Klára Vlasáková

Risse

2020 | Listen

DIE KUGEL

 

Als das Ding auf die Erde herabgeschwebt kam – konkret auf die Pfarrwiese der mittelgroßen Stadt –, dachten die Menschen, die das als Erste sahen, dass es um eine optische Täuschung gehe; vielleicht eine Lichtbrechung, die verschwände, wenn man seinen Kopf ein Stück drehen oder die Sonne hinter einer Wolke verschwinden würde. Allerdings verschwand das Ding nicht; es hielt sich die ganze Zeit ein paar Dezimeter über dem Erdboden – ein seltsames rundes, weiß lumineszierendes Gebilde, etwa drei Meter im Durchmesser. Es war möglich, sich ihm zu nähern, und es war sogar möglich, es zu berühren. Einige sagten, die Oberfläche sei warm und nachgiebig, andere schworen, gespürt zu haben, dass sich im Innern etwas bewegt hätte.

Die Kugel verschwand jedenfalls nicht, weder nach einem Tag noch nach einer Woche noch nach einem Monat.

Bald schon wurden Ansichten laut, dass es um eine Art Anomalie gehe, verschuldet durch die langfristige rasante Überhitzung des Planeten. Es wurde ebenfalls gesagt, dass es sich um eine Warnung oder direkt um eine Strafe handele (allerdings war dann schon nicht mehr so klar, wovor oder wofür). Einig waren sich alle nur in einer Sache – solch eine Erscheinung sei etwas vollkommen Neues, Aufregendes, etwas, das sorgfältig erforscht und beschrieben werden müsse.

„Bis wir mehr wissen, ist es nötig, in Demut unserer Arbeit nachzugehen und unsere Pflichten zu erfüllen wie bisher auch“, betonte ein bekannter Religionswissenschaftler in einer der vielen endlosen Debatten, die versuchten, eine Antwort darauf zu ergründen, was in dieser ganzen Situation zu tun sei. „Wir dürfen bei unseren Aufgaben nicht nachlässig werden.“

„Und welche Aufgaben sollen das Ihrer Meinung nach sein?“, erkundigte sich eine Soziologin, die ihm gegenübersaß.

„Demütig sein und arbeiten“, antwortete er mit nachsichtigem Lächeln. „Schließlich geht es doch um nichts anderes. Ich denke, wir sollten uns nicht unnötig ablenken lassen. Das bringt gar nichts.“

Die Soziologin konnte nur den Kopf schütteln. „Nun gut, bloß ablenken wovon? Viele von uns sind bereits erschöpft und vollkommen ausgebrannt. Man berichtet von innerlicher Leere, von Ängsten und Panikattacken. In den letzten Jahren ist die Zahl derjenigen, die von Antidepressiva und Opiaten abhängig sind, raketengleich angestiegen, und da sprechen wir bloß von denen, die als Abhängige in den offiziellen Statistiken geführt werden. Die Zahl der von einer Überdosis verursachten Todesfälle steigt von Jahr zu Jahr. Darüber hinaus kann es viele geben, die diese Mittel heimlich nehmen, die sie sich auf eigene Faust besorgen, und die damit in den Statistiken gar nicht auftauchen … All das sind Probleme, die von Demut alleine in keiner Weise gelöst werden können.“

„Ich weiß nicht, worauf Sie damit hinauswollen.“ Der Religionswissenschaftler runzelte die Stirn. „Wir sollten eher darüber sprechen, was das Erscheinen jenes seltsamen Gebildes für unsere Möglichkeiten des Geistigen bedeutet. Sie allerdings lenken die Debatte in eine völlig andere Richtung.“

„Mir geht es eigentlich gar nicht um das Gebilde selbst“, begann die Soziologin zu erläutern und der Religionswissenschaftler gab ein missbilligendes Schnaufen von sich. „Es geht mir vielmehr darum, dass an den Debatten darüber sehr anschaulich wird, woran wir den Wert unseres Lebens bemessen und worauf wir besonderen Nachdruck legen. Ich empfinde das als eine gute Gelegenheit, uns selbst auf neue Weise betrachten zu können – und darauf hinzuweisen, was möglicherweise nicht funktioniert …“

Die Soziologin holte Luft, um noch etwas hinzuzufügen, die Moderatorin jedoch bremste sie mit einer ungeduldigen Handbewegung aus.

„Jawohl, vielen Dank für Ihre Meinungen, aber unsere Zeit ist leider um, wir müssen uns also für heute verabschieden. Wir danken unseren Gästen, dass sie die Einladung ins Studio angenommen haben, und Ihnen, liebe Zuschauer, danken wir für die Aufmerksamkeit und freuen uns aufs nächste Mal.“

Ein weiter Bereich um die Kugel herum wurde vier Tage, nachdem sie auf der Erde aufgetaucht war, hermetisch abgeriegelt. Niemand Unbefugtes kam mehr an die Kugel heran, sie war von außen nicht einmal mehr zu sehen. An der Stelle trafen Wissenschaftler aus der ganzen Welt ein, um das Gebilde zu untersuchen. Und obwohl niemals von irgendwem irgendeine offizielle Stellungnahme herausgegeben worden war, gelangten einige beunruhigende Informationen an die Öffentlichkeit:

Als man versuchte, die Kugel abzuschleppen, ließ sie sich um kein µ bewegen.

Als man untersuchte, woraus sie besteht, zeigten die Tests keine Ergebnisse.

Als man Proben entnehmen wollte, gelang das nicht. Also versuchte man, die Oberfläche wenigstens zu beschädigen und feuerte mehrere Male Schüsse auf die Kugel ab – die allerdings verschluckte alle Geschosse und blieb weiterhin unverändert, vollkommen unverletzt.

Als sich schließlich aus purer Verzweiflung mehrere Leute auf einmal gegen die Kugel pressten, soll angeblich eine Person den Eindruck gehabt haben, dass sich die Oberfläche ganz schwach bewegt hätte. Doch schien so etwas viel zu riskant zu sein, und vor allem war es viel zu unexakt; es wurde deshalb nachdrücklich darauf geachtet, dass sich eine ähnliche Situation nicht wiederholen würde.

Der Bereich blieb für ein Jahr komplett abgesperrt. Im Verlauf dieses Zeitraums kamen vor Ort große Gruppen von Menschen zusammen, die hofften, doch irgendetwas zu erspähen. Allerdings hatten sie keine Chance.

Dann jedoch geschah etwas Unerwartetes.

Einer jungen Frau war es gelungen, in das Areal einzudringen. Sie reagierte auf keine Aufforderung des Wachschutzes, anzuhalten, sondern lief immer weiter, direkt auf die Kugel zu. Die Wachschützer feuerten beim Versuch, sie zu stoppen, mehrere Warnschüsse ab (zumindest beschrieben sie es so). Später schworen sie, dass sie in die Luft geschossen hätten und dass die Kugel irgendwo abgeprallt sein musste, auf jeden Fall traf eins der Geschosse die Frau in den Bauch. Noch vor Ort verstarb sie kurze Zeit später.

Der ganze Vorfall verursachte einen riesigen Skandal und das kugelförmige Gebilde wurde kurz darauf wieder zugänglich gemacht. Sofort kamen dermaßen viele Neugierige dorthin, dass die Menschenströme sorgfältig koordiniert werden mussten wie bei berühmten Sehenswürdigkeiten. Erneut flammten Diskussionen auf, als alle dasselbe wissen wollten: Wo ist die Kugel hergekommen, woraus besteht sie und wozu dient sie. Niemand allerdings hatte eine zufriedenstellende Hypothese zu bieten.

Und die Kugel blieb immer gleich, von all dem ganz und gar unbeeindruckt.

