Anna Cima

Aufwachen in Shibuya

2018 | Paseka

11.

Ich habe keine Ahnung, wo mein Hang zum asiatischen Typ herkommt. Wahrscheinlich ist er mir angeboren. Das heißt nicht, dass ich Europäer nicht mögen würde. Das heißt auch nicht, dass mir ausnahmslos alle Asiaten gefallen. Es ist einfach kompliziert. Ich denke, dass es neunzig Prozent der Mädchen, die sich für Japanologie, Koreanistik oder Sinologie einschreiben, ähnlich geht. Eine Japanlogin, die nicht auf Japaner steht, werdet ihr sicher nicht finden. Die Japanologin, die sagt, Japaner seien unattraktiv, gibt es meiner Meinung nach nicht.

Aber auch unter den Mädchen, die auf Asiaten stehen, steche ich gewissermaßen heraus. Sogar im Rahmen dieser kleinen Gruppe ist mein Geschmack ziemlich ausgefallen, denn, während die meisten meiner Kommilitoninnen ganz gezielt nach Japanern Ausschau halten, die aussehen wie aus Kandiszucker, gefallen mir bärtige und schmutzige Samurai, verlotterte Studenten in Bibliotheken und Straßenmusikanten mit Gitarre. Das erste Mal ist mir das bewusst geworden, als ich siebzehn war.

Ich erinnere mich, wie Kristýna und ich auf dem Stalindenkmal saßen, Wodka mit Saft tranken und mir schwante, dass dieses das letzte entspannte Jahr in meinem Leben sein würde. Diese Zeit, in der einem alle alles auf dem Silbertablett servieren, einem sagen, wann man wohin kommen soll, wie viel Geld man mitbringen muss, was im Geschichtstest drankommt und so weiter.

Die Sonne schien an diesem Tag so stark, dass es fast schon unangenehm war. Wenn ich daran denke, habe ich wirklich das Gefühl, alles sei gelb gewesen. Ich sah auf Prag hinab und dachte bei mir, dass ich irgendwann tolle Sachen vollbringen würde. Bis zu meinem Schulabschluss hatte ich den Plan, einen genialen Roman zu schreiben, Japanisch zu lernen, eine Band zu gründen und Comics zu zeichnen.

Ich zog ein Foto von Toshirō Mifune aus dem Portemonnaie und legte es vor mir auf das Mäuerchen. Ich steckte mir eine an und betrachtete verliebt den Samurai im Kimono.

„Was ist das denn für ein Typ im Pyjama?“, stemmte sich Kristýna aus dem Liegestütz hoch und nahm einen Schluck Wodka mit Saft.

„Das ist“, antwortete ich feierlich, „ Toshirō Mifune.“

Kristýna sah sich das Foto genauer an.

„Wieder irgendein Japaner, oder? Ist der nicht ein bisschen alt für dich?“, fragte sie.

„Der ist schon tot“, erwiderte ich.

„Warum trägst du ihn dann im Geldbeutel rum?“, fragte Kristýna.

„Weil ich ihn liebe.“

„Du spinnst“, schüttelte Kristýna den Kopf, „ich verstehe nicht, was du an diesen Schlitzaugen findest.“

Prag lag wie auf einem Teller vor uns und alles schien zum Greifen nahe. Ich zog tief an meiner Zigarette und sah wieder auf Mifune. Meine Altersgenossinnen schwärmten damals für Daniel Radcliffe aus Harry Potter oder den Vampir Robert Pattinson aus Twilight, aber diese Bübchen imponierten mir persönlich kein bisschen. Der verschwitzte Mifune hingegen in seinen Samurai-Klamotten, das war ein echter Kerl.

Meine jüngere Schwester, die unbeirrt meinem Beispiel folgte, verliebte sich ebenfalls in Mifune. Wir haben oft zusammen auf dem Sofa gesessen und Der trunkene Engel von Kurosawa geschaut. Darin spielt der junge Mifune einen Yakuza, spaziert nonchalant im weißen Gewand durch die Stadt und zündet sich dabei eine nach der anderen an. Meine Schwester war damals dreizehn und ich siebzehn. Ich nahm die Fernbedienung in die Hand und richtete sie auf den DVD-Player unter dem Fernseher.

„Gleich kommt’s!“, beugte sich meine Schwester näher zum Bildschirm. Ich hob die Hand mit der Fernbedienung.

„Jetzt! Jetzt! Mach schon, halt an!“

Toshirō zieht sich in dem Film nämlich in einer Szene sein Hemd aus. Ich drücke „Pause“ und der halbnackte Mifune mit pomadigen Haaren erstarrt mitten im Entkleiden. Verliebt studieren wir seinen nackten Körper. Unsere Eltern durften bei diesem heiligen Ritual natürlich nicht zu Hause sein.

„Mann, sieht der gut aus!“

Toshirō schaute uns vorwurfsvoll an.

„Und seine Brust ist gar nicht so behaart wie die von Papa!“

„Japaner haben nicht so viele Haare.“

Ich bildete mir ein, dass Mifune ein wenig rot wurde. Aber das konnte natürlich nicht sein. Schließlich war es ein Schwarz-Weiß-Film.

„Mir gefällt er“, sagte meine Schwester nachdenklich, „die süßen Fältchen an der Nasenwurzel, wenn er so finster guckt. Und überhaupt“, reckte sie sich noch näher zum Bildschirm hin, „er hat echt schöne Augen.“

„Das hat er“, gab ich ihr recht, „schade, dass es solche Japaner nicht in Tschechien gibt.“

„Würdest du dich an ihn ranmachen?“, fragte meine Schwester.

„An Toshi? Das kannst du wissen.“

Wir krochen so nah an den errötenden Mifune heran, wie es nur ging. Nur dass er schließlich in die Tasche griff und daraus die Fernbedienung hervorholte. Er richtete sie auf uns und drückte „Play“. Wahrscheinlich hatte er es nicht mehr ausgehalten, wie wir ihn schamlos anstarrten und, was wir sahen, auch noch laut kommentierten. Der Film lief weiter. Meine Schwester und ich tauschten enttäuschte Blicke aus.

„Gib her“, riss meine Schwester mir die Fernbedienung aus der Hand und spulte zurück an den Anfang der Szene, „jetzt drücke ich Pause.“

12.

Mit sechzehn habe ich das erste und das letzte Mal in meinem Leben ein Inserat aufgegeben. Ich suchte einen japanischen Freund oder eine Freundin. Von meiner Seite war das echt ohne Hintergedanken. Auf Japanisch sagte ich noch keinen Piep, aber auf Englisch konnte ich mich schon ganz anständig verständigen. Auf die Anzeige meldete sich ein gewisser Satoru. Er wohnte in Pilsen und war um einiges älter als ich.

Ich muss zugeben, dass er mir schon von Anfang an irgendwie suspekt vorkam. Aber ich wollte die Gelegenheit nicht einfach so verstreichen lassen. Also verabredete ich mich mit ihm im Einkaufszentrum in Prag-Zličín. Ich dachte mir, dort sind so viele Leute, und falls wider Erwarten doch etwas schief läuft, schreie ich und dann hilft mir schon jemand. Als ich am Treffpunkt eintraf, war Satoru schon da. Auf den ersten Blick sah er ganz gewöhnlich aus. Das beruhigte mich ein wenig.

„Also“, sagte ich ihm geradeheraus, „ich suche nur einen Kumpel, klar?“

„Klar“, nickt er zustimmend. Wir bestellten uns einen Kaffee.

„Wie alt bist du?“, fragte er mich.

„Sechzehn. Und du?“

„Dreißig.“

Die Feststellung, dass mein potentieller Freund vierzehn Jahre älter war als ich, brachte mich irgendwie aus dem Konzept. Ich starrte in die Kaffeetasse vor mir. Worüber sollte ich mit ihm reden? Worüber spricht man mit einem dreißigjährigen Mann? Aber noch bevor ich die Konversation mit einer geeigneten Frage beginnen konnte, ergriff Satoru das Wort.

„Darf ich dich berühren?“, fragte er mich.

„Wie bitte?“, riss ich die Augen auf. Das ging aber schnell. „Nein“, schüttelte ich schnell den Kopf, „ich suche wirklich nur einen Kumpel.“

Ich beobachtete, wie seine Hand über den Tisch rutschte und sich langsam meiner Tasse näherte.

„Ich meine das ernst“, sagte ich ihm, „lass das oder ich gehe!“

Satoru schaute drein wie ein getretener Hund. Dann zog er die Hand zu seiner Tasse zurück. Ich war erleichtert. Das hätten wir also geklärt. Nun musste nur noch ein Gespräch in Gang kommen.

„Was machst du beruflich?“, fragte ich ihn.

„Ich arbeite in einer japanischen Firma, die Fernseher herstellt. Und du?“

„Ich gehe aufs Gymnasium, in die elfte Klasse.“

Die Hand kroch schon wieder über den Tisch.

„Darf ich wirklich nicht einmal deine Hand nehmen. Das würde ich mir wirklich wünschen.“

„Nein!“

„Ich bin so einsam…“

Es hatte keinen Sinn. Ich ließ mir die Rechnung bringen und machte mich auf den Heimweg. Da da packte mich Satoru am Handgelenk und zog mich durch das Einkaufszentrum in die entgegengesetzte Richtung, als ich eigentlich gehen wollte.

„Lass mich los!“

„Keine Angst, ich will dir nur etwas zeigen!“, schleifte er mich weiter den Gang entlang.

„Aber ich will nichts sehen!“

„Keine Angst, komm.“

Was zur Hölle wollte er mir zeigen? Ich dachte ernsthaft darüber nach, um Hilfe zu rufen, als Satoru mich endlich losließ. Wir standen vor einem Elektronikgeschäft. Ich verstand überhaupt nichts.

„Komm!“, sagte er und begab sich in die Richtung, wo die Fernseher standen. Zögernd folgte ich ihm. Wir gingen an Staubsaugern, Rasierapparaten und Radiogeräten vorbei. Bis wir vor einem Plasmafernseher standen.

„Schön“, sagte ich. Aber Satoru wollte mir nicht den Fernseher zeigen. Er drängte mich, mir das Regal von hinten anzusehen, also schauten wir auf das Gewirr von Kabeln und Knöpfen auf den Rückseiten der Bildschirme. Ich blickte verständnislos drein. Ich kapierte kein bisschen, worum es hier ging. Dann beugte sich Satoru über den Fernseher, der ihm am nächsten stand, und zeigte mit dem Finger auf einen Aufkleber mit einem Strichcode unter dem Eingang, aus dem das dickste Kabel heraushing.

Ich beugte mich noch tiefer hinunter. Auf dem kleinen Aufkleber stand: Geprüft von Satoru Tanaka.

„Das habe ich kontrolliert“, verkündete Satoru und drückte stolz die Brust heraus. Dann verpasste er mir einen Kuss. Es ging so schnell, dass ich nichts einwenden konnte. Ich stand wie angewurzelt da in einem Gestrüpp aus Kabeln. Nun hatte mich also ein völlig fremder Japaner geküsst. Aus Lautsprechern säuselte getragen Love is in the Air.

In meinem ersten Jahr an der Uni vertraute ich mich mit diesem Erlebnis einer Kommilitonin an. Die blieb völlig unbeeindruckt, zog ihr Handy hervor und drückte eine Weile auf ihm herum. Dann hielt sie mir das Gerät vors Gesicht.

„War es der?“, fragte sie trocken.

Offenbar war ich nicht die Einzige, die Satoru mit Fernsehern zu verführen versucht hatte.

13.

In der elften Klasse erwischten mich meine Eltern dabei, wie ich probierte, Joghurt mit Stäbchen zu essen. Sie sahen ein, dass das Ganze eine Nummer zu groß für sie war (mein Vater hatte mir alle japanischen Filme empfohlen, die er kannte, aber dann war er mit seinem Latein am Ende), deshalb gaben sie mich in die liebevolle Fürsorge eines in die Jahre gekommenen Japanologen.

Der Herr Lehrer hatte ein kleines Kabinett im Zentrum von Prag, dessen Wände im wahrsten Sinne mit Büchern verkleidet waren, ganz weiße Haare und leuchtende, blaue Augen. Ungefähr so hatte ich mir als Kind Jesus vorgestellt. Früher musste er ein wirklich gutaussehender, junger Mann gewesen sein. Aber auch damals war er noch ein strammer Kerl. Er ließ mich an seinem Schreibtisch auf einen klapprigen Holzstuhl Platz nehmen. Der Tisch war übersät mit vollgekritzelten Papieren, Wörterbüchern und anderen Wälzern.

Ich schaute mich im Raum um. Ein durchgelegenes Kanapee mit ausgeblichenen Kissen in einer undefinierten Farbe. Eine riesige Kalligraphie an der Wand hinter dem Schreibtisch, die der Herr Lehrer selbst geschrieben hatte. Von irgendwoher erklang leise die Titelmelodie von Familie Smolík. Der Herr Lehrer liebte es, sich morgens Trickfilme anzuschauen. Im Raum war es düster, Licht fiel nur durch ein kleines Fenster gegenüber der Couch herein. Es zeichnete ein leuchtend weißes Viereck auf den Boden neben meinen Stuhl. Durch die Luft schwebten winzige Staubkörnchen. Die, die es über das weiße Viereck auf der Erde schafften, glänzten und schimmerten wie Goldstaub.

Ich hatte das Gefühl, in eine Welt eingetaucht zu sein, die keine Frau vor mir je betreten hatte. Ich war nervös und ungeduldig. Ich wollte möglichst schnell Japanisch lernen, um alle Filme mit Mifune im Original sehen zu können und dabei nicht ständig zwischen seinem Gesicht und den Untertiteln hin- und herspringen zu müssen. Der Herr Lehrer saß in einem Sessel hinter seinem riesigen Schreibtisch und beobachtete schweigend, wie ich mich unsicher im Raum umsah.

„Fräulein Kupková“, kniff er die Augen zusammen, als sähe er direkt in meine schwarze Seele, und schenkte sich ein Glas Wein ein aus der Flasche, die auf dem Tisch stand, „ich hoffe, dass der Grund für Ihren innigen Wunsch, Japanisch zu lernen, kein Japaner ist.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann ist gut“, stellte er die Flasche wieder auf den Tisch, „nehmen Sie sich nie einen Japaner. Das sind Tiere.“

Dann trank er genussvoll einen Schluck.

Aus dem Tschechischen von Iris Milde