Bianca Bellová

Mona

2019 | Host

Das Gras auf dem Bergkamm schlägt Wellen gegen das Sonnenlicht und zwischen den Halmen sieht Mona eine Silhouette. Es sind Rücken und Hörner eines Ochsen. Neben dem Ochsen her hopst leichtfüßig eine kleine Gestalt mit einer Rute, das ist überraschend, dass in so einer Gluthitze jemand die Kraft hat herumzuhüpfen, es ist überraschend, dass sich bei dieser Wärme die Grashalme überhaupt rühren. Wo ist der Wind, der sie bewegen würde? Und wer ist die hopsende Gestalt?

Mona wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Eine Haarsträhne löst sich und sie steckt sie zurück unter die Haube. In den Wasserleitungen rumort es, als würde sich irgendein Tier hindurchbewegen. Ansonsten ist Ruhe, es stöhnt nicht einmal jemand.

Wem gehört die Silhouette, die so viel Freude und Energie in sich hat? Oma ist immer vital gewesen, noch mit siebzig ist sie auf Bäume gestiegen, und die Subtilität würde auch hinkommen, aber diese Gestalt hat die Energie eines Kindes, genau, das ist sie selbst, die den Ochsen zum Gehen antreibt, mit unangemessen ausladenden Rutenbewegungen, der Rock fällt ihr über die mageren Hüften. Der Ochse hieß Mun, zumindest nannte sie ihn so, wenn sie mit ihm redete. Mun, hast du schon mal was von den Totenbegleitern gehört?, fragte sie, rollte bedeutungsschwanger mit den Augen und hielt sich den Mund zu. Mun drehte langsam den Kopf zu ihr herum und seine großen, dummen Augen sagten: Nein, von den Totenbegleitern hat er noch nie was gehört.

Es ist schon passiert, Mun, das jemand weit weg von zu Hause gestorben ist. Das ist natürlich schlecht, Mun, na klar, wenn dich jemand weit weg von zu Hause beerdigt. Der Ochse senkte den Kopf und es tat ihm leid. Wenn jemand weit weg von zu Hause beerdigt wird, dann findet er keine Ruhe. Er kann einfach nicht in Ruhe tot sein, verstehst du. Dann bist du eine unruhige Leiche. Also gab es Begleiter, die so eine Leiche mit einem Zauber bis nach Hause führen konnten. Das konnte durchaus Wochen dauern, das hing davon ab, wie weit ihr Weg war. Dieser Mensch hat den Toten also den ganzen Weg lang geführt, sie sind schrecklich langsam gegangen, daran erkennst du sie, dass beide so dahinwanken, der Begleiter muss den Toten andauernd aus dem Totenreich zurückrufen, Mun, hörst du mir überhaupt zu? Mun nickte zum Zeichen, dass er zuhörte, und sie tätschelte seinen Nacken. Übernachtet haben sie in einem Gasthaus, und am nächsten Morgen, noch ehe es Tag wurde, waren sie schon wieder unterwegs. Der Verblichene hatte auf dem Kopf einen großen Strohhut und vorm Gesicht einen Schleier. Der Begleiter und die Leiche waren lila gekleidet. Sie machten langsame Schritte, und wenn sie unterwegs jemandem begegneten, gingen ihnen alle aus dem Weg, die Kinder kreischten: „Eine Leiche mit Hut!“, und flüchteten in die Felder. Hm, ich auch.

Mun setzte langsam einen Fuß vor den anderen und dachte über die Totenbegleiter nach, Mona hatte ihre Hand auf seiner Flanke liegen. Es war ein guter Ochse, auf dem Feld arbeitete er vorzüglich, er erledigte die Arbeit von zweien. Sie führte ihn nach Hause und redete die ganze Zeit auf ihn ein. Er schaute sie mit seinen dumpfen Augen an und man sah, dass er sie zwar nicht verstand, sich aber Mühe gab. Als er verkauft werden sollte, kriegten sie ihn nicht aus dem Stall raus, bis Mona kam. Sie brachte ihn zum Markt, wo beide weinten, als sich ein Käufer gefunden hatte. Mun hatte ihr mit seinen blöden Augen hinterhergeschaut, und sie hatte dann noch lange Träume, aus denen sie weinend erwachte.

„Ein Exitus im großen Zimmer“, meldet die Schwester aus der Tagschicht, „der Patient mit dem Lungendurchschuss. Eine akute Amputation wegen Wundbrand, eine Wiederbelebung.“

„Wie sieht’s aus mit Schmerzmitteln?“, fragt Mona, die nur unwillig aus ihren Tagträumen zurückkehrt. Die Tagesschwester schüttelt nur müde den Kopf. An der Wand kommt auf Höhe ihrer Augen bedachtsam ein fast durchsichtiger Gekko vorbei.

„Heiß heute“, sagt Mona sicherheitshalber; sie ist immer verlegen, wenn nichts geredet wird. Die Tagesschwester nickt und löst langsam die Spangen, die die Haube auf ihrem Haar festhalten.

 

***

 

Der frisch Amputierte schreit, Mona weiß, dass ihr eine anstrengende Schicht bevorsteht. Opiate gibt es wenige, sie müssen sparsam damit umgehen. Der diensthabende Arzt schläft und wünscht nicht geweckt zu werden, solange es nicht um Leben und Tod geht. Er hat einen schweren Tag hinter sich, hat an vorderster Front gekämpft, und wenn er nicht wenigstens ein bisschen Schlaf findet, wird er überhaupt niemanden behandeln können. Aber Mona schafft das auch alleine, sie ist erfahren genug.

Sie schaut auf die Karte, die am Kopfende des Betts hängt, der Typ heißt Adam. Er hat markante Wangenknochen, typisch für die Stämme, die in den Bergen leben. Die Wunde blutet, der Verband muss gewechselt werden. Der junge Mann stöhnt und schaut in ihre Richtung, sein Blick ist aber vom Schmerz getrübt, offenbar sieht er sie gar nicht. Das Gesicht ist von Schweißperlen übersät. Mona seufzt leise und legt ihm einen frischen Umschlag auf die Stirn. Er streckt die Hand nach ihr aus. Sie lässt die Berührung zu, seine Finger verschränken sich unerwartet mit ihren. Seine Hand ist heiß, vom Fieber gepackt.

„Alles wird gut, Adam“, sagt Mona tröstend.

„Es tut schrecklich weh“, stöhnt er.

Mona nickt, ja, so ist das, jeder hier im Krankenhaus weiß, dass es schrecklich wehtut.

„Helfen Sie mir.“

Wie soll sie ihm erklären, dass den Schlüssel vom fast leeren Opiatschrank der diensthabende Arzt bei sich hat, der gerade jetzt schläft?

„Eine Schande ist das“, verkündet der ältere Mann vom Nachbarbett und stützt sich auf einem Ellbogen auf. „Die Jungs setzen ihr Leben ein, kämpfen tapfer, auch für dich! Sie verlieren ein Bein, vielleicht sogar ihr Leben. Und du lässt ihn leiden wie ein Vieh. Eine Schande!“

„Seien Sie still“, zischt Mona ihn an. „Sie wecken die anderen auf.“

Sie runzelt die Stirn unter der Haube. Aus der Brusttasche holt sie ein Thermometer und wirft einen strengen Blick darauf. Dann schiebt sie es dem jungen Mann sanft in die Achselhöhle.

„Durst“, stöhnt er.

Mona schlüpft ins Ärztezimmer, ein Kämmerchen mit einem kleinen Tisch, einem knarzenden Stuhl und einer abgewetzten Liege an der Wand. Durch das angelehnte Fenster dringt der Duft der blühenden Mandelbäume herein. Doktor Kamran schläft mit dem Gesicht zur Wand und atmet geräuschvoll. Die Schlüssel liegen auf dem Tisch, es wird also kein großes Drama geben, Mona hebt sie einfach nur langsam hoch, damit das Metall nicht klimpert.

„Was machst du da? Stehlen?“, murmelt Doktor Kamran leise, seine Stimme ist vom Schlafen noch belegt.

„Ich brauche ein Beruhigungsmittel für den mit dem amputierten Bein“, seufzt Mona müde, sie weiß, dass sie jetzt nicht mehr einfach so davonkommt.

Doktor Kamran gibt ihr mit der Hand ein Zeichen, dass sie näher kommen soll, sie geht langsam los, er steht von der Liege auf, und im Zwielicht des Ärztezimmers saugt er sich von hinten an ihr fest wie eine Amöbe. Mona beobachtet eine Schabe, die an der Zimmerwand entlanghuscht, die lasziven Hände, die sie an den Brüsten, am Bauch und im Schritt begrapschen, nimmt sie gar nicht wahr. Sie ist froh, dass sie Doktor Kamran nicht ins Gesicht schauen muss, dass sie die große Schwiele mitten auf seiner Stirn nicht sieht.

„Du Diebin, du dreckige! Ich werd dir schon zeigen, was man mit Diebinnen macht!“, ruft er ihr hinterher, aber sie ist schon wieder draußen, mit der Hand die Schlüssel fest umklammert, mit denen sie am Ende des Flurs das Medikamentenkabinett und das Opiatschränkchen aufschließt.

Der junge Mann bäumt sich leicht auf, als sich das Morphium zum ersten Mal mit seinem Blut mischt, dann beruhigt er sich und Mona hält ihn bei der Hand, bis seine Augen zugehen. Der Patient am Fenster weint im Schlaf. Der Mann im Nachbarbett stützt sich wieder auf seinen Ellbogen und schreit: „Mit dem Doktor getrieben hast du’s, du Dreckstück, hä? Die Jungs, die ihre Leben für dich aufs Spiel setzen, sterben hier, und du lockst inzwischen brave Männer in die Hölle!“

„Ich hab dich gewarnt“, seufzt Mona und schiebt den protestierenden Mann mit seinem Bett auf den Gang. Zweimal stößt sie gegen den Türrahmen, bevor sie den Durchlass findet, und der Mann im Bett zischt jedes Mal auf. Dann ist er endlich still.

 

***

 

Hani betrachtete seine Beine, er schaute zu, wie die flinke Bachströmung ihre Umrisse deformierte und sie mit Luftbläschen überzog. Es war Vorfrühling, die Luft war kalt und das Wasser eisig, dass einem davon die Knochen wehtaten. Er stand da und zählte, um seinen Rekord zu brechen, aber bei Fünfzig stieß er einen Fluch aus, denn er sah, wie sich an seinem linken Fußrücken zwei Blutegel festgesaugt hatten. Auf einmal rotteten sich welche zusammen, kamen auf ihn zu und ließen sich auf dem Wasser treiben, das bedeutete, es würde ein Gewitter geben. Hani kletterte ans grasbewachsene Ufer und schob einen Fingernagel unter die Saugnäpfe der Egel, aber er verlor die Geduld und riss die ekligen Mistviecher einfach ab, es blutete, wie wenn Mama ein Huhn schlachtete. Er schmiss die Blutegel ins Gras, und als er ihre halboffenen, mit seinem Blut verschmierten Mäuler sah, hob sich ihm der Magen. Dang saß auf der Wiese mit einem Grashalm im Mund.

„Blutegel?“, fragte er teilnahmslos.

„Ich muss gleich kotzen“, antwortete Hani.

„Mistviecher“, nickte Dang.

„Stell dir mal vor, die haben fünf Paar Augen. Kommt dir da nicht das Kotzen? Da zieht ein Gewitter auf.“ Hani deutete in Richtung Himmel. In diesem Moment donnerte es in der Ferne. […]

 

***

 

„Hani!“, rief die Mutter, zuerst zum Abendessen, später nur noch so, aus Angst und Gewohnheit.

„Jetzt können wir nicht nach Hause“, flüsterte Dang und Hani nickte. Jetzt konnten sie nicht so was Banales tun wie nach Hause zu gehen. Sie lagen im Gebüsch neben der Lichtung auf dem Berggipfel oberhalb vom Dorf.

„Was glaubst du, was das war?“, fragte Dang und rieb sich die Augen.

Hani schüttelte den Kopf, um zum Ausdruck zu bringen, dass Dang total blöd war. Was soll das schon gewesen sein! Das war doch absolut klar, ohne jeden Zweifel. Auch auf Hanis Netzhaut war immer noch der Umriss des Ellipsoids eingebrannt, das lange zögernd über dem Hügel geschwebt war, bis es sich lautlos auf die Waldlichtung herabgesenkt hatte. Sein weichgrünes beleuchtetes Chassis war geriffelt gewesen wie der Körper eines Blutegels. An der Außenseite entlang hatten ovale Fenster geblinkt.

Viele Minuten lang hatten die Jungs die Luft angehalten und gewartet, dass etwas passieren würde, dass eine Luke aufgehen, Außerirdische aussteigen und mit ihnen, Hani und Dang als Vertretern der Menschheit, außersinnlich zu kommunizieren beginnen würden.

„Mir ist kalt“, hatte Dang gekeucht.

„Halt durch.“

Dann war die fliegende Untertasse genauso lautlos wieder nach oben geschwebt und am dunklen Sommerhimmel verschwunden.

„Mensch, womit fliegt das eigentlich“, staunte Dang. „Wieso kann man da überhaupt nichts hören?“

„Wir können das nie irgendwem erzählen“, sagte Hani ernst.

„Warum denn nicht?“

Dang hatte sich schon gesehen, wie ihm das ganze Dorf an den Lippen hinge und alle ungläubig mit dem Kopf schütteln würden.

„Das glaubt dir keiner. Die werden sagen, dass du ein kleiner Doofi bist, der einen abgetriebenen Lampion vom Lichterfest für Außerirdische gehalten hat.“

„Nönönö!“, rief Dang mit bebendem Kinn.

Hani zuckte mit den Schultern.

„Da sind Spuren, wirst schon sehen“, schrie Dang. „Morgen früh sind dort Spuren von der Rakete.“

Hani schloss die Augen und rief sich in Erinnerung, was sie gerade gesehen hatten. Irgendeinen Grund musste es gegeben haben, warum das ausgerechnet ihnen beiden passiert war, Jungs aus einem Bergdorf, wo nicht mal ein Linienbus hinfuhr. Und genau sie zwei sollten das sehen, viel zu persönlich war das, viel zu intim. Nicht bestimmt für andere Augen oder Ohren.

„Meine Mutter bringt mich um“, sagte Dang und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Mich auch“, nickte Hani und legte Dang einen Arm um die Schulter.

Am nächsten Tag gingen sie zusammen auf den Berggipfel und suchten nach verbranntem Gras und Spuren von der Landung des Flugobjekts aus dem Weltall, aber sie fanden nichts.

 

***

 

„Überleb ich das?“, fragt manchmal einer der Patienten. Mona tut sich schwer damit, sie weiß nicht, was sie antworten soll, es macht sie mittlerweile nur nicht mehr so fertig. Meist verschränkt sie die Hände auf dem Bauch, nimmt dann den Patienten an der Hand und sagt zu ihm, dass Gott der Einzige ist, der weiß, wie er weiter mit ihm verfahren wird. Gott und außerdem Dolores, die Oberschwester, die Todesengel genannt wird; wenn die ein Krankenzimmer betritt, weiß sie immer todsicher, welcher Patient den Abend nicht erleben würde, ob er nun still daliegt oder ob er röchelt und ihm Blut aus den Ohren rinnt. Sie zeigt wortlos auf ihn und das Personal weiß dann, dass bald ein Bett frei wird, mit dem man rechnen kann. Mona fehlt diese Fähigkeit, und sie ist froh darüber. Oft geht sie in den Kellergang, der zum mittlerweile halb zerfallenen Lager mit Sani-Material und Blutkonserven und zum Obduktionsraum und zur Leichenhalle führt. Dort, an eine Wand gelehnt, raucht sie heimlich und sieht zu, wie die Außenmauern des Krankenhauses unter dem Druck der Wurzeln vor ihren Augen Risse bekommen, wie sich der Dschungel unbeirrbar seinen Weg ins Gebäude bahnt. Kommt es da darauf an, wann sie sterben?

Die meisten Patienten trauen sich aber nicht zu fragen, oder sie sind nicht genug bei Sinnen, um dazu in der Lage zu sein. So wie an diesem Abend Adam. Er atmet flach und hastig wie ein Hund, sein Gesicht ist schweißnass. Wäre Oberschwester Dolores hier, könnte sie bestimmt mit einem einzigen Blick voraussagen, ob der junge Mann den nächsten Morgen erleben würde. Mona ist froh, dass die Oberschwester nicht da ist. Wenn sie wüsste, dass Adam heute das Zeitliche segnen müsste, würde ihr die Arbeit wahrscheinlich sehr schwer fallen.

Konzentriert misst sie bei ihm Fieber (39,6 °C), wechselt den Tropf mit den Antibiotika aus, spritzt ein Beruhigungsmittel.

Sie setzt sich neben ihn und legt eine Hand aufs Bett. Auf die Hand den Kopf. Ganz aus der Nähe sieht sie zu, wie sich der Brustkorb ihres Patienten hastig hebt und senkt.

 

***

 

Das achtstöckige Haus war in jenem Sommer feierlich eröffnet worden, aus dem das Foto von Mona mit ihren Eltern stammt. Seine Fassade mit den Balkons war strahlend weiß wie Bettwäsche, die in der Sonne auf der Leine hing. Die Fußböden waren mit Blütenornamenten aus italienischen Fliesen geschmückt und die Treppen von schmiedeeisernen Geländern gesäumt, als würde ein Garten erblühen. Gegenstand höchster Bewunderung war allerdings der Aufzug, der langsam und würdevoll zwischen den Etagen auf und ab fuhr und die städtischen Honoratioren beförderte, damit sie ausgiebig genießen konnten, wie der Liftboy die Metalltür leichthändig auf- und zumachte und die Druckknöpfe betätigte. Die ärmeren Leute drängelten sich an den Treppengeländern und bestaunten die Fahrstuhlkabine und das in entgegengesetzter Richtung absinkende oder aufsteigende Gegengewicht.

Vater war in größter Aufruhr und freudig erregt, dass es in seiner Stadt gelungen war, ein Stück Paris zu errichten. Zornig schnauzte er ein paar Jungen an, die versuchten, die geschmiedeten Fenstergriffe im Zwischengeschoss zu verbiegen, einem gab er sogar eine maßvolle Ohrfeige. Immer wieder sagte er, wie es ihm leidtue, dass sie es sich nicht leisten konnten, dort zu wohnen. Mutter lächelte ihn an, stellte sich auf die Zehenspitzen und strich ihm über die Wange. „Du bist ja viel glücklicher als damals, als deine Tochter zur Welt gekommen ist.“

Ins Haus zogen der Bürgermeister und der Vizebürgermeister ein, der Bankdirektor, der Postdirektor, der Polizeichef, zwei Ärzte und ein Zahnarzt. Der Schuldirektor und mehrere Geschäftsleute, ein Richter und der Chefredakteur der Lokalzeitung, Vaters Vorgesetzter. Alle mit ihren Familien. Die einzige Frau, der es gelungen war, sich im Haus ein Budoir einzurichten, war Madame Li, die Inhaberin des Freudenhauses, gegen die sich unter den übrigen Mietern sofort eine Welle des Abscheus erhob. Aber Madame Li hatte bereits einen unterschriebenen Vertrag und auf reguläre Weise war es unmöglich, sie aus dem Haus zu bekommen, denn gegen jeden, der in der Stadt von Bedeutung war, hatte sie etwas Kompromittierendes in der Hand. Lustvoll gab sie mit ihrem gepuderten Gesicht, dem schweren Parfüm und den klappernden hochhackigen Schuhen die wandelnde Provokation für die gottesfürchtigen Ehefrauen und deren frustrierte Männer.

Ein paar Bewohner hatten vor dem Haus sogar ihren Wagen geparkt, dort standen hellblaue und schwarze Limousinen, Herr Runi, Besitzer eines Kinos und eines Kaffeehauses, hatte sogar ein Cabriolet mit einem Dach, dass zuckend ausfuhr und sich dann wieder zusammenfaltete.

Im Hof des Hauses traf sich jeden Tag ein Trupp von Kindern, die unter den verschiedensten Vorwänden versuchten, ins Innere vorzudringen. In der Eingangshalle saß aber an einem Tisch aus schwerem Holz ein Concierge, der jeden Jungen, dem es gelungen war, hereinzukommen, kräftig mit einem Stock versohlte, obwohl er immer bis zum letzten Moment aussah, als würde er schlafen.

Nur der Geistliche in seinem grauen Kaftan machte jeden Tag Drohgebärden mit der Faust in Richtung des Hauses. Und gelegentlich kam von irgendwo ein Stein geflogen und zerschlug eines der Fenster.

 

***

 

Wie viel Zeit hatte sie damals gehabt, als sie mit ihren Eltern bei der Einweihung des Pariser Mietshauses war? Wie viele gemeinsame Morgen, an denen Vater hastig seinen schwarzen Kaffee trank und sich nervös die Krawatte zurechtzupfte? Zur Nervosität hatte er keinen objektiven Grund, es gehörte einfach zu seinem Naturell. Er antwortete immer kurz angebunden, maulfaul, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Mona hatte dieses Ziellose von ihm geerbt, diese Rastlosigkeit, diese Unfähigkeit, an Ort und Stelle zu bleiben, Mutter war im Gegensatz dazu ruhig, ohne erkennbare innere Widersprüche. Sie war genau das Element, das Vater brauchte, sie war still, blickte zu ihm auf, betete ihn an und stand immer genau dort, wo er sie brauchte.

Morgens machte Mutter für Vater Kaffee und für Mona Frühstück – Pfannkuchen, Krapfen oder Sesamkipfel –, Vater aß morgens nie etwas. In jenem Sommer legte sie sich oft die Hände auf den Bauch und auf die Hüften und musste oft sitzen, sie aß auch wenig, seltsam, dass sich Mona jetzt daran erinnert. Mutter badete gern in der Wanne, die Vater ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, sie hatte schmiedeeiserne Füße in Form von Löwenpranken, neben denen Mona immer saß und Mutter mit einem Schwamm voller Seifenschaum den Rücken wusch. Mutter legte sich anschließend ins Wasser und die langen Haare verteilten sich auf der Wasseroberfläche zwischen den Hibiskusblüten und waren noch schöner als sonst.

 

***

 

In jenem Sommer zeigte Gott der Stadt, wie Zügellosigkeit bestraft wurde, und spaltete das Pariser Haus in zwei Teile. Zuerst ertönte ein entsetzlicher Knall, unvermittelt, wie der Abschuss einer Kanone, und dann eine lange, von nichts unterbrochene Stille. Und erst nach einiger Zeit hörte man Geschrei. Die Leute rannten aus der ganzen Stadt und dem Umland zusammen, aber der Trümmerstaub wirbelte noch lange in der Luft herum, sodass niemand etwas sehen konnte. Menschen stießen in dieser Staubwolke zusammen, stolperten übereinander, schimpften. Als Erste schlugen die fliegenden Teehändler Profit aus der Situation, mit lauten Rufen priesen sie ihre Waren an. Die Leute suchten wie benommen Kleingeld in ihren Taschen und tranken dann den heißen süßen Tee, als könnte dies das voranschreitende Verderben aufhalten.

Als das Geschrei der Verletzten verstummt war und die aufgewirbelte Staubwolke sich gelegt hatte, erschien ihnen der Geist des ehemaligen Prachtbaus. Als wäre die prunkvolle Konstruktion mit einer Riesenaxt zerhackt worden; das Haus wirkte aufgeschnitten wie der Regenwurm, den Mona und ihre Klasse in der Schule seziert hatten. Die Außenmauern waren weg, und so bot sich den Zuschauern ein Blick in die ausgeweideten Zimmer: An den Wänden hingen immer noch Spiegel, Familienfotos und Gemälde sowie mit Fayencen verkleidete Waschbecken. Im ersten Stock war an einer Wand ein rosa Kinderbettchen stehen geblieben samt panischem Säugling, der sich keinen Mucks zu machen traute. Die Zimmer mit ihren zufälligen Möbelstücken, schaukelnden Kronleuchtern und Perserteppichen, die halb in der Luft hingen, erinnerten an Theaterkulissen. Die schwere Fahrstuhlkabine war an einem dicken Stahlseil hängen geblieben und baumelte nach wie vor auf Höhe des dritten Stockwerks. Dort, wo im Erdgeschoss die Rezeption mit dem Marmorpult gestanden hatte, ragte jetzt ein Trümmerhaufen in die Höhe, übersät mit vielfarbigem Schuhwerk mit Quasten und Schnürbändern. Mona stellte sich vor, wie Madame Lis Schuhschrank auf einen Schlag all ihre Schühchen von sich gegeben hatte und die dann wie buntes Konfetti durch die Luft flogen, in Zeitlupe wie in einem amerikanischen Film.

Alle Gaffer schwiegen verbissen. Lautlos sank Staub auf sie herab. Mutter drückte Vaters Hand und sagte, dass sie sich heute ihr Abendessen einfach an einem Stand kaufen würden, dass sie keine Lust habe zu kochen. Als sie zu Hause waren, fing Vater an zu weinen. Er saß auf der kleinen Terrasse hinterm Haus und über seine Wangen liefen die Tränen, zuerst lautlos, dann schluchzte er los wie Mona, wenn ihre Mitschüler ihr das Mittagessen weggenommen hatten. Mona war entsetzt, wie auch nicht? Welcher Vater weinte denn vor seinem Kind? Sie hatte nicht geahnt, dass Männer auch Tränen hatten.

„Die Schweine, die bigotten“, jammerte Vater.

„Pst, dich hört noch wer“, ermahnte Mutter ihn leise.

Mona hatte keinen Schimmer, von wem Vater sprach oder was das Wort bedeutete. Er betrank sich und dann schrie er laut herum. Mutter hockte neben ihm, bis er sich wieder beruhigt hatte. Schließlich schlief er auf der Terrasse ein, Mutter breitete eine leichte Decke über ihn aus und ließ die Kerze gegen die Mücken brennen.

Die Verletzten hatten sie hierher in dieses Krankenhaus gebracht, aus denselben Wänden, in denen noch ihr Stöhnen und ihr letztes Flüstern verborgen sind, quellen heute Rinnsale aus schlammigem Wasser hervor, und Wurzeln wachsen unaufhaltsam aus dem Dschungel durch sie herein.

Adam stöhnt auf. Mona beugt sich zu ihm, schiebt ihm das Kissen zurecht, legt ihm die Hand auf die Stirn. Als sie aufsteht und sich die Uniform glattstreicht, spürt sie einen Klaps auf ihrem Hintern. Sie zuckt zusammen und dreht sich blitzartig um, aber Adam liegt mit geschlossenen Augen da und atmet schwer. […]

 

 

Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch