KAPITEL 1

 

Es war sechs Uhr morgens, als sich die Haustür öffnete und der Mantel auf die Straße trat. Sein Schal flatterte ihm hinterher. Der Mantel hatte es eilig. Er lief die Straße entlang und machte im Gehen seine Knöpfe zu. Es war kalt, Schnee fiel, und es dauerte nicht lange, da

hatte der Mantel ganz weiße Schultern. Als er um eine Straßenecke bog, rutschte er fast aus. Er lief vorbei an den kleinen Häusern und an einem Zaun, hinter dem ein verschneiter Garten lag. Er kam auch an einer Straßenlaterne vorbei, überquerte einen Zebrastreifen und blieb schließlich an einer Bushaltestellen stehen. Der Mantel schaute sich um. Die Straße war leer. Er zitterte vor Kälte und stellte seinen Kragen auf. Dann lief er die Stiege hinunter, in die Unterführung neben der Haltestelle. Er war noch nicht mal von der letzten Stufe gesprungen, da befand er sich auch schon in einem dunklen Gang, dessen Wände voller Graffiti waren. Als er das Ende der Unterführung erreicht hatte, blieb er stehen. Links? Rechts? Er war sich nicht sicher und beschloss, rechts abzubiegen. Er lief die Stiege nach oben und atmete auf. Das war der richtige Weg. Und da kam auch schon der Bus. Der Mantel stieg ein und setzte sich in den hinteren Teil des Busses. Draußen war es noch dunkel. Einen Moment lang schaute er aus dem Fenster. Dan rollte er sich zusammen und schlief ein.

Er wurde erst wieder wach, als er eine leise Stimme hörte: „Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte ein bisschen rutschen?“

Der Mantel zuckte und merkte, dass sein Ärmel auf einer kleinen roten Handtasche lag. Schnell zog er ihn weg.

„Danke“, lächelte die Tasche und schüttelte einen ihrer Henkel.

Der Mantel genierte sich. Er vermutete, dass er sogar rot wurde und schaute noch ein paar Mal auf die Tasche, um sicherzustellen, dass sie in Ordnung war.

Die Tasche schloss und öffnete sich wieder. Das machte sie eher aus Gewohnheit. Nötig war es nicht. Dann blieb sie reglos liegen. Sie schaute geradeaus. An der nächsten Haltestelle stieg der Mantel aus.

 

 

KAPITEL 2

 

Der Bus fuhr davon. Der Mantel blieb an der Haltestelle stehen und atmete tief ein und aus. „Ich hätte mich entschuldigen sollen. Warum habe ich mich nicht entschuldigt? Einfach meinen Ärmel auf jemanden legen, und sich nicht einmal entschuldigen …! Mir fällt alles immer erst dann ein, wenn es schon zu spät ist!“, seufzte der Mantel und machte sich auf den Weg, bergauf, die Straße entlang. Er passte gut auf, wo er hintrat, denn der Gehsteig war sehr rutschig. An der Eingangstür zu einem grauen Haus blieb er stehen. Er klopfte sich den Schnee von den Schultern. Er wusste, es würde wehtun, und wusste auch, dass man das nicht ändern konnte. Dann drückte der Mantel auf die Klingel und wartete. „Ja bitte?“, meldete sich jemand durch die Anlage.

„Ich bin’s, der Mantel“, antwortete er schwerfällig.

Aus dem Lautsprecher hörte man dieselbe Stimme freundlich sagen: „Kommen Sie herein.“ Der Türöffner summte und der Mantel ging ins Haus.

Kurz überlegte er, ob er die Stiegen nehmen soll, aber dann entschied er sich doch für den Aufzug. Er drückte einen Knopf und wartete, bis die Kabine da war, dann stieg er ein. Drinnen drückte er noch einen Knopf und auf dem Weg in den fünften Stock betrachtete er sich missmutig im Spiegel. Er versuchte, seinen Kragen geradezurichten, doch fiel der sofort wieder formlos auf die Schultern. Im fünften Stockwerk blieb der Aufzug stehen und der Mantel stieg aus.

„Na, Sie sind aber zugerichtet!“, hörte man die Stimme in der Tür, und im nächsten Moment schlüpfte der Mantel auch schon hinein und zog sich aus.

„Hier fehlt ein Knopf! Haben Sie ihn aufgehoben?“

„Nein.“

„Und diese Tasche hat ein Loch … Da sind Ihnen bestimmt Sachen verloren gegangen.“

„Ja, allerdings.“

„Und hier ist ein Riss. Ist der von einer Rauferei?“

„Nein.“

„Und diese Flecken da … Sind die vom Essen?“

„Vermutlich.“

„Na gut, kommen Sie weiter, ich schaue mir das an.“

„Wird es auch nicht wehtun?“

„Na, das kann ich ihnen nicht versprechen“, meinte die Stimme freundlich. Es tat weh. Der Mantel krümmte sich, wollte davonlaufen, zuckte zusammen, seufzte und bekam eine Gänsehaut am Rücken. Einmal fauchte er auch.

„Na, na“, tadelten ihn die Finger und zeigten auf die Tasche: „Die müssen wir auf links drehen. Das fühlt sich komisch an, oder? Aber anders geht das leider nicht.“ „Hm …“, stieß der Mantel heraus und bemühte sich, nur auf die Zimmerdecke zu schauen, wo ein leichter Wind den Kronleuchter etwas hin und her bewegte. „Gleich bin ich fertig, gleich ist es soweit, zucken Sie nicht. Sie brauchen keine Angst zu haben …“

Dem Mantel kam es vor, als dauerte das schon eine Ewigkeit.

„So. Und jetzt schauen Sie sich mal in den Spiegel. Was meinen Sie? Sie sehen gut aus, oder? Wie neu, oder?“

Der Mantel lachte nervös auf. „Wie viel schulde ich Ihnen?“, fragte er. „Warten Sie, ich schreibe das mal zusammen … also das macht 358, dazu die Knöpfe, 130, und der Reißverschluss, und einmal Ausbürsten … Bügeln möchten Sie nicht?“

„Nein, nein“, wehrte sich der Mantel. „Ich möchte natürlich aussehen.“ „Na gut. Insgesamt macht das 536. Und das ist alles.“

„Vielen Dank“, der Mantel verbeugte sich ein klein wenig, aus Höflichkeit, und war froh, dass alles vorbei war.

„Machen Sie‘s gut!“

„Das werde ich!“

„Und kommen Sie wieder! Nächstes Mal aber lieber etwas früher, damit wir nicht gleich so viel machen müssen!“

„Ja, ja, ich werde daran denken!“ Der Mantel ging durch die Tür ins Stiegenhaus. Draußen vor den Fenstern schien die Sonne. Der Mantel beschloss, die Stiege hinunterzulaufen, und pfiff dabei.

 

 

KAPITEL 3

 

Die Tasche war sichtlich erleichtert, dass der Mantel ausgestiegen war. Sie öffnete sich wieder und lugte in sich hinein. Sie kontrollierte das Stück Schokolade, die Trillerpfeife, Stift und Notizbuch, ihre Geldbörse und die Semmerl – zwei ganze und ein halbes. Alles war in Ordnung.

Da tauchte am Rand der Tasche eine kleine rosarote Pfote auf, und dann noch eine, und dann auch noch eine Schnauze.

„Rein mit dir!“, sagte die Tasche vorsichtig und sah sich im Bus um. Aber niemand hatte etwas bemerkt. Nur der Fahrer schaute in den Rückspiegel, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Er lächelte die Tasche an. Dann schaltete er das Radio ein. Es war gerade acht Uhr. Die Tasche wippte, der Bus fuhr durch die Stadt. Draußen wurde es langsam hell. An der Endstation stieg die Tasche aus. Während sie auf den nächsten Bus wartete, fütterte sie die Tauben und schaute ihnen beim Essen zu. Es machte ihr Spaß, mitanzusehen, wie sie heranflogen. Und dass sich manch eine mutige Tauben sogar auf sie draufsetzte. Vögel hatte sie sehr gern. Es dauerte nicht lange, da kam auch schon der nächste Bus. Die Tauben flogen davon. Durch das Busfenster beobachtete sie dann, wie sie noch mal zurückkamen und sich die restlichen Krumen holten. Sie packte die übriggebliebenen Semmerl wieder ein und blieb ruhig sitzen. Am Konzerthaus stieg sie aus. Sie lief über den Platz, bog in die Karpfengasse ein und an der nächsten Ecke in die Valentinsgasse. Dann blieb sie vor der Stadtbücherei stehen. Sie gab beide Henkel nach links und lief die Stiege hinauf, ging durch eine Tür, vorbei an der Entlehnung und weiter zu den Regalen mit den Büchern. Dort setzte sie sich. Sie atmete auf. Das war vielleicht anstrengend! Kaum saß sie, griff sie auch schon nach einem Buch, das im dritten Regal von rechts stand, und begann zu lesen:

Geistergeschichten

 

 

KAPITEL 17

 

Sie lag auf dem Gehsteig und war ganz durchnässt. Eine kleine, mit Stickereien verzierte Pompadour-Tasche. Ihre Eigentümerin war schon um die Ecke gebogen. Das Klacken der Absätze hallte durch die Straßen. Manchmal war auch ein Plätschern zu hören, weil die Frau nicht sehr vorsichtig war und in eine Pfütze trat.

Es regnete. Die Frau hielt sich einen Regenschirm über den Kopf, und nicht einmal im Traum wäre ihr eingefallen, dass sie gerade etwas verloren hatte. Die Pompadour-Tasche hatte für einen Moment das Bewusstsein verloren. Es war ein ziemlich starker Aufprall. Als die Tasche

wieder zu sich kam, merkte sie, dass sie ganz nass war. Sie lag flach auf dem Gehsteig und dachte, es wäre nun aus und vorbei mit ihr. Der Regen hörte nicht auf, sie wurde immer nasser und schwerer. Die kleine Geldbörse mit den Münzen in ihrem Inneren drückte die Pompadour-Tasche zu Boden. Es regnete so stark, dass sich die Erde von dem Rasenstück neben dem Gehsteig löste, sich mit dem Regenwasser vermischte und über die Pompadour Tasche strömte. Allmählich verschwanden ihre Farben. Dann lief ein Hund vorbei. Er blieb stehen, schnüffelte an der Tasche, hob sie mit der Schnauze etwas auf, und fast wäre der rote Lippenstift herausgefallen. Dann lief der Hund weiter, denn die Tasche war nicht essbar.

„Zum Glück lag die Pompadour-Tasche nicht mitten auf der Straße!“, dachte sich die Tasche. „Das hätte sie zerstört. Ein Auto hätte sie überfahren können und alles zerquetscht! Oder der Hund hätte sie zwischen die Zähne nehmen können! Das wäre schlimm gewesen. Hoffentlich rutscht sie nicht in den Kanal, wenn ein starker Strom sie mitreißt“, dachte die Tasche und schaute vor sich hin. Dann las sie weiter.

Am Ende der Straße war jemand. Er ging auf dem Gehsteig dahin, sang etwas und schwankte von links nach rechts.

„Was ist denn das hier …?“, murmelte er, als er zur Pompadour-Tasche kam. Er bückte sich und hob sie auf. „Ah, was ist denn das Kleines, sowas Schönes!?“ Dann öffnete er die Tasche. Das durchnässte weiße Taschentuch warf er gleich weg, der Lippenstift fiel zu Boden und rollte davon, und der Spiegel fiel auch zu Boden und zerbrach. Er strich sich durch die nassen Haare und trat die Scherben beiseite. Er durchsuchte die Tasche noch einmal, dieses Mal ertastete er die Geldbörse mit den Münzen.

Ein schlitzohriges Lächeln erschien in seinem Gesicht. Er schüttelte alle Münzen heraus und stecke sie in seine Hosentasche, warf die Pompadour-Tasche weg und ging fröhlich weiter. Er sagte: „So ein Glück, so ein guter Tag! Stimmt das oder träum ich nur, gerade wurde ich reich!“

Die Tasche seufzte und schüttelte sich vor Entsetzen. „Das ist ja schrecklich!“ Etwas nervös klackte sie mit ihrer Schnalle und las weiter. Die Tasche verschlang eine Seite nach der anderen, bis es dunkel wurde und sie plötzlich von der Stimme der Bibliothekarin beim Lesen unterbrochen wurde: „Wir schließen bald.“

Die Tasche dehnte sich etwas, steckte das Buch zurück ins dritte Regal von rechts und holte sich noch ein paar Bücher für Zuhause: Wie leben Nagetiere?, Stickarbeiten aus alten Zeiten, Vogelgesänge, Schwarze Löcher und Weiße Zwerge, Das Geheimnis der Nacht und Frühlingsblüte. Dann ging sie Richtung Ausgang.

„Das ist ja ganz schön viel, das wird schwer“, nickte ihr die Bibliothekarin zu, aber es war nicht klar, ob sie dabei die Tasche anschaute, oder die Dame, die hinter ihr stand. „Das macht nichts“, flüsterte die Handtasche und lächelte. Dabei bekam sie Grübchen. Sie öffnete die Schnalle und gab ein Buch nach dem anderen hinein. Dann machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

 

 

KAPITEL 4

 

Draußen fiel Schnee, er war feucht und schwer und es dauerte nicht lange, da war das Leder der Tasche auch schon ganz nass. Sie schnaufte vor Anstrengung. Auf dem Gehsteig war es ganz schön rutschig. Auf einmal zog es die Tasche auseinander, Länge mal Breite, ihre Schnalle öffnete sich und alle Bücher fielen auf den Gehsteig. Die neugierige Schnauze guckte heraus und versteckte sich gleich wieder. Die Tasche versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. „Hoffentlich habe ich mir nichts zerquetscht!“, dachte die Tasche besorgt. Dann hörte sie auf einmal von oben eine Stimme: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Die Stimme gehörte dem Mantel. Er nahm sie vorsichtig an den Henkeln und brachte die Tasche wieder ins Gleichgewicht.

„Danke“, seufzte sie.

Der Mantel sammelte alle Bücher ein, die verstreut auf dem Gehsteig lagen, und die Tasche verstaute sie. Da war auf einmal ein Piepsen aus ihrem Inneren zu hören. Die Handtasche wurde für einen Augenblick still und machte dann etwas vorsichtiger weiter.

„Verstecken Sie sich, solange es schneit“, sagt der Mantel und deckte sie zu, und die Tasche nahm sein Angebot dankbar an. Unter ihm war es schön warm und ganz dunkel. „Wir gehen zur Haltestelle, oder?“, versicherte sie sich.

„Ja, zur Haltestelle“, bestätigte er.

„Und es ist nicht mehr weit, oder?“

„Nur noch ein Stückchen.“

Sie schaute auf den Gehsteig und auf die Pflastersteine. Rosa, grau, rosa grau … Sie hopste ein bisschen. Auf den Mantel fiel Schnee. Die beiden gingen weiter, ohne ein Wort zu sagen. Dann blieb der Mantel stehen. Die Handtasche guckte unter dem Mantel hervor und sah den Bus, der gerade heranfuhr.

„Was für ein Bus ist das?“, fragte sie ihn.

„Das ist der 333er.“

„Das ist meiner.“ Die Tasche kam unter dem Mantel hervor. „Danke schön!“ „Gern geschehen“, der Mantel verbeugte sich etwas ungelenk und schaute zu, wie die Tasche in den Bus kletterte und sich auf einen freien Platz setzte.

„Das war sehr freundlich von Ihnen!“, rief sie dem Mantel zu und winkte ihm freundlich zum Abschied.

Der Bus fuhr los.

Erst in diesem Moment fiel dem Mantel ein: er hätte auch einsteigen können! Warum war er nicht mitgefahren? „Das ist doch nicht zu fassen! Immer fällt mir alles erst dann ein, wenn es schon zu spät ist“, dachte er. Die Schneeflocken waren inzwischen zu Regentropfen geworden und ihm war kalt am Hals. Er stellte sich den Kragen auf. Mit dem Ärmel wischte er sich die Regentropfen vom Revers. Eigentlich wollte er dem Bus hinterherlaufen, doch stattdessen knöpfte er sich bis nach oben zu und zuckte mit den Schultern. Dann ging er zum Fluss.

Auf der Brücke blieb er stehen und schaute hinab zu den Schwänen, die trotz des Schnees ganz gemütlich im Wasser herumschwammen. Der Mantel bemerkte auch ein kleines Boot mit einem Fischer. „Der hat ja einen ganz ähnlichen Mantel“, sagte er zu sich selbst und lächelte. Der Fischer drehte sich um und schaute hinauf zur Brücke, als hätte er den Mantel gehört. Doch dann zog etwas an seiner Angel und er drehte sich wieder weg. Der Fischer stand auf, sicherte den Haken und holte die Angel ein. Er hatte einen Fisch gefangen. Der Fischer nahm den Fisch vom Haken und legte ihn ins Boot. Dann schaute er noch einmal hinauf zur Brücke und winkte fröhlich. Der Mantel winkte zurück und ging dann weiter über die Brücke ans andere Ufer. Am Ende der Brücke lief er eine Stiege hinunter und befand sich am Kai. Der Regen ließ nach und der Mantel setzte sich auf eine Bank, was er aber gleich darauf bereute. Er wurde nämlich ganz nass. „Naja, was soll‘s“, meinte er nur und blieb sitzen, rollte sich zusammen und schlief ein.

Der Fischer war gerade dabei, mit seinem Boot am Ufer anzulegen. Kaum hatte er es aus dem Wasser gezogen, bemerkte er den zusammengerollten Mantel, der noch auf der Bank lag, und kletterte über die schlammige Böschung nach oben. „Der ist aber schön“, meinte er. „Dich werde ich mir mitnehmen, Freundchen!“

Der Mantel wachte auf und war ganz entsetzt. Was hatte er sich da eingebrockt, warum war er nicht vorsichtiger gewesen! Er wollte wegrutschen, aber da hatte der Fischer seinen alten Regenmantel auch schon ausgezogen und probierte den Mantel an.

„Er sitzt wie angegossen! Das nenne ich zweifache Beute!“ Der Fischer freute sich. „Ach, nein, nein!“, stöhnte der Mantel und gab alles, um den Fischer zu kratzen und zu beißen, aber es half nicht viel. Der Fischer hatte den Mantel bereits zugeknöpft und ging zurück zum Boot, um es festzubinden, und holte den Fisch heraus.

 

 

KAPITEL 5

 

Die Tasche fuhr mit dem Bus davon und schaute aus dem Fenster. Draußen regnete es. Sie lächelte. Sie freute sich auf die Bücher, die sie aus der Bücherei mitgenommen hatte. Vorsichtig öffnete sie sich und nahm die Schokolade aus dem Seitenfach. Sie machte die Verpackung auf und biss ein Stückchen ab. In dem Moment tauchte die kleine rosarote Schnauze am Rand auf. „Ich weiß, dass du auch da bist“, sagte die Handtasche und schämte sich etwas. Sie brach ein Stück Schokolade ab und hielt es vor die Schnauze. Zufrieden sang sie vor sich hin: „Ich hatte eine Tanzmaus, sie tanze mir durchs Haus, sie war schwarz und weiß, und alle liebten sie heiß …“ Der Busfahrer hörte das und drehte sich um: „Oh, das hab ich aber schon lange nicht mehr gehört, dieses Lied.“

Und er schloss sich dem Lied an, das die Tasche angestimmt hatte, und beide sangen. Die Leute im Bus lachten. Und die Leute, die ausstiegen, hörten das Lied in Gedanken weiter, und die neu Zugestiegenen schüttelten den Kopf. Ein singender Busfahrer! Die Handtasche bemerkte niemand. Fast hätte sie vergessen, auszusteigen, so großen Spaß machte ihr das Singen.

„Auf Wiedersehen, hat mich gefreut“, flüsterte sie beim Aussteigen und sprang auf den Gehsteig.

„Auf Wiedersehen“, sagte der Fahrer und der Bus fuhr davon.

Die Tasche schleppte sich nach Hause. Sie wollte sich noch etwas zum Essen kaufen, aber sie war so schwer, dass sie diese Idee gleich wieder verwarf. Nur ein Joghurt, oder ein Semmerl, oder Körner, für die kleine Maus, dachte sie, und immer wieder verwarf sie den Gedanken. „Das halten wir aus, wir sind ja nicht aus Zucker. Gugelhupf mit Zuckerglasur! Ach, wie gern hätt ich jetzt ein Stück! Oder einen Lutscher?“

Sie blieb stehen. Für einen Lutscher habe ich bestimmt noch Platz.

Und so geschah es, dass die Tasche in den kleinen Laden am Ende der Straße ging. Sie fand sofort einen Lutscher. Er war klein und rot. Sie nahm auch noch einen Sesamriegel mit, für die kleine Maus. Beim Zahlen passierte dann etwas Schreckliches. Unabsichtlich verhakte sich die Tasche in einem Einkaufsnetz, das einer älteren Dame gehörte. Die Dame war soeben mit dem Einkaufen fertig geworden und ging hinaus auf die Straße. Die Tasche schaffte es gerade noch, sich zu schließen, und wurde von der älteren Dame mitgeschliffen und auf die Straße gezogen. Es tat ganz schön weh, als sie auf das Pflaster fiel. Die ältere Dame bemerkte überhaupt nichts, sie wunderte sich nur, dass der Einkauf heute so schwer

war, wo sie doch nur ein halbes Kilo Brot, ein Päckchen Butter und einen Liter Milch gekauft hatte. Die Tasche bündelte all ihre Kräfte, um nicht laut zu schreien, und sich dadurch bemerkbar zu machen, aber es kostete sie große Überwindung. Zum Glück wohnte die ältere Dame nicht weit weg. Sie ging in das Haus, in dem sie wohnte, zusammen mit der Tasche, die sich im Einkaufsnetz verhakt hatte, und stieg in den Aufzug. Fast wurde die Tasche von der Tür des Aufzugs zerquetscht, als diese zuging.

Ach, warum habe ich bloß meine Brille vergessen. Die Dame ärgerte sich über sich selbst. Fast wäre mein Einkauf in der Aufzugstür stecken geblieben! Sie fuhr hinauf in den fünften Stock. Die Tasche wurde fast ohnmächtig. Nicht nur, dass sie etwas verbeult war, weil sie fast von der Aufzugstür zerquetscht wurde, sie war auch verzweifelt. „Von hier

komme ich wohl nicht so leicht wieder weg“, stöhnte sie in Gedanken und war unglücklich. Im fünften Stock stieg sie aus.

Die Dame steckte den Schlüssel ins Schloss und ging in die Wohnung hinein. „Liebling? Ich bin wieder da!“, rief sie ihrem Mann zu und schloss die Tür hinter sich.

 

 

KAPITEL 6

 

Langsam wurde es dunkel. Der Fischer hatte sich den Mantel über die Schulter gehängt. Unter dem Arm trug er den Fisch, den er in Zeitungspapier eingewickelt hatte. Gut, dass er schon tot war, darum hatte sich der Fischer gekümmert, bevor er aufgebrochen war. Der Mantel zappelte ein bisschen, während sein Entführer den Fluss entlang spazierte, einmal verfing er sich sogar in einem Hagebuttenstrauch und der Fischer zuckte zusammen, als er weitergehen wollte.

„Na, da haben wir den Spaß. Schon wieder habe ich mir eine Tasche eingerissen“, dachte der Mantel.

Der Fischer ging auf ein Gasthaus zu. Drinnen angekommen hängte er den Mantel an die Garderobe und setzte sich an einen Tisch. Der Mantel war erleichtert und atmete auf. Er war es nicht gewöhnt, dass jemand ihn trug. Er hing in der Garderobe, bewegte sich nicht, sah sich um und wartete auf einen günstigen Moment, in dem er vom Haken springen, durch die Tür huschen und draußen in der Dunkelheit verschwinden konnte.

Der Fischer bestellte sich ein Bier und eine Saure Wurst. Neben ihm saßen weitere Männer, auch sie tranken Bier und aßen Saure Wurst, oder Presswurst mit Zwiebel, oder Eingelegten Camembert, und sprachen über dies und das.

„Na, das ist kein Spaß, diese kleinen Organismen, diese Viren, die sind ganz unsichtbar, und wenn sie dich erwischen, dann hast du Pech.“

„Warum Pech?“

„Naja, die greifen deine Zellen an, und du bekommst Fieber und Husten, und alle Gelenke tun dir weh, na und wenn es diesen Viren in deinem Körper gefällt und du nicht stark genug bist, dann wirst du bald nicht mehr gut atmen können, und dann musst du ins Krankenhaus und es kann passieren, dass du daran stirbst.“

„Sterben? Na hoffentlich nicht.“

„Ich bitte dich. Du übertreibst immer.“

„Ich würde das schaffen, ich bin stark genug, um gegen diese Biester anzukommen. Ich habe ein gutes …, wie heißt das? Immunsystem!“

Die Männer tranken Bier und einen Moment lang war es still.

Der Mantel erinnerte sich daran, dass er einmal Motten bekommen hatte. Hui, war das schrecklich! Sie fraßen und fraßen und hörten einfach nicht auf. Zuerst versuchte er sie einzufangen, dann versuchte er es mit Lüften, doch das alles half kaum etwas. Bei einem Spaziergang fand er dann eine Stelle, wo Lavendel wuchs. Was für ein Glück! Ein Beet auf einem Platz unter einer Statue des Heiligen Georg. Der Mantel legte sich unter die Statue und am nächsten Morgen war es ganz ruhig geworden. Alle Motten waren verschwunden! Sie mögen keinen Lavendel. Doch das war Glück. Ein Zufall. Wäre der Lavendel nicht gewesen, wäre der Mantel mittlerweile schon ganz zernagt und hätte so viele Löcher wie ein Sieb, oder er wäre gar nicht mehr auf der Welt!

Die Männer schwiegen und schauten fern.

„Ab morgen müssen alle Gasthäuser geschlossen bleiben, damit sich der Virus nicht weiter ausbreiten kann“, sagte der Moderator im Fernsehen.

„Ohjeohje!“ Der Wirt schüttelte den Köpf.

„Alle Gasthäuser?“, fragte einer der Gäste. „Auch das unsere?“

„Wenn es heißt alle, dann bestimmt auch das unsere“, meinte der Fischer.

Die Männer schauten einander an und tranken ihr Bier aus. Dann stand einer nach dem anderen auf, um nach Hause zu gehen. Der Wirt sammelte die Gläser ein und schaute finster drein. Nach einem Weilchen erhob sich auch der Fischer.

„Möchten Sie nicht vielleicht einen Fisch?“, fragte er den Wirt.

„Aber nein“, entgegnete dieser traurig.

„Dann bis zum nächsten Mal“, sagte der Fischer zum Abschied, und der Wirt murmelte: „Das nächste Mal … wer weiß, wann das wohl sein wird!“

Der Fischer öffnete die Tür und ging auf die Straße. Er trug den Fisch unter dem Arm und hatte den Blick zu Boden gerichtet. Den Mantel hatte er im Gasthaus vergessen.

Kapitel 7

Es wurde Nacht. Im Vorzimmer war es stockdunkel. Im Zimmer nebenan lief der Fernseher. Die Handtasche öffnete sich vorsichtig. Die Schnauze guckte heraus.

„Schau mal nach“, bat die Tasche sie. „Vielleicht findest du einen Weg, der uns hier raus führt.“

Die Maus piepste ganz leiste, zum Zeichen ihres Einverständnisses, und schlüpfte unter den Schuhschrank. Dann schnupperte sie an einer Türschwelle und lief weiter, zuerst unter den Kleiderständer und dann bis zur Wohnzimmertür. Da schnellte plötzlich ein haariges Geschöpf durch die Tür und begann zu bellen. Die Maus erschrak und versteckte sich schnell in einem Herrenschuh. Der Hund lief ihr hinterher. Er schnappte den Schuh mit dem Maul und schüttelte ihn.

„Broki, was machst du denn da?“, meldete sich die strenge Stimme des älteren Herren. „Hör auf damit! Schau ihn dir an, er zerbeißt mir meinen Schuh!“, sagte der ältere Herr verärgert zu der älteren Dame.

Broki ließ den Schuh fallen, war aber immer noch aufgeregt und bellte. „Broki, du bist wegen all dem auch nervös, gell?“, sagte die älter Dame. „Komm, ich gebe dir etwas.“

Broki lief zu der älteren Dame. Zwar hörte er mit dem Bellen nicht auf, doch wurde er für einen Moment etwas ruhiger, weil sie ihm ein Leckerli gab. Die Maus guckte aus dem

Schuh, die Tasche öffnete sich und die Maus huschte schnell wie der Blitz wieder hinein. Die Tasche schloss sich wieder.

„Das war vielleicht knapp!“, seufzte die Tasche. „Gefunden hast du nichts, oder?“ Die Maus piepste leise.

„Na, so was aber auch“, meinte die Tasche traurig.

In dem Moment lief Broki nochmals ins Vorzimmer, dieses Mal zur Tasche, und begann zu bellen.

„Was hat der Hund denn bloß?“, wunderte sich der ältere Herr. Er machte Licht und ging zur Garderobe.

„Oh, eine Tasche!“, sagte er zur älteren Dame.

„Was, wo?“, meldete sich diese.

„Eine Tasche, sag ich. Aber dir gehört sie nicht.“

„Eine Tasche, die nicht mir gehört?“, meinte die ältere Dame verwundert. Sie kam aus dem Wohnzimmer. „Wie kommt die denn hierher?“

„Na, genau das wollte ich dich fragen. Warst du einkaufen?“

„Ich? Ja, ich habe Milch, Butter und Brot geholt. Das war alles.“

„Milch, Butter, Brot und offensichtlich auch eine Tasche“, meinte der ältere Herr. „Das kann doch nicht sein …!“, entgegnete die ältere Dame und schaute sich die Tasche an.

„Schauen wir mal rein, vielleicht finden wir einen Ausweis oder eine Adresse, oder irgendwas, das uns weiterhelfen könnte.“

Die Tasche verkrampfte sich.

„Sie lässt sich nicht öffnen“, meinte der ältere Herr und kratzte sich am Kopf. „Ich hole eine Zange.“

Die Tasche bekam Angst.

„Warte, lieber nicht, da machst du sie noch kaputt“, sagte die ältere Dame. „Aber wie sonst sollen wir sie aufmachen?“

„Versuchen wir es mit einem Sperrhaken“, sagte sie und zog eine Haarnadel aus ihrer Frisur. Vorsichtig steckte sie die Nadel in das Schloss der Tasche. Das kitzelte. Die Tasche musste sich ganz schön zusammenreißen, um nicht wild loszulachen. Die Maus versteckte sich. Es ging einfach nicht anders, die Tasche hielt es nicht mehr aus. Es kitzelte so sehr, dass sie sich öffnete.

„Siehst du, mit Gewalt kommst du nicht weit, das muss man mit Gefühl machen.“ Beide schauten in die Tasche hinein.

„Da sind ganz viele Bücher drin“, staunte die ältere Dame. „Hui, das sind Schätze: eine Trillerpfeife, ein Stift, ein Notizbuch, eine Geldbörse, ein halbes Semmerl, ein Nähset, ein Lutscher und ein Sesamriegel.“

„Ahja, ja“, meinte der ältere Herr und nickte. „Aber Ausweis ist keiner drin. In der Geldbörse sind nur ein paar Münzen. Hm, also ich weiß nicht, wie wir die Person finden könnten, der die Tasche gehört.“

Die ältere Dame schaute sich das Buch mit den Stickmustern an. „Das ist aus der Bücherei. Siehe da, dieses Muster hat meine Mama oft gestickt. Ob ich das noch kann?“, meinte sie und machte sich daran, nach einer Sticknadel zu suchen.

„Naja, naja“, murmelte der ältere Herr. „Das hilft uns nicht weiter.“ Er schloss die Tasche und legte sie auf den Küchentisch.

Im Fernsehen verkündete der Moderator, dass ab dem darauffolgenden Tag alle Schulen, Kindergärten und Büchereien geschlossen bleiben müssen.

„Hast du gehört? Auch die Büchereien werden geschlossen“, sagte der ältere Herr zu seiner Frau und vergaß die Tasche wieder.

 

 

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck