nicht koscher.

[…]

„Also China.“

„Hm.“

„Und was wirst du da tun? Fahr da nicht hin, die sperren dich ein.“

„Und was mache ich in Tschechien?“

[…]

Der Schwester des Außenseiters tut es leid, dass ihrem Bruder nicht einfällt zu fragen, wie es ihr geht. Sie versucht dem verstockten Außenseiter seine überstürzte Reise nach China auszureden; hat nicht der Eiserne Vorhang gereicht, muss er etwa noch die lange und hohe Chinesische Mauer erleben? Sie versucht, ihn zu warnen, versucht, ihm zu erklären, dass das Fortgehen woandershin nicht definitiv ist. Sie sitzen gemeinsam im Café und der Außenseiter bleibt eigensinnig.

„Ich bin da nicht allein. Die Wohnung hat mir der Programmierer gefunden.“

„Der Programmierer?“

„Der Programmierer. Ein Freund deines ersten Ehemanns.“

[…]

[…]

Auf den Platz des Himmlischen Friedens ergossen sich die Plätze der Welt, auch die tschechischen Plätze des Augusts 1968. Die Panzer fahren ohne anzuhalten und hier sind sie im Juni 1989 angekommen. Hier geht alles bis aufs Blut, groß, größer, China und die Pekinger Oper haben ihre lang währenden Regeln und Kritik an der Politik ist auf ihre Art auch Politik, aber die Menschen gelangten allmählich zu dem Eindruck, die kommunistische Regierung habe völlig zurecht eingegriffen. Sie hat keinen Fehler gemacht. Alle sind damit einverstanden, was die Regierung macht. Die staatliche Propaganda manipuliert perfekt, beherrscht die Taktik der Gehirnwäsche.

Auf dem Platz der Stadt Prag zündete sich im Januar 1969 aus Protest gegen die sowjetische Okkupation der Student Jan Palach an. Zündete seinen Körper an, so, wie sich die tibetischen Mönche aus Protest gegen den chinesischen Genozid anzünden. Palachs Tod, andernorts schwer fassbar, wurde augenblicklich verstanden. Er war ein radikaler und symbolischer Ausdruck des Zeitgefühls. Jeder verstand das verzweifelte Bedürfnis, etwas so verzweifelt Extremes zu tun. Wenn alles andere erfolglos blieb. In China ist so etwas eine gewöhnliche Handlung, nichts verzweifelt Radikales. Extreme Situationen sehen hier anders aus.

Welcome, Willkommen. Bienvenue. Bienvenuti. Bainvegni.

Tschechische Studenten standen den Panzern gegenüber. Erklärten auf Russisch das Unerklärliche.

Chinesische Studenten standen Panzern gegenüber. Sie wiederholten Sätze, die der Dramatiker Václav Havel in dem weit entfernten Land geschrieben hatte und die sie als ihre angenommen hatten. Einfache Sätze über die Macht der Machtlosen.

[…]

„Verzeihen Sie, wie waren die Namen? Können Sie die noch einmal wiederholen? Wie werden sie geschrieben?“

„Das ist nicht wichtig, nicht einer lebt mehr.“

„Und Sie persönlich sind mit welchem von denen einverstanden?“

„Lesen Sie – “

„Mit wem sind Sie einverstanden?“

„Mit denen, die die ganze Wahrheit ausgesprochen haben, nicht nur einen Teil.“

„Vielleicht konnte die ganze Wahrheit nicht ausgesprochen werden.“

Das Chinesische Mädchen erinnert sie in seiner Starrköpfigkeit an den Programmierer. Dem kann man auf den Gesellschaften auch nicht entgehen, wenn er seine Fragebogenaufgabe erfüllt. Die Schriftstellerin ist schon gereizt; irgend so eine junge Kommunistin zwingt sie, über die Vergangenheit eines Landes zu beichten, nur weil sie da zufällig geboren wurde. Sie verhört sie zu Themen, zu denen sie nichts hinzuzufügen hat. Apfelsine wiederum gefällt es, dass das Chinesische Mädchen und der Freund sie in gegensätzliche Welten hineinziehen und damit ihre stören.

„Gehen Sie zu Historikern.“

„Zu welchen konkret?“

„Der Außenseiter rät Ihnen etwas.“

„Und bei uns? Glauben Sie, es war eine gute Idee, eine Oppositionspartei zu gründen?“

„Das löst keine weitere Partei. In kritischen Momenten ruft man in allen kommunistischen Ländern nach einer Oppositionspartei. Und schauen Sie sich das heute an. Nicht einmal bei uns gibt es eine Oppositionspartei, nur einen Haufen unreifer Individuen, die die Politik als Unternehmensbereich ansehen. Sie geben denen das Beispiel. Ihre Partei ist ein Beispiel für unsere Unternehmer!“

„Wir sind ein Beispiel für einen europäischen Staat?“

Das Chinesische Mädchen ist überglücklich.

 

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck

 

[1] Emily Dickinson: Gedichte englisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Gunhild Kübler. München Wien 2006.S. 115