Viktorie Hanišová

Rekonstruktion

2019 | Host

Ich kam auf die Welt, als ich neun Jahre, zehn Monate und sieben Tage alt war. Daran kann ich mich genau erinnern. Plötzlich saß ich in dem kleinen Zimmer auf dem beigefarbenen Kunstledersofa. Auf dem bunten Teppich lagen so viele Plüschtiere herum, dass sie für eine ganze Schulklasse gereicht hätten. Mir gegenüber stand ein durchgesessener leerer Sessel. An den ockerfarbenen Wänden hingen mit Buntstift gezeichnete Bilder. Ein Haus ohne Tür mit nur einem Fenster. Davor ein Männchen mit einem Hund. Er hatte Arme und Beine, aber keine Finger. Daneben war ein Bild mit einem Mädchen, das einen Teddybär an der Hand hielt. Und weiter rechts einen Zug mit Waggons, in deren Fenstern man vier Gesichter mit strubbeligen Haaren erkennen konnte. Mama. Papa. Ein Mädchen. Ein Junge. Sie fuhren schnell dahin, winkten aus den Fenstern und lachten. Von diesem Bild, das mit zittriger Hand gezeichnet worden war, konnte ich den Blick nicht abwenden.

Ich wusste, dass auch die Wand hinter mir gelb gestrichen war, aber mir kam es so vor, als sei die Wand in meinem Rücken schwarz wie Kohle. Sie strahlte Kälte aus. Im Zimmer bewegte sich nichts als meine Finger, die den Wollrock kneteten. Ich wusste nicht, wem die Sachen gehörten, die ich anhatte. Das Zimmer war überheizt und trotzdem hatte ich Gänsehaut an dem Armen. Aus dem Fenster sah ich schmutzige Schneereste auf den Dächern der Autos, die da auf der Straße parkten. Ich hörte, wie die Räder der vorbeifahrenden Autos den nassen Schneematsch wegspritzten.

„Ja … sie ist hier … Sie können nicht? … es wäre besser … aha … gut … nein, in Ordnung …“ Die einzelnen Wörter aus diesem Telefongespräch, das ich durch die geschlossene Tür hörte, ergaben überhaupt keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn.

Die Tür ging langsam auf. Herein kam eine kleine Frau in einem schwarzen Shirt, einem weiten braunen Rock und lila Strumpfhosen, von der ich nur wusste, dass sie Tereza hieß und für mich in irgendeiner Art verantwortlich war. Sie setzte sich nicht auf den Sessel mir gegenüber, sondern kniete sich dicht neben mich auf ein Knie. Sie streichelte meinen Arm und lächelte. Ihre Augen waren rot und geschwollen.

„Dann wollen wir mal losfahren, Eli.“

Sie sagte mir nicht, wohin, und ich fragte sie nichts. Ich stand vom Sofa auf und die schwarze Wand in meinem Rücken erhob sich mit mir.

[…]

Im Zimmer war es bis auf eine kleine Stehlampe in der Ecke dunkel. Sie warf seltsam zerfledderte Muster an die Wand. Die Luft war schwer, bewegungslos, abgestanden. Die Hakenová streifte mich mit einem Blick und bedeutete mir mit einer Handbewegung mich zu setzen. Eine Weile sahen wir uns schweigend an. Ich führte mir vor Augen, was Romana für mich über die Hakenová herausgefunden hatte. Sie hatte sich dafür wieder mit einem bekannten Doktoranden in Verbindung gesetzt und ihn nach weiteren Details über diese rätselhafte Erscheinung gefragt. An der Fakultät sollen eine Menge Gerüchte über sie im Umlauf sein. Man sagte, sie sei so ein Menschenschinder, dass ein paar Studenten geradewegs in der Prüfung zusammenbrachen. Sie war in der Lage, Leute auch bei ihrem dritten Versuch aus dem Staatsexamen zu werfen.

Sie sah heruntergekommen und ungesund aus. Das gelbliche Licht, das auf ihr teigiges Gesicht fiel, verstärkte noch die ohnehin schon tiefen Falten auf der Stirn und den Wangen. Anstelle der Augen hatte sie zwei schwarze Löcher, aus denen blaugrüne, erstaunlich lebendige Pupillen hervorschauten. Sie sahen wie Edelsteine aus, die im Licht funkelten. Ihre Lippen waren so blass, als fehlten sie ganz. Ihr mächtiger Körper steckte in einem dunkelblauen Wollkleid, an den Füßen hatte sie Kniestrümpfe, die aber nur bis zur Hälfte der kräftigen Unterschenkel reichten.

Plötzlich tauchte neben dem Sessel das Mädchen auf, das mich ins Haus gelassen hatte. Sie hatte eine Teekanne in der Hand. Ich hatte weder gesehen noch gehört, wie sie hereinkam. Nach einer Weile erschien sie wieder mit Tassen und einer Zuckerdose auf. „Zucker?“, fragte sie mich und ich schüttelte den Kopf. Dann warf sie drei Stückchen Zucker in die Schale der Hakenová, goss Tee dazu und rührte ihn um. Eine Weile dachte ich, das sei eine Aufwartefrau oder eine Krankenpflegerin, aber dann sah ich ihr Foto auf dem Regal in der Zimmerecke. Das Foto musste schon ein paar Jahre alt sein: Das Mädchen darauf konnte so zehn zwölf Jahre alt sein. Es stand in unglaublich altmodischen Klamotten vor irgendeinem Denkmal. Die Hakenová neben ihr hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Keine von beiden versuchte für das Foto zu lächeln.

„Wissen Sie, wer ich bin?“, fragte mich die Hakenová mit rauer Stimme.

„D-die F-Freundin meiner Mutter“, stotterte ich.

„Natürlich. Aber wissen Sie, wer ich bin?“

Verständnislos schüttelte ich den Kopf.

Die Hakenová beugte sich zu dem kleinen Bücherregal rechts neben dem Sessel, zog ein paar Bücher hervor und legte sie auf das Marmortischchen, das zwischen uns stand.

„Ja, die Bücher kenne ich, die habe ich in der Bibliothek gefunden. Wahnsinnig interessante Texte, aber ich bin wegen der Dinge gekommen, die Sie mir über meine Mutter geschrieben haben…

„Dazu kommen wir noch.“

Die Hakenová fuhr mit der Handfläche über den Bucheinband und nahm einen Schluck Tee. Sie verzog das Gesicht, als schmeckte er nicht.

„Was wissen Sie über mich?“

Fragend runzelte ich die Augenbrauen.

„Bestimmt haben Sie sich über mich informiert, was wissen Sie?“

„Naja, dass Sie Professorin am Lehrstuhl für Geschichte waren“, legte ich langsam los. „Sie haben das Fach geleitet, das sich mündliche Geschichte nennt. Sie haben Gespräche mit Zeitzeugen geführt und die interpretiert. Sie haben eine Reihe Auszeichnungen bekommen und eine Menge Projektgelder eingeworben.“

„Und außerdem haben sie über mich gelacht und mich kritisiert. Dass das angeblich kein vollwertiger Zweig der Geschichtswissenschaft ist. Was ich alles aushalten musste … Die Erinnerungen der Zeitzeugen sollen angeblich nicht glaubwürdig sein, nicht dauerhaft und deshalb kann man sie nicht quantifizieren. Die Geschichtswissenschaft muss sich ausschließlich auf gedruckte und verifizierbare Dokumente stützen.“ Sie nahm einen Schluck Tee und legte dann über ihre betonköpfigen Kollegen von der Fakultät los. Im Unterschied zu ihr saßen die nur in den Archiven herum und schrieben Bücher zusammen, die nur ein kleiner Kreis Eingeweihter las. Dass wahrhafte Geschichtsforschung sich ausschließlich auf Annalen stützen musste und sie nur eine Dilettantin war, die das Wissenschaftsniveau senkte. „Diese ganzen Professoren haben kaum ihren Hintern vom Tisch wegbewegt“, sie haute auf den Tisch. „Der Lehrstuhlleiter hat mir das Leben zur Hölle gemacht: Eine Frau und dann noch ohne die männliche Skripturalität hat bei den Historikern nichts verloren! Aber das war mir egal! Es ging mir weder um Preise noch Anerkennung. Ich wollte, dass die Leute nicht aus staubtrockenen Lehrbüchern von den schlimmsten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts erfahren, sondern direkt von den Zeitzeugen.“

Meine Nervosität wuchs. Das wusste ich doch alles schon. Ich hatte von ihren Gesprächen mit Studenten gelesen, von den Happenings und den Ausflügen zu den Erinnerungsstätten, die sie organisiert hatte. Aber was hatte das mit mir zu tun? Sie machte keine Pause zwischen den Wörtern, ich hatte keine Chance, in ihren Monolog eine Bitte einzuschieben, deretwegen ich gekommen war. Ihre Tochter schaute alle naslang durch die halbgeöffnete Tür hinein, als müsste die Hakenová jeden Moment einen Anfall bekommen, oder so.“

„Wenn jemand direkt mit einem Menschen sprechen kann, der einfach nur deswegen erschlagen werden sollte, weil seine Eltern eine Fabrik besaßen, muss er doch begreifen, wie absurd das ist!“, ereiferte sich die Hakenová. Sie trank Tee, verschluckte sich und ich ergriff endlich die Chance.

„Ich bewundere Ihre Arbeiten sehr, ich habe eine Menge von Ihnen gelesen. Aber ich bin wegen einer anderen Sache hier. Sie schrieben mir, Sie wüssten, warum meine Mutter das getan hat. Ich würde gern …“

„Still!“, schnauzte die Hakenová und ich klappte sofort den Mund wieder zu.

„Über Ihre Mutter schrieb man, sie sei eine Psychopathin und Schizophrene gewesen. Eine normale Mutter würde schließlich nicht ihr Kind umbringen. Sie haben jedes schmutzige Detail hervorgezogen, das sie finden konnten. Ich gebe selbst zu, dass das damals ein Schock für mich war. Aber ich kannte sie so gut, dass ich wusste, dass Ihre Mutter nicht verrückt war. Leider habe ich das erst ein paar Jahre nach ihrem Tod begriffen. Ich weiß, dass sie absolut normal dachte. Ihre Mutter hatte einen guten Grund, Ihren Bruder und sich selbst umzubringen. Ich ahnte das schon damals, aber jetzt, wenn ich sehe, wohin das alles geht, bin ich mir einfach sicher. Wenn Sie den Grund wissen wollen, schweigen Sie und unterbrechen Sie mich nicht.“

Ich nickte vorsichtig. Ich saß ganz geduckt im Sessel und fühlte meinen Mund trocken werden.

Die Hakenová schwieg. Sie versteckte ihr Gesicht in den Händen und beugte sich fast bis zu den Knien nach vorn. In dieser Position verharrte sie so lange, dass ich überlegte, ob sie eingeschlafen war.

„In allen Gesprächen mit Studenten war das dasselbe“, wachte sie plötzlich auf. „Schweigen und angeödete Gesichter. Wenn die Studenten sich überhaupt zu etwas aufraffen konnten, waren das dumme und unpassende, oder sogar ausgesprochen beleidigende Fragen. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, aber dann fing ich langsam an zu begreifen.“

Sie presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zur Faust.

„Früher war ich fasziniert davon“, fuhr sie fort, „ wie Hitler das schaffen konnte, so viele Juden umzubringen. Wie man von einem Tag auf den anderen Leute überzeugen kann, dass irgendjemand kein Recht hat zu leben. Nach zehn Jahren Arbeit überrascht mich das nicht mehr. Den Leuten ist völlig egal, was mit ihrem Nachbarn passiert, Hauptsache, sie selbst haben ihre Ruhe. Und wenn sie außerdem einen Vorteil davon haben, machen sie gern auch noch mit.“

Die Hakenová verstummte. Ihre Finger waren so in die Sessellehnen gekrallt, dass an beiden Händen die Gelenke weiß wurden.

„Das glaube ich nicht“, sagte ich so leise, dass ich mich selbst kaum hörte. „Der Krieg war doch schon lange vorbei …“

Die Hakenová warf mir einen hasserfüllten Blick zu.

„Bist du blöd oder was?!“, schrie sie.

Ich erschrak so, dass ich im Sessel zum Schutz noch mehr in mich kroch.

„Siehst du keine Nachrichten? Liest du keine Zeitung?“

„Natürlich lese ich, aber ich verstehe überhaupt nicht, was Sie …“

„Es reicht doch, aus dem Fenster zu schauen!“ Sie winkte in Richtung der dunklen Vorhänge, die weder Licht noch Geräusche hereinließen. „Das ist wie eine stark ansteckende Krankheit! Die Gesellschaft wird bald von einer Epidemie erfasst werden!“

Schon wieder schrie die Hakenová fast. Auf den gewienerten Marmortisch fielen ein paar Spucketropfen. Einen Moment lang dachte ich, dass sie sich auf mich wirft. Vielleicht sollte ich lieber gehen, die Frau war offensichtlich verrückt. Neben dem Sessel erschien wieder ihre Tochter. Sie legte der Mutter die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft in den Sessel zurück. Sie drückte ihr zwei Tabletten in die Hand und reichte ihr eine Tasse. Das alles so schnell und geübt, dass die Hakenová keine Zeit hatte zu protestieren. Sie legte sich die Handfläche an den Mund, legte kurz den Kopf zurück und trank dann etwas. Während der gesamten Zeit sah sie ihre Tochter nicht ein einziges Mal an.

„Aber was … was hatte mit dem allem meine Mutter zu tun?“, fragte ich und meine Stimme brach mitten im Satz.

„Du verstehst das immer noch nicht? Deine Mutter war intelligenter als ich. Von Anfang an war ihr klar, dass meine Arbeit unsinnig ist. Sie hat sich im Unterschied zu mir keine Illusionen über die Leute gemacht. Sie war sich sicher, dass etwas Schreckliches bevorsteht.“

„Hat sie das zu Ihnen gesagt? Zu Hause hat sie nie …“

„Nein, aber das musste sie auch nicht! Das war offenkundig! Als ich ihr erzählte, was ich mache, schüttelte sie den Kopf. Sie wollte das Grauen nicht erleben. Und vor allem wollte sie nicht, dass Mikuláš da durch musste.“

„Aber wie können Sie das wissen?“

„Das war einfach eine völlig logische Reaktion auf die Welt um sie herum! Sie wollte Miky retten!“

„Aber was …“, ich fühlte eine große Träne meine Wange hinabkullern, „aber was ist mit mir? Warum hat sie nicht auch mich gerettet?“

Die Hakenová kreuzte die Arme über der Brust und beugte sich ein wenig zu mir.

„Weil du nicht Miky bist“, erklärte sie heiser und drehte sich zum Fenster weg.

„Was heißt das?“

Keine Reaktion.

„Und wer bin ich denn also?“

Nichts.

„Frau Hakenová?“

„Sie hatte recht. Ich hätte damals auf sie hören sollen …“, brabbelte sie leise. Sie sah sehr geschwächt aus, als hätte sie in der nicht vollen Stunde unseres Gesprächs eine schwere Krankheit durchgemacht.

„Wobei hätten Sie auf sie hören sollen?“

Es kam keine Antwort mehr. Nur Schweigen.

Nach einer Weile legte mir ihre Tochter die Hand auf die Schulter. Sie sah ihre Mutter an, die in einer unbequemen Position erstarrt war: die Schultern hochgezogen und der Kopf zum Fenster verdreht. Offensichtlich fingen die Tabletten an zu wirken.

„Sie wird Ihnen nichts mehr sagen …“

„Frau Hakenová?“, drehte ich mich in der Tür zum letzten Mal zu der Frau um, die sich jetzt überhaupt nicht mehr bewegte.

Ihre Tochter half mir im Flur in den Mantel und entließ mich dann wieder zurück ins graue Licht. Sie wartete, bis ich an den Stufen zum Tor war und schloss leise die Tür hinter mir.

[…]

 

Wir heirateten ein Jahr später. Romana half mir zu Hause in das perlenbestickte, reich gefältelte Kleid hinein.

„Noch kannst du abhauen“, flüsterte sie mir zum Spaß ins Ohr, als ich ins Auto stieg.

Die Hochzeit fand im Schloss Průhonice statt. Ich ging allein zum Altar. Weder Vater noch irgendjemandem anderen aus der Familie hatte ich etwas gesagt, nur Tante Marta hatte ich eingeladen. Ich sah, wie sie sich in der ersten Reihe zu mir umdrehte und ihr die Tränen über die Wangen flossen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie vor Freude weinen konnte. Wenigstens einer. Für einen Moment dachte ich, ich sollte wirklich verschwinden, wie es mir Romana geraten hatte. Aber das Kleid war furchtbar eng und an den Füßen hatte ich hohe Pumps, die mir keine schnelle Bewegung erlaubten. Und so wurde ich Frau Jonášová.

xxx

Anfang 2016 bekam ich einen Sohn. Kubík kam zu früh, er wog nur wenig mehr als zwei Kilo und hatte Neugeborenengelbsucht. Er war so schwach, dass sie mir nicht erlaubten, ihn bei mir zu haben. Ich musste aus dem Krankenzimmer zum Inkubator gehen, um ihn zu sehen. Hätte er nicht das Schildchen mit seinem Namen gehabt, hätte ich nicht gewusst, dass das mein Kind war. Ich streichelte das Glas und sah zu, wie er an seinen gelben schuppigen Händchen saugte. Seine Augen waren geschlossen, was um ihn herum vor sich ging, nahm er gar nicht wahr.

Die ganzen Monate hatte ich mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn erst Kubík auf der Welt war, aber es war wie mit allem in meinem Leben. Auf einmal passierte etwas Epochales bei mir und ich bemerkte es fast nicht. Formal war ich Mutter geworden, ohne dass sich das entsprechende Gefühl einstellte, das dazugehörte. Als hätte mir jemand diese Rollen – Ehefrau, Ingenieurin, Mutter – von außen an mein Leben geklebt.

Nach einem Monat sollte ich Kubík mit nach Hause bekommen. Ich hatte Angst, er könnte ein weinerliches Kind sein, aber er weinte wirklich selten. Nach der Ankunft aus dem Krankenhaus schlief er fast die ganze Nacht durch und zum Trinken musste ich ihn wecken. Manchmal schlief er so lange, dass ich Angst bekam, er könnte erstickt sein. Im Krankenhaus hatten sie mich vor dem plötzlichen Kindstod gewarnt. Dann lief ich in sein Zimmer, aber Kubík atmete ruhig. Das heftige Türöffnen weckte ihn nicht, er bewegte sich nicht einmal in seinem Bettchen, als wäre ich gar nicht da. Ich kehrte ins Wohnzimmer oder die Küche zurück und wartete, dass er aufwachte. Nach all den Jahren voller Studien und Arbeit hatte ich auf einmal nichts zu tun.

Damals kehrten die Träume zurück.

Es fing recht unschuldig an. In der Nacht wanderte ich wieder durch unsere alte Wohnung in Vinohrady. Sie war ganz leer und still. Ich ging durch ein Zimmer nach dem anderen. Das Parkett knarrte. Ich konnte in alle Schubladen und Schränke schauen, ohne dass mich jemand aufhielt. Die Sonne schien draußen so, dass ich nicht durch die Fenster hinausschauen konnte. Die Tür war verschlossen, der Schlüssel hing von außen im Schloss, man konnte nicht aus der Wohnung heraus. Später kamen in den Träumen auch Gestalten dazu. Tante Leonie, die immer mit ihrem knöchrigen Rücken zu mir gedreht dastand. Tante Marta saß auf dem Sofa und legte auf dem Couchtisch Karten. Als ich aufmerksamer hinsah, stellte ich fest, dass es Fotos unserer Familie waren. Die Gesichter waren seltsam verzerrt. Ich wollte die Fotos in die Hand nehmen, aber dabei zerfielen sie. Mein Vater saß in der Zwischenzeit am Küchentisch und rührte mit dem Löffel in der Tasse herum. Das Metall klirrte unangenehm in dem Porzellan. Meine Mutter saß mit Miky auf dem Schoß daneben. Er sträubte sich und versuchte sich loszureißen, aber sie umklammerte ihn fest. Ein anderes Mal lief ich durch die Räume und versuchte, meine Mutter einzuholen, die vor mir weglief. Sie zog Miky an der Hand hinter sich her. Miky drehte sich zu mir um. Er streckte die Hände nach mir aus, aber ich konnte ihn nie erreichen.

Ich wachte mitten in der Nacht und konnte mich nicht bewegen. Meine Arme und Beine waren aus Stein, mein Hals ausgetrocknet, ich konnte nicht einen Ton hervorbringen. In den Schläfen pochte es. Ich hörte, wie David neben mir ruhig atmete, aber ich schaffte es nicht ihn anzustoßen, damit er mir helfen konnte. Schließlich schlief ich ein, und als ich am Morgen erwachte, war die Lähmung vorbei und ich wieder ein normaler Mensch wie alle anderen. Bis zum nächsten Abend.

 

Aus dem Tschechischen von Raija Hauck