Miřenka Čechová

Balletttänzerinnen

2020 | Paseka

DIE KLASSIKSTUNDE UND TRÄUME

 

Und eins, und zwei, und drei, und vier, der Korrepetitor schlägt gnadenlos in die Tasten des schwarzen Petrof-Klaviers und es ist ihm vollkommen egal, dass du mit jedem Millimeter deines Körpers gerade deine Seele verkaufst, du lieferst sie dem ignoranten Blick der Ballettmeisterin aus, öffnest die Schale, lässt Dämonen eintreten und schießt den Geist weit hinter dem Horizont.

Ständig spielt er die gleichen Gassenhauer, als wärt ihr dressierte Äffchen, und es ist ihm egal, wenn er gerade ein Motiv aus dem zweiten Akt von Dornröschen zitiert oder jetzt gleich ein Motiv aus Giselle. Ihr seid alle Dornröschen um acht Uhr morgens, angetreten im Konformkleidchen, mit Konformstrümpfen, Konformspitzenschuhen, Konformballerinadutt, Konformlächeln, vereint im Konformschicksal zukünftiger Verliererinnen, konforme kleine Depri-Seelen, bis ans Lebensende um Selbst-Bewusstwerdung bemüht, so als wärt ihr gleichberechtigte Wesen.

Giselle wird aus enttäuschter Liebe wahnsinnig und stirbt an gebrochenem Herzen, sie wird eine Fee, die in der Nacht Wanderer zu Tode tanzt. Und fünf, und sechs, und sieben, und acht. Das weiße Bauschekleid, in dem sie aussieht, als würde sie aufsteigen, als würde sie über der Erde schweben, sie wirbelt herum wie ein Medium, eine rotierende Pusteblume. Du wirst tanzen bis du stirbst, für die Liebe opferst du dich. Pause.

Demi-Plié. Erste, zweite, vierte, fünfte Position, dann gleiten, Vorwärtsbeuge, Rückbeuge, Attitude auf Halbespitze, halten, beide Arme weg von der Stange, Balance! Bloß nicht hinfallen. Konzentrier dich! Hinteres Knie nach oben, Fuß ausdrehen, Bein strecken, eine Linie, Schulterblätter zusammen, maximale Streckung auf Halbespitze, bloß keine Wadenkrämpfe. „Lächeln Nummer zwölf“, fügt die Lehrmeisterin ironisch hinzu, als sie sieht, wie wir alle rot werden, denn in der Position auf Spitze, das andere Bein weit nach oben erhoben, tut das alles ganz schön weh. Ihr haltet schon die zweite Minute, alle zittern, die Adern am Hals treten hervor, Zähne zusammenbeißen, verkrampfter Rücken, jemand hält es nicht mehr aus und legt eine Hand auf der Stange ab. „Habe ich etwa etwas von Ausruhen gesagt?“, kreischt die Lehrmeisterin.

Jetzt auch schon angelaufene Adern an der Stirn und pochende Schläfen. Du bist Giselle, die von der unglückseligen Liebe verraten und in den Tod getrieben wurde. Drehung und Battement tendu, die alte Kombination von gestern. Viermal vor auf eins, zweimal endet die Triole im Plié, das Gleiche zur Seite, nach hinten und wieder zur Seite. Warum eine Seite zweimal? Die Fußsohle ist ein Bügeleisen, ich bügle mein Hochzeitskleid. Du drückst dich ins Plié, als ob du dich in dein schlecht ausgehobenes Grab pressen wolltest, du beugst dich vor, als ob du vor Wahnsinn in Ohnmacht fällst, die letzten Tropfen Leben aus deinem Leib wringst.

Zapple nicht so bei den drei schnellen! Und dann Cloche, Cloche, Cloche. Du bist ein Clochard, ein Obdachloser, ein abgerissener Herumtreiber, ein kraftloses Bündelchen Stroh. Schönheit im Leiden. Du hältst alles aus, Ballett Blanc ist das Schönste auf der Welt, ob in Giselle oder im Schwanensee. Der Auftritt der Wilis, der jungen Frauen, die vor ihrer Hochzeit gestorben waren, in weißen langen durchsichtigen Schleiern. Die Brechtgardine ist noch zugezogen, du kannst sie durch den weißen Nebel sehen. Sie sind wie Geister, wie ein Windhauch, wie das von Schwänen gerupfte Federkleid, ihre Schritte ganz leise, weil sie den Boden nicht berühren. Myrtha ist ihre Königin. Die Königin der Willis. Rond de jambe par terre. Alles dreht sich im Kreis, alles wiederholt sich hundert Mal, die tägliche Routine, jeden Tag das Gleiche, Rond de jambe en l’air.

Beinkreise erst vom Knie ab, der Arm friert in der zweiten Position fest, wie du versuchst, dich gegen die Luft zu lehnen, Beinkreise rückwärts, alles hundert Mal, tausend Mal. Die mechanische Bewegung eines Mixers, ist es dicker Pudding oder vielleicht eine französische Terrine? Battement frappé. Du klopfst das Fleisch deiner knochigen Knöchel. Flex und Point, wie Charlie Chaplin, der sein schmutziges Hosenbein, das er sich von der Spritztour mit dem Moped geholt hat, mit dem anderen Bein sauber machen will. Der Ölfleck geht nicht raus, zwanzig Jahre deiner Karriere lassen sich nicht ausreiben. Du fängst mit zehn an, endest mit dreißig. Wieviel Zeit bleibt dir noch?

Die weißen Heldinnen opfern sich immer der Liebe wegen. Und dafür müssen sie leiden. Sie leider gerne und oft, immer wegen der Männer, niemals wegen der eigenen Ambitionen oder für den eigenen Vorteil. Es sind wunderbare Opfer, ihr Tod ist anmutig, zart, unumgänglich, immer auf die Musik abgestimmt, überwältigend und geschieht unter tosendem Beifall. Jetzt kommt das Adagio, der Gipfel der Eleganz und des Anspruchs. Jetzt nur noch Arbeitslager, das Märtyrerrad mitten in der Wüste, das Pferdefuhrwerk voller Gold, welches du anstatt des Pferdes ziehst. Giselle ist schon lange tot.

 

TAGEBUCHEINTRAG:

 

Natürlich muss unser Stockwerk im Internat von den anderen durch Gitterstäbe getrennt sein. Angeblich sin

d wir so vor Gefahren geschützt. Ja klar, aber sicher! Und dass unser Problemzimmer geradewegs über dem Erziehungsheim liegt, das schützt uns dann noch extra. Zum Glück ist die Graukopfige total naiv. Sie so: „Es riecht bei euch so gut nach Räucherstäbchen.“ Dabei war es Gras. Aus dem Chapeau Rouge, kein Selbstanbau aus dem Hinterhof-Gärtchen vom Land.

 

DIE GENE

 

Deine Gene werden geflissentlich erforscht, auf dass du eine erfolgreiche Zukunft hast. Sie geht durch viele Untersuchungen, du wirst der Sonderkommission vorgeführt, in der Profis sitzen, von vorne, von hinten, von unten, auf dem Boden liegend, auf einem Bein stehend, deine kleinen Hufen werden beschaut, ob sie in die richtige Form gewachsen sind und vor dem Publikum ästhetisch genug aussehen werden, die Profis verrenken deine Beine in verschiedene Richtungen, um zu sehen, bis wohin du es aushältst, sie messen und wiegen dich nackt und mit einem speziellen Gerät aus Metall entnehmen sie Unterhautfettgewebe.

Mit einer Eisenzange knipst der Arzt dir die Haut an den Schenkeln, am Po, am Bauch, an den Unterarmen und am Rücken zusammen und du schwörst bei deinem Blut, beim Gewicht und Größe deiner Eltern nicht zu schummeln. Und dann darfst du halt auch nicht hässlich sein, darfst kein sichtbare Narbe im Gesicht haben oder ein riesiges Muttermal, keine Hasenscharte, kein Schielen oder sonst irgendeine Ungleichmäßigkeit im Gesicht.

Balletttänzerinnen haben ein genau geformtes Gesicht, eine hohe Stirn, große Augen, einen langen Schwanenhals, keinen Busen, keinen Hintern oder Schenkel, dafür aber ultralange Beine, lange Arme und schöne lange Finger, und die einzige Sache, die groß sein muss – und je größer, desto besser – das ist der Fußspann. Ein hoher Spann ist das A und O deiner ganzen zukünftigen Karriere. Ein hoher Spann macht die Schönheit des Balletts aus, das ästhetische Erscheinungsbild deines Beins, die sogenannte „Linie“, das bedeutet Pluspunkte von Natur aus. Er entscheidet zwar nicht über die Anzahl der Pirouetten, dafür aber sorgt er für eine mentale Stabilität, hat Einfluss auf jede Abschlussprüfung, deine Besetzung bei Schulaufführungen, auf deine Stellung in der Klassenhierarchie, sogar auf die Beliebtheitsskala bei den Lehrern in den Hauptfächern (das gilt aber nicht für Tschechisch). Was tust du nicht alles für das richtige Aussehen?

Vor der Klassikstunde setzen oder stellen sich deine Kolleginnen, bei denen du nicht gerade auf der Blacklist stehst, die keine Schleimerinnen sind und die nicht mit dir konkurrieren (es bleiben also maximal zwei), auf deinen gebeugten Spann und du sagst: „Mach ruhig mehr, drück ordentlich runter.“ Und dann, als Dank dafür, setzt du dich auf ihren Spann, denn das ist das einzige Geheimrezept, um ihn elastischer zu machen. Der Rat von Frau Lehrerin Husová: feste mit den Fäusten draufhauen, und dann zeigt sie wie das geht.

Du sollst die Füße unter den Schrank oder das Piano schieben, wenn du zu Hause bist, und wenn du ein paar Mal täglich vor jeder Stunde den Spann bearbeitest bis er bricht, wird der Knochen locker und biegt sich nach und nach in die vorgeschriebene Form. Wenn der Spann das A und O ist, dann bildet die perfekte Figur die Unendlichkeit. Unendliche Anstrengung ein Leben lang, unendlich viel Arbeit, unendlich viel Konzentration, unendlich viel Stress und das unendliche Thema, dem du jeden Tag auf unterschiedliche Art entgegentrittst. Mit zehn rennst du, eingewickelt in Plastiktüten, darüber eine dicke Strumpfhose, darüber Stulpen, Sporthosen, zwei Pullis und Daunenjacke die Treppen des Internats rauf und runter, fünf Stockwerke hoch, fünf runter, bis deine Knie anfangen zu zittern und du Seitenstechen bekommst.

Mit elf hörst du auf, das Essen aus der Schul- und Internatskantine zu essen. Mit zwölf fängst du an, dieses Gerät zum Abnehmen zu benutzen, das im Gemeinschaftsraum des Internats steht: sieht aus wie eine Waage, hat aber so ein Band, das du dir um den Hintern, Rücken und Bauch schlingen kannst. Das Ding macht einen Höllenlärm und soll alles Fett aus dir treiben. Mit dreizehn fängst du an, in den Pausen zu rauchen, das vertreibt den Hunger, mit vierzehn probierst du zur Abwechslung mal verschiedene Diäten (du isst nur fettverbrennende Suppen), mit fünfzehn ernährst du dich nur von Obst und Müsliriegeln, mit sechzehn entdeckst du Abführmittel, mit siebzehn fängst du an zu kotzen und mit achtzehn isst du fast überhaupt nicht mehr, weil du auf die Bühne willst, und dort kommst du mit einer unvorteilhaften Figur sicher nicht hin.

Jede Woche am Montagmorgen ist Wiegezeit. Die ganze Klasse tritt vor dem Beginn der Stunde unter die Augen der Ballettmeisterin für Klassik auf die Waage, und die notiert sich eifrig, ob du ja nicht zugenommen hast, und falls doch, wirst du mit der Empfehlung „es zu regeln“ gerügt oder dir wird direkt damit gedroht, dass dich niemand hochheben wird, wenn du mit einem Partner tanzt, du bekommst eine schlechte Note oder eben Bühnenverbot. Nur am Busen ist es verdammt schwer abzunehmen, die Mädels binden ihn ab, um nicht „aufgeblasen“ oder „wie eine Pute“ auszusehen, wie Aneta. Man sollte ein zwei Nummern zu kleines Trikot anziehen, wobei manchmal jemand wegen Atemnot ohnmächtig wird. Die Katka meint, wenn sie alt ist und nicht mehr tanzen wird, will sie sich einen Busen machen lassen, solchen wie ihre Mama hat, weil sie es auch einmal erleben will, wie das ist, wenn ihr die Jungs in den Ausschnitt stieren.

 

TRIP INS NIRGENDWO

 

Mit zittriger Schrift, die du selbst nicht erkennst, schreibst du immer wieder deinen Namen. Damit du nicht vergisst, wer du bist. In diesem Augenblick verlierst du dich, du bist dir selbst bei deinem Namen nicht mehr sicher, die Schrift ist zerfallen und lässt sich nicht lesen, und so nimmst du mitten in der Nacht dein Handy und wählst eine beliebige Nummer aus der Kontaktliste, um zu hören, mit welchem Namen du angesprochen wirst. Das nennt man einen Bad Trip, und mit sechzehn Jahren ist es nicht gerade das Optimalste.

Jemand hat dich in einer Kellerwohnung eingesperrt, mit vergitterten Fenstern zum Bürgersteig, du kannst im Licht der Straßenlampe nur die Schatten der vorbeiziehenden Schuhsohlen erkennen, diese geben dir nach einer Ewigkeit Bescheid, dass da draußen noch eine Welt existiert, weil die da drinnen aufgehört hat zu existieren. Das Draußen ist in diesem Augenblick aber furchtbar gefährlich, es droht durch die Wände bis hierher zu sickern, in die unterirdische Zelle mit einem Bad voller schwarzer Witwen – in diesem Augenblick siehst du harmlose Weberknechte, die die nassen Wände wie vielbeinige Blumen zieren.

Alles ist in einem Augenblick zersplittert wie ein Tanzspiegel, durch den einmal Barbara gelaufen ist, als ob sie einen Ritualmord an dem Objekt begehen wollte, in das sie seit acht Jahren vier Mal täglich pflichtgemäß hineinglotzen musste. Dein Spiegelbild ritzen sie dir in die Haut ein, als würden sie dir ein Zeichen der Unzulänglichkeit tätowieren. Nie bist du gut genug, immer musst du dich mehr anstrengen, mehr arbeiten, du bist ein Nichts, na schau dich doch einmal an, siehst du dich? Du faules Stück! Dein Bild zerfällt in tausend kleine Stücke, dein Name ist unlesbar geworden, zerflossen im Programmheft in der Spalte „Es spielen“. Bad Trip. Die Identität zersplittert. Mein Gott, wer bin ich? Und was zum Teufel soll ich tun? Im Moment, jetzt, heute, morgen, in zehn Jahren?

Sie nehmen dir den Glauben, sie nehmen dir den Mut, das Selbstbewusstsein, die Persönlichkeit. Sie reduzieren dich auf ein ausführendes roboterhaftes Spielzeug. Wie alle anderen. In jeder Scherbe siehst du jeweils ein anderes Stück deiner selbst: ein mentales Waisenkind, das seine Eltern aus der Erinnerung radiert hat, damit es nicht so wehtut, ein perfekt trainiertes Zirkushündchen, das Kunststückchen vollführen kann, auf die alle klatschen, eine Verzweifelte, die immer noch Jungfrau ist, weil ihr die Vorstellung von einem nackten Männerkörper Entsetzen einjagt, ein intellektuelle Niete, die mit ihren sechzehn Jahren nicht Bruchrechnen kann, der Klassenclown, der immer in die Vollen geht, immer bis an die Schmerzgrenze, aber dann heimlich ins Kissen heult, oder die selbstgeißelnde, rebellierende Teenagerin, die die Absicht hat, sich mit dieser stiefmütterlichen Freiheit zu Tode zu stopfen.

Im letzten Splitter bist du die Auserwählte, die auf dem obersten Beleuchtungssteg stehen darf, knapp unter dem Dach der goldenen Kapelle, um sich von oben den zweiten und den vierten Akt des Schwanensees, die weißen Akte genannt, anzusehen. Die Tänzerinnen sehen von dort aus wie Untertassen, zitternd flattern sie herum in dieser ungeheuerlichen Tiefe, als würden sie mit dir das Hütchenspiel spielen, und du fühlst dich so überglücklich, dass du in dem Augenblick gar nicht daran denkst, dich noch ein bisschen vorzubeugen und absichtlich das Gleichgewicht zu verlieren. Du bist eine von ihnen und das Gleichgewicht verlierst du erst später, erst wenn du vor lauter Stress bei den Pirouetten immer dann hinfällst, wenn die anderen gucken. Jetzt bist du aber eingesperrt in einer Kellerwohnung und dass du dich selbst eingeschlossen hast, nachdem ihr aus dem Bohnický-Wald zurückgekehrt seid, weißt du gar nicht mehr, du zitterst im Fieber, das durch deinen ganzen Körper klappert und ein furchterregendes Bild deiner selbst und deines nicht existierenden Lebens zeichnet, als ob das der letzte Tag wäre, nach dem gar nichts mehr kommt. Verschwitzt, zu Tode erschrocken, ohne eine einzige Spur von einer eigenen Stimme, die bereits vor sechs Jahren verstummt ist und jetzt nur noch krächzt, rufst du in der Schule an.

Die Nummer des Sekretariats wählst du eine dreiviertel Stunde lang, weil du nicht in der Lage bist, es zusammenzurechnen, zu begreifen, und davor übst du noch die ganze Nacht eine glaubwürdige Ausrede. Oder war es nur eine Stunde? Die Zeit ist zusammen mit dir zerfallen und du flüsterst ins Telefon, du seist krank. Vielleicht glauben sie dir. Du glaubst dir selbst nicht, obgleich du krank bist. Du bist krank vor entsetzlicher Angst, innerem Schmerz, davor, wie du dich selbst bis kurz vorm Platzen spannst und streckst, wie du dich unheimlich schindest, weil das können die sehr gut, sie lassen dich die Drecksarbeit machen. Die totale Zerstörung deines Ichs ist bedingt durch die Vision der weißen, trippelnden Untertassen. Bisher darfst du nur die Statistin im dritten Akt spielen, die Beine versteckt unter einem bodenlangen Kleid und den wirklichen Helden vorschriftsmäßig anlächeln, der für die romantische Liebe kämpft, für ein Ideal, welches du nicht hast.

El-Es-Deh, flimmert dir vor den Augen. Du bist eine Gans, kein Schwan, weil du den Trip eingeworfen, weil du dich mit deiner Clique zerstritten und dich in einer geliehenen Wohnung eingeschlossen hast, wo du dich fürchtest, das Bad zu betreten. „Du nimmst einen Superman und wirst dich wie ein Superman fühlen.“ Du willst testen, ob es funktioniert. Laber Palaver. Bad Trip. Morgen aber wirst du sowieso in die Schule gehen und dich wieder vor den zusammengeklebten Spiegel stellen, in dem dein Bild auf kubistische Weise zerfällt, du wirst wie die anderen dein Bein heben und es zum Kopf ziehen, bist du zum Zittern anfängst, du wirst ein hohes Jeté springen, höher als die anderen, und dann eine Sekunde länger in der Luft hängen, damit der zufällig anwesende Fotograf es schafft den Auslöser zu drücken, und zweiunddreißig Fouetté drehen, wenn auch nach links und nicht so gut wie vor einer Weile die schwarze Odilie im dritten Akt. Du kannst auch gar nichts anderes. Du bist auch nichts anderes. Und wenn man dir das hier nimmt, nimmt man dir alles.

 

TAGEBUCHEINTRAG: (aus der Warteschlange fürs Telefon)

 

Heute habe ich die Nummer gegen Kummer gewählt. Ich wollte, dass die Pädagogik-Stunde entfällt. Dem Chlebeček hab ich gesagt, dass ich meine Eltern anrufen müsste. Er hat mich wie immer gelassen. Ich überlegte noch, wegen einer Bombe im Haus anzurufen, aber letztes Mal gab es einen Riesenterz deswegen und der Unterricht war trotzdem nicht ausgefallen. Dominika meinte, man könnte irgendwo die Sicherungen heraushauen. Das müssen wir dann morgen mal ausprobieren.

 

TAGEBUCHEINTRAG:

 

Was wir tun sollten: jeden Tag kehren, den Boden, Staub und Tisch wischen, Papierkorb leeren, jeden Mittwoch die Matratze hoch und die Bettdecken lüften, alle zwei Wochen Bettwäsche wechseln, jeden Abend die Noten melden, jeden Donnerstag Klavier üben, jeden Sonntag das unterschriebene Ausgangsheft von den Eltern mitbringen und ansonsten den Erzieherinnen folgen und die älteren Mädchen grüßen. Was wir meistens machen: wir streiten, fressen uns gegenseitig das Essen weg, also wenn es welches gibt, wir klettern an der Kante der Bücherwand im Gemeinschaftsraum entlang und werfen und gegenseitig runter, wir dehnen uns vor dem Spiegel die Beine und üben die klassischen Schrittfolgen, wir kochen uns in der Gemeinschaftsküche Spezialitäten aus chinesischen Tütensuppen, wir verstecken unsere Sachen, wir denken uns Streiche für die Schulmeisterinnen aus, wir rauchen auf dem Klo, wir ärgern den alten Mann an der Pforte und spionieren den älteren Mädchen hinterher und fragen sie über Sex aus.

 

TAGEBUCHEINTRAG:

 

Es ist zum Verrücktwerden. Zwei Lenkas, zwei Báras, zwei Katkas, zwei Sylvas, zum Glück wird eine mit einem i geschrieben. Es würde mich echt interessieren, ob man die als Pärchen genommen hat, also dass wenn eine ausfällt, die andere einspringt. Das Peinlichste aber ist, dass die Zwillinge in der Klasse sogar zusammensitzen und an der Stange hintereinanderstehen. Für die Lehrer ist das ein Vorteil, sie brauchen nur zu schreien: Bein ausdrehen, Lenka! und beide tun es doch glatt.

 

TAGEBUCHEINTRAG: (aus dem Internatsklo)

 

Jemand hat mir in der Nacht Zahnpasta in die Haare geschmiert! Diese dummen Kühe! Aneta zupft sich die Haare unter den Achseln mit einer Pinzette, das ist echt eklig! Ich muss mir überlegen, welches Modell ich morgen in die Schule anziehe, weil Eva die meisten meiner Sachen trägt. Ach ja, der Peter hat mir ein Eis gekauft und mir gestanden, dass er adoptiert ist. Wie furchtbar! Die Schulmeisterinnen wollten die Noten sehen und haben nicht gecheckt, dass die Unterschrift vom Paps gefälscht war. Die blöde Kuh hat uns niedergemacht, weil nicht aufgeräumt war. Dann kam die Graukopfige und hat uns mit spuckebeschmierten Finger gezeigt, dass die Flecken am Boden doch weggehen. Weil: „Man muss nur wollen.“ Wir haben aber keinen Bock.

 

DER TAG „D“

 

Du bist zehn Jahre alt und gerade jetzt beginnt deine strahlende Zukunft. Im Zimmer 203 sitzen vier weitere zehnjährige Mädchen mit Sporttaschen voller Zeugs. Soviel Hoffnung. Soviel Erwartungen. Ta da damm damm. Den Plüschteddy ins Regalfach überm Bett, ins Nachtkästchen die Näharbeit für die Schule, Pflaster, Franzbranntwein, Bandagen, Ersatzbänder, Seife in einer Plastikschale, Schminktäschchen, chinesische Tütensuppen und Müsliriegel ins Essensfach mit eigenem Schloss (so wurde es im Infoblatt empfohlen) auf dem Gang. Bei der Anmeldung bekommt ihr alle ein Bettüberzug und eine Decke in die Hand gedrückt, dann noch Essensmarken aus Papier fürs Abendessen, auf welches ihr binnen eines Monats verzichten werdet. Unten im Erdgeschoss windet sich schon schlangengleich die Telefon-Warteschlange. Der Telefonkartenautomat ist ständig überlastet, darüber ist ein Zettel aufgeklebt mit der Aufschrift: Gespräche sind auf max. 10 Minuten zu begrenzen.

Im ganzen Internat summt es wie im Bienenstock. Die Eltern, die ihre Töchter mit dem Auto gebracht hatten, winken unten vom Bürgersteig, sie drängen sich an der Pforte, wo dieser Perversling von Pförtner sitzt, der mit euch Gummitwist hüpften wird, oder sie unterschreiben Dokumente eine Etage höher im Sekretariat, wo sie die Verantwortung für ihre minderjährigen Kinder der kollektiven staatlichen Institution übergeben. Langsam füllst du deine Ausgänge und Wegfahrten im Abmeldeheft aus, das dein Leben von Montag bis Freitag kontrolliert, aber sicherlich nicht übers Wochenende, wo das Mädcheninternat geschlossen ist, es aber trotzdem Pflichtunterricht gibt.

Du beobachtest, ob eine deiner neuen Mitbewohnerinnen nicht vielleicht schnieft oder rot wird vor lauter Tränenunterdrücken. Ja, es werden gleich zwei rot. Das ist ein Zeichen von Schwäche, die voraussagt, wer es hier aushält oder in ein paar Monaten seine Sachen packt. Ein weiterer verlorener Traum, ein weiteres enttäuschtes verschissenes Seelchen. Ta da damm damm. Du kannst nicht verstehen, warum sie heult, es beginnt doch gerade das größte Abenteuer deines bisher recht kurzen Lebens, ein Abenteuer, sofern du durchhältst, den Cursor deiner Existenz völlig neu ausrichtest, deine Gedanken, deine Weltanschauung und vor allen Dingen deinen Körper, deine Persönlichkeit, kurzum dein ganzes Schicksal. Schon jetzt wirst du jemand ganz anderes.

 

ANLEITUNG ZUM ÜBERLEBEN

 

Vergiss das Sandmännchen mit den Gutenachtgeschichten und fang an, Tschaikowsky zu hören. Allmählich kostest du die Lebensumstände eines zukünftigen Künstlers. Solltest du deinen Monchichi mitgebracht haben, ist es mit deinem Ansehen im Rudel vorbei. Du bist auf einer Elite-Schule. Du musstest dafür drei Auswahlverfahren und eine ärztliche Untersuchung hinter dich bringen, damit sie dich nehmen. Deine Eltern mussten sogar lügen: sie wiegt und misst weniger, als sie tatsächlich wiegt und misst. Große Balletttänzerinnen – tote Balletttänzerinnen (übrigens wird einer deiner zukünftigen Lehrerinnen, die einzige Große, erfolgreich aus dem Fenster springen). Und vor allem darfst du nicht dick werden. Das heißt von nun an keine Süßigkeiten mehr, keine Knödel, keine Kochexzesse mehr von Mutti, auch nicht am Wochenende. Bis zu deinem neunten Lebensjahr hattest du im jungfräulichen Paradies gelebt.

Ende des Kuschelkurses. Jetzt kommt die Realität. Jetzt heißt es an sich arbeiten. Jetzt gehörst du zur Elite. Prüfe die Qualität der rosa Strumpfhosen und die Durchsichtigkeit der weißen Tutus. Kaufe deine Strümpfe nur bei Grishka, wo die grauhaarige Russin arbeitet, die dich bei der Anprobe in den Po zwickt, damit du das auseinanderschmelzende Fleisch anspannst. Und die weißen Bodys solltest du dir unterfüttern lassen, du bist doch schon zehn, sonst scheinen spätestens in zwei Jahren deine sprießenden Brüste durch, für die du dich – wenn sie klein sind – furchtbar schämen wirst, und wenn sie groß sind, wirst du dich umso mehr schämen und sie mit Bändern abbinden, bis du aus Sauerstoffmangel in Ohnmacht fällst. Und denk daran, dass du eine Damenbinde in diesem weißen Trikot garantiert nicht verbergen kannst. Zum Glück macht die Menstruation noch ein paar Jahre einen großen Bogen um dich. So musst du auf dem Klo wenigstens nicht wie Aneta schreien, denn es tut unglaublich weh, wenn sie sich den vorgeschriebenen Tampon in die Vagina stopft.

Nächste Regel: Keine Härchen. Nirgends. Kri Kri rasiert sich mit elf Jahren neben allem anderen auch die Arme, weil ihr die Ballettmeisterin in der Klassikstunde gesagt hat, sie sähe aus wie ein Affe. Die wortwörtliche Ansage der russischen Professorin mit dem tschechischen Namen lautet: „Khaiiin Gestruuup!“

Diese ganzen verdienten Künstler des Volkes, die ihr Professoren zu nennen habt, obwohl nur der Mathematik-Lehrer eine Professur in seinem Fach hat, haben in Moskau oder Leningrad studiert. Und die besten sprechen immer Russisch. Das ist ein Zeichen der Ballett-Elite. Das russische Ballett ist das beste. Wenn die Sergejewna von der Moskauer Ballettschule zur Inspektion in die Schule kommt, mal nach dem Rechten sehen, kontrollieren, ob der Lehrplan erfüllt wird und so, scharwenzeln alle sogenannten „Professoren“ wie geile Böcke um sie herum, schreien euch doppelt so oft an als sonst, ihr müsst sogar die weichen Spitzenschuhe ausziehen und sie „ausweiden“, von jetzt an sind Spitzenschuhe ohne Zehenschoner für die Klassikstunde Pflicht, weil es in Moskau so üblich ist.

Die Spitzenschuhe ohne Zehenschoner werden nicht aus Rücksicht auf die Lebensumstände hergestellt, als ob sie dann wiederverwendbar wären und der Verbrauch der Ballettschuhe zurückginge, das nun echt nicht, sei doch nicht so naiv. Es ist eine weitere Form der Quälerei, wenn man aus den am wenigsten bequemen Tanzschuhen noch unbequemere erschafft. Du schlägst mit dem Hammer die feste Spitze heraus, dann reißt du noch die innere Sohle aus Holz weg und verbringst weitere zehn Zusatzstunden in der Woche in diesen Schuhen, auch wenn du darin nicht ordentlich das Gleichgewicht halten kannst, weder auf beiden, geschweige denn auf einem Bein. So werdet ihr gestählt.

„Eure Beine werden euch ernähren“, betont die Ballettmeisterin in der Klassikstunde immer. „Deine Beine sollten dich ernähren“, sagt seufzend deine Mutter (die sich erhofft hatte, dass du mal Ärztin wirst), wenn sie dir heilende Salben kauft, Pflaster und Desinfektionsmittel für blutige Zehen, Voltaren Gel für gezerrte Sehnen, Paracetamol und andere schmerzstillende Sachen sowie Kollagenpräparate für schmerzende Gelenke.

Du wirst Expertin für Mittelchen gegen Schmerzen, Entzündungen, Muskelzerrungen, eingewachsene oder ganz heruntergewetzte Nägel, den Hallux Valgus, Warzen, die du dir garantiert aus den Gemeinschaftsduschen einfängst, wo du deine Pausen nach jeder Tanzstunde verbringst (dort kann man super heulen), sodass du dir zu Weihnachten einen Rabattgutschein für die Apotheke wünschst. Hast du alles mitgeschrieben?

 

Aus dem Tschechischen von Hana Hadas