František Tichý

Transport hinter die Ewigkeit

2017 | Baobab

1.

Ich lief an Svobodas Schuhgeschäft vorbei und bog um die Ecke. Der gepflasterte Bürgersteig zog sich an einer Reihe von Häusern entlang, und als hätte ich schon den Duft von Mamas Abendessen in der Nase, spurtete ich plötzlich los. Es würde köstliche Linsen mit gebratenen Zwiebeln geben. Noch das Stück bis zu der alten Akazie, dann wäre ich zu Hause. Wie schön sie schon blühte…

Nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt stand ein schwarzes Auto. Und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ein Mann in einem langen Mantel. Jetzt drehte er sich um, schaute einen Moment in meine Richtung, verschwand aber gleich hinter der Hausecke, so dass ich keine Zeit fand, ihn mir genauer anzuschauen. Für ein, zwei Sekunden blieb ich überrascht stehen, aber dann, als wollte oder konnte ich mir nicht ausmalen, was hier wohl vor sich ging, holte ich tief Luft und rannte zum Hauseingang.

Die Tür flog auf, bis sie an die Wand krachte. Ich trat ins Halbdunkel. Das Mietshaus begrüßte mich mit der vertrauten feuchten Kühle, in die sich die Düfte und auch die üblen Gerüche aller Mieter mischten. Ich wollte gerade zwei Steinstufen auf einmal nehmen, als aus den oberen Etagen der Widerhall donnernder Stimmen zu mir drang. Unmittelbar darauf begannen die Stufen unter den Tritten schwerer Schritte zu vibrieren. Ich blieb stehen und wartete, dann duckte ich mich. Das Tritte wurden immer lauter, kamen näher und näher …

In letzter Minute kauerte ich mich in eine dunkle Nische hinter dem Treppenhaus. Die Schritte hallten schon direkt über mir. Plötzlich waren sie ganz nahe. Vier Männer kamen die Treppen herunter gestigen und steuerten nach draußen. Der mittlere hielt eine Waffe in den Händen und trug einen langen dunklen Mantel … Durch das verzierte Treppengeländer konnte ich nicht viel erkennen und so beugte ich mich vor. Die Gestalt am Ende des Treppenhauses blieb knapp zwei Meter vor mir stehen und drehte sich zu den dreien um, die hinter ihr herabstiegen. Zwei von ihnen hatten auch Pistolen in den Händen. Zwischen ihnen jedoch … Als würde mich ein Blitz treffen. Papa. Sie führten Papa ab!

Ich war vollkommen erstarrt, hatte ganz bleierne Beine. Trotzdem versuchte ich ihm ins Gesicht zu sehen, ihm in die Augen zu schauen, aber im Halbdunkel war fast nichts zu erkennen. Der Kerl vorne stieß die Tür auf, ein paar nachmittäglich gelbe Sonnenstrahlen drangen ins Haus. Ich beugte mich noch weiter vor, und genau in dem Moment blieb auch Papa für eine Sekunde stehen und wandte den Kopf. Mir schien es so, als schaute er in meine Richtung, und wollte ihn gerade rufen …

„Schnell!“ trieb ihn sein Hintermann scharf an und schob ihn zum Eingang.

Eine Sekunde, zwei, drei. Die Tür war krachend hinter ihnen zugefallen, und ich stand wieder im Dunkel. Mein Atem stockte, mein Kopf war für einen Moment wie leergefegt, wie lange das dauerte, weiß ich eigentlich nicht. Ich zuckte zusammen und lief dann wie in einem zu schnell abgespielten Film nach draußen. Das Auto verschwand gerade in der Nachbarstraße.

„Papa!“ wollte ich rufen, brachte aber nur ein ersticktes Röcheln hervor. Sie waren fort.

Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in unsere Wohnung gelangt bin. Die Tür stand sperrangelweit offen, und schon vom Flur aus sah ich die Haufen der auf dem Boden verstreuten Sachen – Bücher, Kleidung, Pflanzen mitsamt den ausgekippten Blumentöpfen, zerschlagenes Geschirr. Ansonsten Stille.

„Mama …“ stieß ich hervor. Nichts. Mich überkam es heiß und kalt.

„Maruška“, rief ich nach meiner Schwester und ging ein paar Schritte weiter.

„Honza … bist du das?“, endlich hörte ich Mamas Stimme. Fast hätte ich sie nicht erkannt. „Maruška ist nach dem Mittagessen zu den Novotnýs spielen gegangen.“

Sie saß in der Küche auf dem Boden inmitten der umgekippten Stühle und schaute schweigend zum angelehnten Fenster.

„Was ist passiert?“ ich holte Luft.

„Papa …“, sie flüsterte fast. „Damit hatte er nicht gerechnet. Er wollte die Flugblätter in der Toilette hinunterspülen, aber …“, ihre Stimme zitterte. Ich wusste, dass Papa etwas organisiert hatte, manchmal traf er sich mit anderen Leuten, einige kannte ich nicht mal, zu Hause sah ich gelegentlich irgendwelche Bücher und Zettel. Es kam auch vor, dass er mich los schickte, um an irgendeiner Adresse eine Nachricht auszurichten oder einen Zettel in den Briefkasten zu werfen. Gerade gestern waren ein paar Leute bei uns zu Besuch gewesen, die Eltern hatten Maruška und mich früh schlafen geschickt, durch die Tür hatte ich aber gehört, wie sie bis spät in die Nacht Radio hörten. Ich hatte schon früher geahnt, worum es hier ging, mich aber nicht zu fragen getraut, gleichzeitig nahm ich es Papa auch etwas übel, dass er mich immer noch wie ein kleines Kind behandelte. Jetzt wünschte ich mir nur noch, dass das alles nicht wahr wäre.

„Haben sie ihn verhaftet?“ stieß ich hervor. Mama nickte. Ich schwieg eine Weile, dann aber brach ein Wortschwall aus mir heraus: „Die werden ihn bestimmt bald wieder freilassen. Er hat doch nichts getan, oder? Du wirst sehen, dass er ihnen alles erklären kann, dass alles nur so ein Spiel ist, und außerdem, wer würde in der Schule für ihn unterrichten, bald ist das Schuljahr zu Ende, und die Klassenarbeiten werden geschrieben …“ Ich weiß gar nicht, ob ich eher sie oder mich selbst beruhigen wollte.

Mama drehte sich zu mir und bemühte sich um ein Lächeln, ihre Augen glänzten. Dann stand sie auf, als sei nicht geschehen, und machte sich daran, die durcheinander geworfenen Sachen aufzuräumen. Ich schloss die Wohnungstür und begann ihr wortlos zu helfen.

„Hast du Hunger?“, fragte sie mich nach einer Weile, aber ich schüttelte den Kopf. Sie schaute mich an, lange, als müsste sie eine wichtige Entscheidung treffen.

„Würdest du zu Onkel Martin laufen?“, fragte sie leise.

„Ja“, antwortete ich zögernd, „aber soll ich dir nicht erst mit dem Aufräumen helfen?“

„Lauf gleich los und sag ihnen, dass Papa von der Gestapo geholt wurde. Dass sie lieber nicht zu uns kommen und dass …“, sie sprach nicht zu Ende, das war aber auch gar nicht nötig.

„Verstanden“, ich nickte. „Bin schon unterwegs!“

„Honza“, niedergeschlagen hielt sie mich an, als ich schon in der offenen Tür auf der Schwelle stand. „Pass auf dich auf!“

Ich stürzte los, die Stufen hinunter. Zweiter Stock, erster, Erdgeschoss. Vor dem Eingang blieb ich kurz stehen und schaute mich um. Zwei kleine Jungs liefen über den Bürgersteig gegenüber, um die Ecke ertönte Hundegebell. Sonst nichts. Mit schnellen Schritten lief ich die Straße hoch, und in meinem Kopf spulte sich wie ein Film alles ab, was in den letzten Minuten passiert war. Bilder, Fragen, Beklommenheit … Wie wird es wohl weitergehen? Was, wenn sie Papa schlagen, Tomáš hatte in der Schule gesagt, dass die Deutschen das machen. Oder ihn einsperren? Und was, wenn …

Es überlief mich heiß und kalt, und der Boden unter meinen Beinen begann zu schwanken. Ich machte kurz halt und versuchte tief Luft zu holen. Plötzlich war mir ganz schwarz vor Augen, als würden die Angst und die Dunkelheit mein Ich zerquetschen und in die Leere drängen. Bestimmt kommen sie auch Mama abholen … und dich … Es war, als dröhnte eine fremde Stimme in meinem Kopf. Ich blickte zurück zu unserem Hauseingang.

An der Ecke bewegte sich etwas. Wie der Schatten einer Gestalt, der einen Moment, nachdem ich mich umgedreht hatte, hinter dem Hausrand verschwunden war. Hatte ich mir das nur eingebildet? Oder verfolgte mich wirklich jemand? Was, wenn das der Kerl war, den ich gesehen hatte, als ich nach Hause ging?

„Hau ab!“, brüllte es in mir, und ich sprintete die Straße hoch, so schnell ich nur konnte. Die Hauseingänge huschten an mir vorüber wie Zaunplanken, manchmal drehte sich ein Fußgänger um und ging mir schnell aus dem Weg. Und ich lief und lief. Gleich auf der Hauptstraße bog ich scharf ab. Hier waren schon mehr Menschen, und so musste ich zickzack laufen. Da an der Ecke – eine uniformierte Patrouille. Uff, zum Glück schauten sie in die andere Richtung und lachten über irgendetwas …

Hier würde es gehen! Ich zwängte mich durch eine schmale Lücke zwischen den Büschen an einem kleinen Spielplatz. Ein Sprung über ein Mäuerchen, und schon war ich eine Straße weiter. Hurra! Da fährt gerade eine Straßenbahn, die muss ich kriegen! Das Herz klopfte mir bis zum Hals, in der Brust spürte ich ein Brennen, aber eine unbekannte Kraft verlieh mir einen solchen Schub, dass ich den in der Kurve langsamer werdenden Wagen einholte und erleichtert auf die Elektrische aufsprang.

„Wohin denn so eilig, junger Mann?“, lächelte der bärtige Schaffner mich an, und ich war froh, wieder ein freundliches Gesicht zu sehen.

Ich holte Luft und stotterte: „Zu meinem Freund … Mathehausaufgaben.“

 

2.

„Sie kommt …. sie kommt, schnell!“ quietschte Marcela von der Klassentür. Alle hasteten zu ihren Plätzen, als hätte jemand auf sie geschossen. Nur ein paar Jungen kramten noch einige Sekunden in ihren Schulmappen und tauschten die Hefte und Lehrbücher auf der Schulbank aus, dann aber warfen sich alle vorbildlich in Habacht-Stellung, die Blicke zur Tür gerichtet. Eine angegraute Lehrerin mit einem großen Holz-Dreieck und einem Zirkel in der Hand trat ein. Klassenarbeit!

Abends hatte ich lernen wollen, aber nach all dem ging das irgendwie nicht. Mama, Maruška und ich hatten aufgeräumt, bis es dunkel war, wir hatten abwechselnd vor uns hingeweint und uns gegenseitig getröstet, dass Papa bestimmt bald zurückkommen würde. Ans Lernen hatte ich keinen Gedanken verschwendet.

„Legen Sie Ihre Hefte mit den Hausaufgaben an den Rand der Bänke. Ich werde sie durchsehen, während Sie zeichnen“, eröffnete die Lehrerin, sobald sie uns vom Lehrerpult her aufgefordert hatte, uns zu setzen.

„Markéta, verteilen Sie die Papiere … Alle Sachen in die Schulmappen, behalten Sie nur Bleistift, Dreieck und Zirkel.“ Scheibenkleister! Ich legte das Heft an den Tischrand, aber eine Hausaufgabe war da nicht drin. Die Lehrerin begann zu diktieren und gleichzeitig die einzelnen Aufgaben an die Tafel zu schreiben.

„Zeichnen Sie ein Dreieck ABC, wenn Sie die Länge der Seite AB kennen, den Winkel …“ In der Klasse herrschte Grabesstille, außer der diktierenden Stimme war nur das Kratzen der Federn, das Quietschen der Kreide an der Tafel und ein gelegentliches Klacken zu hören, wenn die Federhalter gegen die Tintenfässer schlugen. Ich schrieb mechanisch und schaffte es, gleich in der ersten Zeile zwei Tintenkleckse zu machen.

„Vergessen Sie die Skizze nicht“, fuhr die Lehrerin fort, und ich sah, dass alle konzentriert zu arbeiten begannen. Ich hingegen wurde nur von einem wohlbekannten Bauchkneifen heimgesucht. Ich las die Aufgabenstellung immer wieder von vorn, aber es war so, als sei alles in einer mir unbekannten Sprache geschrieben.

Nachdem schon fast fünf Minuten vergangen waren, schaute ich mich verzweifelt in der Klasse um. Alle waren über ihre Aufgaben gebeugt, nur in der Nachbarreihe fing ich den ratlosen Blick von Matouš auf, der offenbar auch nicht genau wusste, was man hier von ihm wollte.

„Was ist los, Kratochvíl?“, wandte sich die Mathelehrerin an mich. „Ist Ihnen etwas nicht klar?“

„Nein“, stammelte ich, „es ist alles in Ordnung …“

Sie stand auf, kam langsam zu mir und blieb direkt über meiner Arbeit stehen. Nein, nicht auch das noch! Als sie sah, dass mein Papier leer war, öffnete sie wortlos mein Hausaufgabenheft.

„Wie kommt es, dass Sie keine Hausaufgaben haben?“ Ich schaute sie schweigend an. „Und dass Sie sich nicht entschuldigt haben?“, fragte sie leise, aber um so schärfer. „Ich muss Ihnen eine Fünf geben …“

Ich nickte und presste die Lippen zusammen. Die Lehrerin kehrte zum Lehrerpult zurück und öffnete das Klassenbuch. Ich schaute noch einmal zu ihr, dann auf die Arbeit und unterdessen füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich biss die Zähne zusammen, damit niemand etwas bemerkte.

„Zeichnen Sie ein Dreieck ABC“, las ich von neuen, dann nahm ich einen gewöhnlichen Bleistift und begann zu skizzieren, wie ein solches Dreieck wohl aussehen könnte. Der Kummer darüber, dass ich Mama und vor allem Papa enttäuschen würde, mischte sich mit Wut über meine totale Unfähigkeit. Und so zeichnete ich langsam die erste Aufgabe und begann die zweite zu studieren, aber meine Tränen kullerten weiter, so sehr ich auch versuchte, sie zu unterdrücken. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und schniefte. Die Lehrerin lief unterdessen durch die Bänke und sammelte die Hausaufgabenhefte ein. Schließlich kam sie wieder zu mir und blieb stehen.

„Was ist passiert?“, fragte sie so streng wie gewöhnlich, zugleich jedoch mit einem Hauch von Mitleid. Ich wollte stolz antworten, dass nichts passiert sei, statt dessen jedoch stieß ich hervor: „Die Gestapo hat gestern Papa verhaftet!“

Wie auf Befehl hörten alle bis auf ein paar Mädchen mit dem Schreiben auf und schauten zu mir.

„Was ist das für ein Aufruhr?!“, die Lehrerin maß die Klasse mit einem Blick. „Machen Sie weiter mit der Arbeit. Und wenn jemand schon fertig ist, möge er sich melden.“

Ich hörte das wie durch eine Wand. Die sechs Worte hatten meinem Kummer alle Schleusen geöffnet, und wie ein kleiner Junge plärrte ich los. Gleichzeit versuchte ich, mich zu beherrschen, weil mich alle beobachteten.

„Gehen Sie sich abspülen“, sagte die Lehrerin in neutralem Tonfall zu mir. „Und dann kommen Sie und schreiben das hier zu Ende …“, sie schaute auf meine Arbeit.

Ich stand auf und wischte mir mit dem Ärmel über die Augen: „Das geht gleich wieder, danke …“ Trotzdem trottete ich zum Waschbecken in der Ecke des Klassenraums und ließ erleichtert das Wasser laufen.

Als ich etwas später an meinen Platz zurückkam, sagte sie halblaut: „Du hast das nicht völlig falsch … schau dir das Bild genau an und zeichne dir gut ein, was du tun sollst.“

Ich nickte und machte mich erneut an die Arbeit.

Die Stunde ging unglaublich schnell vorüber. Als ich die Klassenarbeit am Schluss abgab, schob die Mathelehrerin ihre Brille hoch und lächelte leicht: „Honza, wenn du mir morgen die Aufgabe bringst, streiche ich die Fünf wieder. Einverstanden?“

„Ja … Danke, Frau Lehrerin.“

Gleich als die Pause begann, verschwand ich auf den Flur und eilte zu den Toiletten. Ich fühlte mich schrecklich dumm und wollte allein sein. Nicht nur, weil ich geheult hatte, sondern vor allem, weil ich überhaupt nicht wusste, was ich den Mitschülern jetzt sagen sollte. Und was ich eigentlich sagen durfte. Aber schon nach ein paar Schritten war klar, dass ich nicht allein bleiben würde. Matouš und Petr kamen mir hinterher, an der Tür zur B-Klasse holten sie mich ein und liefen dann neben mir her, als sei nichts weiter.

„Honza …“, sprach Matouš mich an, und ich konnte erkennen, dass er nicht wusste, wie er beginnen sollte. „Die Jungs und ich wollten dir sagen …“

Ich schaute ihn an. Er war der Kleinste der Klasse, aber alle mochten ihn. Er wusste genau, wie man Absprachen trifft, Streit schlichtet, einen Ausflug oder auch einen Nachmittag auf der Eisbahn plant. Petr und er waren die Autoren der Schulzeitung, also Matouš zeichnete eher und Petr schrieb, auch wenn es im letzten Jahr immer schwieriger geworden war, weil die anderen Mitschüler Angst hatten, ihre Beiträge zu zahlen, damit sie, wenn jetzt Krieg war, keinen Ärger bekamen. Ich war eigentlich froh, dass gerade die beiden zu mir gekommen waren.

„Das ist schrecklich, was euch passiert ist“, sprach Petr den Satz zu Ende und drückte fest meinen Arm, aber keine Angst, auf uns kannst du dich immer verlassen. Falls du irgendwas brauchst … Und wir können schweigen.“

„Ende gut, alles gut, du wirst sehen“, ergänzte Matouš. Nie ließ er auch nur den Gedanken zu, dass etwas schlecht ausgehen könnte.

„Danke, hoffentlich hast du Recht“, ich holte Luft.

Jakub kam um die Ecke. Er war fast ein Jahr älter als wir, sprach nicht viel, aber wenn er mal etwas sagte, dann hatte das Hand und Fuß.

„Warum haben sie deinen Papa verhaftet?“, fragte er leise, als er schon direkt neben mir stand.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich ausweichend. Vielleicht fürchtete ich, etwas auszusprechen, was unabsehbare Folgen haben könnte. Alle drei schauten gespannt zu mir hin.

„Schon klar“, Jan winkte ab. „Du, ich dachte nur, wenn du Hilfe mit Mathe brauchst …“

„Also, die könnte ich auch gebrauchen!“, rief Matouš sofort, bevor ich auch nur etwas antworten konnte. „Ich habe keinen blassen Schimmer gehabt. Und dabei hatte ich zu Hause alle Beispiele aus dem Lehrbuch durchgerechnet!“

„Danke, Jungs“, entgegnete ich. „Ich würde das gerne annehmen, aber …“

Ich hielt noch einmal kurz inne, dann maß ich alle drei mit einem Blick und fuhr leise fort: „Papa haben sie wohl verhaftet, weil er etwas gegen die Deutschen organisiert hat, viel weiß ich nicht darüber, aber …“, ich sah, wie sie an meinen Lippen hingen, sie machten unseren Kreis um noch einen Schritt kleiner. „Jedenfalls könnte es sein, dass sie auch mich holen …“

„Das glaube ich nicht, du bist doch erst zwölf“, unterbrach Matouš mich überrascht, aber ich fuhr fort: „Das könnte für euch sehr gefährlich werden.“

„Wieso?“, wollte Kuba wissen.

„Na, wenn sie euch mit mir sehen …“

„Deshalb sollen wir dich jetzt im Stich lassen? entgegnete Petr fast vorwurfsvoll und wandte sich an die anderen Jungs. Matouš nickte und Jakub schloss lapidar: „Ich pfeif auf die Deutschen.“

„Du, Honza, ich weiß, dass das schrecklich ist“, Petr schaute mir direkt in die Augen. „Aber für uns ist dein Papa …“, er machte eine Pause, als suchte er das richtige Wort. „Ein Held.“

„Und weißt du wenigstens, wo sie ihn eingesperrt haben? Wir könnten ihn am Nachmittag besuchen gehen“, meinte Matouš, aber ich schüttelte den Kopf. Damals erschien mir seine Frage noch nicht naiv.

„Wir wissen gar nichts. Wenn ich nach Hause komme, hat Mama vielleicht etwas herausgefunden.“

„Also um drei an der Moldau?“, fuhr Jakub pragmatisch fort. „Ich bringe dann Mathe mit.“

„Ich komme bestimmt“, Matouš lächelte das erste Mal in der ganzen Zeit.

„Dufte, einverstanden. Ach, und Matouš, wir könnten da doch die nächste Nummer der Umschau fertig machen?“, meinte Petr freudig, und es war zu sehen, wie erleichtert er war, als das Gespräch zu einem leichteren Thema kam. Dann wandte er sich an mich: „Honza, und du?“

Noch gestern wäre ich dankbar gewesen, dass die Jungs sich so um mich kümmerten, aber heute war alles anders.

„Das wäre toll, aber … wisst ihr, ich schaue mir das besser zu Hause an. Versteht es nicht falsch, Jungs, aber Mama ist alleine, nur mit meiner Schwester …“

„Du möchtest bei ihnen sein … Das kann ich verstehen. Aber wenn du willst, kommen wir bei euch vorbei?“, schlug Petr vor.

„Lieber nicht … Ich weiß nicht, was Mama dazu sagen würde, und überhaupt“, lehnte ich unbestimmt ab.

„Aber wenn sich was ändert, dann weißt du, wo du uns findest.“

„Vielen Dank jedenfalls … für alles“. Die letzten Worte wurden vom Läuten der Schulklingel geschluckt. Ich schaffte es nicht mal, den Satz zu Ende zu beenden, wieviel mir das alles bedeutete. Wir rannten los in die Klasse.

Aus dem Tschechischen von Christiane Frankenberg