 

OTTO

 

Eines Nachmittags bleibt Otto auf der Verbindungsbrücke zwischen den beiden Gebäuden der Firma stehen, bei der er arbeitet. Die Glasbrücke ist einer der wenigen Orte, von wo aus man wirklich nach draußen schauen kann. Auf einer Seite ist eine Schule, auf der anderen eine Bushaltestelle, umgeben von ein paar würfelförmigen Neubauten. Otto geht gerade über die Brücke wie so viele Male am Tag, als er durchs Fenster plötzlich einen voluminösen blauen Zeppelin sieht, der majestätisch durch die Luft schwebt. Auf ihm prangt in großer weißer Schrift Wir Ertrunkenen.

Otto versteht gar nichts. Was soll das für eine Reklame sein? Wer würde denn sein Unternehmen so nennen oder versuchen, auf diese Weise Sichtbarkeit zu zeigen? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.

Alle anderen bemerken den Zeppelin entweder nicht oder schenken ihm schlicht keine Aufmerksamkeit; sie hetzten nur von einem Ende der Brücke zum anderen, den Blick starr vor sich gerichtet. Dabei kommt der Zeppelin mit jeder weiteren Sekunde deutlicher direkt auf die Glasbrücke zu. Er hält die Richtung ganz präzise und ändert sie nicht. Jeden Moment muss er dagegen stoßen. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Otto weiß, dass er schleunigst verschwinden sollte, ist dazu aber völlig unfähig.

Er steht einfach nur da und schaut sich die ganze Szene an.

Seinen Körper durchströmt eine eigenartige, abgestumpfte Hitzewelle, von der ihm schwindlig wird. Es kommt ihm so vor, als würde ihm auf einmal überall am Körper die Haut nur noch lose herabhängen. Er greift nach dem Geländer, aber seine eigenen Hände scheinen nicht mehr zu ihm zu gehören, sie scheinen autonome Instrumente zu sein, auf deren Arbeit er keinen Einfluss mehr hat. Ihm ist übel, das unangenehme Schwindelgefühl nebelt ihn ein. Er will so schnell wie möglich verschwinden, kann aber seine schlotternden gummiartigen Beine nicht vom Boden lösen. Der Zeppelin ist nur noch ein kleines Stück von der Glasbrücke entfernt, als er auf einmal in den Steigflug überwechselt. Er geht immer höher und gleitet dann im letzten Moment knapp an der Brücke vorbei. Otto kehrt in sich selbst zurück. Die Welt um ihn herum nimmt langsam wieder ihre normale Gestalt an. Die Brücke, Schritte, Gesichter, Papiergeraschel, ein gedämpftes Gespräch. All das erscheint ihm allerdings auf einmal unzusammenhängend, zufällig. Eine gute Stunde steht er dort, starrt nach draußen und hält sich am Geländer fest, als bestünde die Gefahr, dass er, sobald er es losließe, den letzten Hauch von Ganzheit verlieren und in lauter Einzelteile zerfallen würde. Da legt ihm plötzlich jemand die Hand auf die Schulter.

Er schaut sich um und sieht einen Kollegen.

„Wir haben dich gesucht, und dabei bist du schon losgegangen. Steh hier nicht rum und komm, das geht gleich los.“

Otto folgt gehorsam der Prozession seiner Kollegen und Kolleginnen und es dauert eine Weile, bis ihm klar wird, warum eigentlich. Dann fällt es ihm ein. Ja, natürlich. Heute will die Firmenleitung mit ihnen die Neue Angestelltenpolitik besprechen. Es wäre mehr als angebracht, dass Sie alle teilnehmen, hatte der Abteilungsleiter geschrieben, als er ihnen die Nachricht weitergeleitet hatte. Niemand von denen, die sie bekommen hatten, hatte gefragt, worum es bei der Sitzung gehen würde; der Abteilungsleiter hätte ihnen sowieso nichts gesagt, so ist das doch immer. Er weiß selber nichts, leitet die Ansagen nur weiter und hofft, dass man mehr von ihm nicht verlangen würde. Die Haut an seinem Hals hängt faltig herab wie bei einem Huhn.

Sie treffen sich in einem großen fensterlosen Versammlungsraum, in dem bleiche Neonröhren brennen. Die Wände riechen noch mehlig, vor Kurzem ist hier gemalert worden, in dieser nackten Frische liegt etwas Derbes und Ungebührliches. Die Stühle sind fest miteinander verbunden und stehen in mehreren Reihen, alle gleich, schwarz und unbequem, mit Lehnen wie aus Papier, sodass man die ganze Zeit aufrecht dasitzen muss. Es sind mehr Leute hier, als es Otto erwartet hätte, gut hundert. Ohne dass jemand sie dazu aufgefordert hätte, verteilen sich alle brav auf die Stühle und verstummen allmählich. Sie sind bereits so konditioniert, dass sie keine Instruktionen benötigen – sie führen ihre Aufgaben aus, noch bevor sie sie erfahren.

Kurz danach trifft die Direktorin ein. Otto hat sie in den ganzen sieben Jahren nur ein paarmal gesehen, sie hat ihr Büro in einem anderen Gebäudeflügel als er. Seit zehn Jahren arbeitet er jetzt hier, und vielleicht bleibt er noch zehn Jahre. Sie ist glatt und rundlich und trägt ein weiches hellblaues Wollkostüm. Man erwartet von ihr keine Hinterhältigkeiten, sondern einfach nur die ruhige Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Sie räuspert sich, obwohl das gar nicht nötig ist, alle sind schon längst mucksmäuschenstill.

„Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen, ich weiß ihre Arbeit über alle Maßen zu schätzen“, fängt sie an und Otto nimmt wahr, wie sich im Raum allmählich ein durchdringender säuerlicher Gestank ausbreitet, den all die verschreckten Leiber absondern, die bereits wissen, was als nächstes kommt.

„Ich weiß Ihre Arbeit über alle Maßen zu schätzen, viele von Ihnen arbeiten sogar schon zehn und mehr Jahre in unserer Firma, und glauben Sie mir, dass mich nichts mehr anrührt als eben gerade Ihre Treue.“

Für einen Moment verstummt sie und lässt den Blick auf den Gesichtern einiger Anwesender ruhen.

„Als typischer Widder werde ich das Ganze aber nicht in die Länge ziehen und komme gleich zur Sache. Wir Widder sind nun einmal so, diejenigen von Ihnen, die häufiger mit mir zu tun haben, wissen das.“

Aufmunternd blinzelt sie den Betreffenden zu und Otto kann sich des Gedanken nicht erwehren, dass sie dieses Blinzeln sorgfältig in ihren Monolog hineinkomponiert hat.

„Im Rahmen der Arbeitskräfterationalisierung geht unsere Firma, so wie die meisten anderen, zur Automatisierung eines Großteils der Arbeitsaufgaben über. Die betraf anfänglich nur einen engen Kreis von Positionen, nun jedoch wird sich dieser Bereich immer mehr erweitern.“

In diesem Moment müssten sich eigentlich alle erheben und sich auf die Direktorin stürzen. Ihr das weiche hellblaue Wollkostüm in Fetzen reißen, so lange daran herumzerren, bis nur noch einzelne Fäden übrig sind. Sie müssten sich auf die frischen weißen Wände stürzen, den Putz abkratzen, die Mauern aufstemmen, Durchbrüche nach draußen schlagen und die reinste Verheerung hinterlassen.

Stattdessen sitzen sie alle weiter aufrecht auf ihren schwarzen Plastikstühlen. Otto tut das ebenfalls, er ist nämlich unfähig, etwas anderes zu tun. Sein Körper hat inzwischen vergessen, wie man anders reagiert. Er beherrscht nur noch, artig in einer Position zu verharren und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Ihnen wird natürlich eine Abfindung ausgezahlt. Wir werden uns bemühen, diese Veränderung der Situation für Sie so erträglich wie möglich zu gestalten. Mir persönlich tut es sehr leid, dass wir so viele hervorragende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einbüßen, aber glauben Sie mir – Ihre Arbeit ist nicht vergeblich gewesen. Sie hat den Rahmen geschaffen, aus dem heraus die neuen mechanischen Hilfskräfte lernen können. Mit Ihrer Arbeit haben Sie uns absolut unschätzbare Daten geliefert, die bereits verarbeitet werden und aus denen neue Arbeitsmethoden abgeleitet werden, die noch schneller und effizienter sind. Ihrer aller Arbeit wird zum Grundstein für die gegenwärtige technologische Revolution, und der können wir nicht im Wege stehen, das ist doch klar. Wir können ihr jetzt nur so gewissenhaft wie möglich den Boden bereiten.“

Eine Weile ist es still. Ein paar Sekunden, in deren Verlauf alles Form annimmt. In einem Augenblick gibt es mehrere Varianten der Zukunft nebeneinander, sie flattern über ihren Köpfen und warten darauf, dass jemand eine von ihnen ergreift und öffnet. Dieser Augenblick ist schwindelerregend und der einzige Moment wahrhafter Freiheit. Ein Flattern und ein Rascheln und das Sirren der Neonröhren. Otto wünscht sich, dass es lange dauert, dass sich diese zeitlose Scharte noch vergrößert, bloß geht vorne langsam eine Hand nach oben.

„Wie hoch ist die Abfindung?“, fragt jemand lautstark und Otto sieht wie in Zeitlupe, dass die Scharte wieder kleiner wird. Sie wird kleiner, verschwindet und das Rascheln verstummt. Die Direktorin schenkt ihnen ein breites Lächeln.

„Das kann man nicht so ganz pauschal sagen, aber jeder von Ihnen erhält ein Mehrfaches seines Monatsgehalts. Um das Wievielfache es sich handeln wird, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, aber ich kann Ihnen garantieren, dass wir dabei von wahrhaft großzügigen Beträgen sprechen. Wir rechnen Ihnen die Arbeit für die Firma hoch an und wollen sie dementsprechend wertschätzen.“

Die Scharte, aus der etwas Hässliches und Notwendiges hätte an die Oberfläche hervorquellen können, schließt sich mit einem Klacken. Alles ist wieder rein, geglättet, sicher.

Otto schaut auf die Schultern und Nacken der Leute vor ihm. Alle Schultern sinken wie auf Kommando ein Stück nach unten, lockern sich. Die Nacken neigen sich interessiert seitwärts. Otto tut dasselbe, er denkt gar nicht darüber nach. Sein ganzer Körper wird von Müdigkeit überschwemmt und eine Schwere überfällt ihn.

„Das war zu erwarten“, flüstert jemand hinter ihm, aber ansonsten sagt niemand mehr etwas, niemand meldet sich.

„Ich bin froh, dass dieses Treffen stattgefunden hat und dass wir einander unsere Ansichten erläutern konnten“, sagt die Direktorin zu den schweigenden Angestellten. „Gestatten Sie mir, dass ich, noch bevor wir uns verabschieden, den Hut vor Ihnen ziehe. Für Ihre Hingabe an die Firma, für Ihren Einsatz, für Ihren Fleiß, Ihren Eifer, Ihr Verantwortungsgefühl. Für Ihre Überzeugung, dass wir uns immer noch verbessern können, und vor allem wachsen. Für all das gebührt Ihnen mein großer Dank und meine Bewunderung.“

Die Direktorin macht einen Schritt zurück und beginnt dann zu applaudieren. Schnell und ungestüm. Ihr Klatschen klingt jedoch in einem so großen Raum schwach, es ist fast nicht zu hören. Dann fällt jemand auf der linken Seite mit ein, dann jemand vorn und dann immer mehr, der Applaus nimmt an Intensität zu und klingt, als würden Hagelkörner aufs Dach trommeln: peng, peng, peng, peng, peng, peng, peng. Die Leute stehen nach und nach auf und alle lächeln, das ist so seltsam und unsinnig. Allerdings merkt Otto, dass er sich auch erhebt, auch lächelt. Mittlerweile stehen sie alle, und zwischen den Handflächen, die heftig gegeneinanderschlagen, zerreiben sie das letzte noch übriggebliebene raschelnde Flattern; sie schlagen es platt wie lästige Mücken. Die Direktorin hört schließlich als Erste auf zu klatschen und deutet mit einer Geste an, dass es nun genug sei.

„Noch einmal möchte ich Ihnen allen sehr danken. Bis morgen früh erhalten Sie Ihre Aufhebungsverträge. Die Freistellung sollte Ende nächsten Monats in Kraft treten. Zusammen mit den Verträgen erhalten Sie auch Ihre Abfindungsbeträge. Jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen schöne restliche Tage in diesem Ambiente voller Kreativität und Visionen zu wünschen, und gleichzeitig hoffe ich, dass Sie sich auch bei der Arbeit an Ihren weiteren Projekten so gut wie möglich fühlen.“

Die Tür geht auf und alle gehen genauso gehorsam und diszipliniert wieder davon, wie sie hierhergekommen sind.

Otto hat den Eindruck, als bewege er sich durch eine dicke, undurchsichtige Flüssigkeit. Sein Gemüt ist schwer und durchtränkt von nur einem unsinnigen Bild, das er unfähig ist zu vertreiben. Und auch während er in den nun folgenden Minuten mit dem Aufzug fährt (der schaukelt bedenklich), seine Bürotür aufschließt (das geht auf einmal so schwer), einem Kollegen auf die Frage antwortet, ob er sich eine neue Stelle suchen würde (ja, denn einen Einkommensausfall könne er sich nicht leisten – bisher hätten sie die Familie auch mit zwei Gehältern nur mit Ach und Krach ernähren können), die Schublade aufzieht und gleich ein paar Tabletten auf einmal nimmt (schnell zerkaut er sie), so kann er doch an nichts anderes als den Zeppelin denken, den er heute gesehen hat. An seine Bewegung durch die Luft, an die Aufschrift Wir Ertrunkenen. Wo er jetzt wohl ist? Streift er andere Gebäude, oder hat er bereits aufgesetzt? Und wer hat ihn überhaupt steigen lassen?

Er hat den Eindruck, alles durch eine Glaswand wahrzunehmen, und so registriert er nur mit Mühe, dass zwei Kolleginnen mit der Ansprache der Direktorin unzufrieden sind; man sollte da irgendetwas unternehmen, sie sollten das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Otto allerdings kann sie nicht richtig hören und auch die anderen scheinen ihnen nicht zuzuhören; ihre Entrüstung ist störend und gerade jetzt ist Ruhe zum Arbeiten notwendig, sie haben sich doch nun lange genug aufgehalten.

Otto hört auch die Telefongespräche nicht, bei denen die Kollegen ihren Nächsten zuwispern, was passiert ist, und dabei in einem unregelmäßigen Rhythmus durch die Büros stapfen, der klingt, als würden Steine ausgekippt.

Auch seinen Kollegen hört er nicht. Der kauert im Flur, schaukelt vor und zurück und winselt. Ein unerträgliches Geräusch, das klingt, als sei sein Verursacher aufs Schrecklichste verwundet. Niemand sonst ist mehr im Flur, alle sind an ihre Schreibtische zurückgekehrt und tun so, als sei nichts. Das Winseln nimmt dabei an Intensität zu, es tönt durch den Raum, man kann ihm nicht aus dem Weg gehen. Darin ist etwas Schmerzhaftes, fast Animalisches. Dieses Winseln. Ununterbrochen dieser eine langgezogene Ton.

Bloß denkt Otto immer noch an den Zeppelin, und er denkt die ganze Zeit an ihn, während er am Computer sitzt, sein E-Mail-Programm öffnet und sich die Nachrichten anschaut, einen Teil löscht er sofort, andere kennzeichnet er zum später Lesen. Er denkt auch noch an ihn, als er in den Ordner mit dem Titel Berichte, Verträge, Vereinbarungen geht und nach und nach alle Dokumente öffnet. Das dauert lange, aber er erledigt es mit Sorgfalt, lässt keines aus. Sobald er fertig ist, löst er für jedes Dokument einen Druckauftrag aus.

Er denkt an den Zeppelin, während er die Dokumente an verschiedene Drucker in der Firma schickt, um Zeit zu sparen; als er den Ordner mit den Zeiterfassungsdateien öffnet; als er für jeden Nachweis aus jedem Monat der letzten sieben Jahre, die er im Büro verbracht hat, einen Druckauftrag erteilt. Er hört auch nicht auf, an ihn zu denken, als er seine E-Mails ausdruckt – dabei geht er nicht mehr methodisch vor, er klickt sie nach dem Zufallsprinzip an, in Raserei verfallen. Wohin ist dieser Zeppelin verschwunden? Wohin? Irgendjemand muss das doch wissen.

Er denkt sogar auch dann noch an den Zeppelin, als er an dem Körper seines Kollegen vorbeigeht, der nun im Flur liegt, Arme und Beine seitwärts abgespreizt. Aus seiner Nase fließt Blut und sein rechtes Bein steht in einem seltsamen Winkel ab. Otto kann dieses Bild nicht im Geringsten verarbeiten; er registriert es lediglich, kann ihm aber keine Bedeutung beimessen.

Er hat nämlich etwas anderes zu tun.

Er geht durch die Flure in verschiedenen Stockwerken und sucht die Drucker, die wild brummen und himmelhohe Stapel Texte drucken, die er an sie geschickt hat. Er betrachtet sich die noch warmen Blätter und all die Sätze, grob ans Licht gezerrt, ergeben auf einmal überhaupt keinen Sinn. Inzwischen fangen die Tabletten an zu wirken; er nimmt das wohlbekannte wärmende Gefühl wahr, mit dem sich sein Magen ausdehnt, und ein leicht dumpfes abwesendes Flimmern, während die Dinge um ihn herum ihre festen Umrisse einbüßen, sich alles vermischt und ineinanderfließt und seine Gedanken sich endlich einmal nicht in einer panischen verzerrten Logik aneinanderketten. Die Verbindungen zerfallen – alles ist vermengt, aber friedlich.

Er lässt die Drucker so lange laufen, bis alles Papier verbraucht ist und es keins mehr zum Nachfüllen gibt. Die ganze Zeit über stellt niemand eine Frage, niemand versucht, ihn aufzuhalten. Die Ausgabeschalen aus Plastik biegen sich unter dem Volumen an Seiten durch. Otto gibt sich Mühe, alle Drucker abzuklappern, aber er schafft es nicht, es sind zu viele und die Zettel fallen ihm aus der Hand.

Er ist so erschöpft!

Er betritt den Flur vor seinem Büro. Sein Kollege liegt nach wie vor noch dort; das Blut unter seiner Nase ist inzwischen eingetrocknet. Er atmet – sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Seine Augen sind offen, der leere Blick ist zur Decke gerichtet. Otto geht zu ihm, zuerst kniet er sich nur hin, dann legt er sich neben ihn auf den Boden.

Es gibt nämlich nichts anderes mehr, was er tun könnte.

Sie liegen dort nebeneinander und um sie herum hört man die überlasteten Drucker, die heiß laufen und einer nach dem anderen verstummen. Und dann ist endlich Ruhe. Otto fällt ein, dass das wirkt wie das Vorspiel zu etwas Grandiosem, aber dieser Gedanke verschmilzt sofort mit einem anderen und dann noch einem, und am Ende rutscht ihm das Ganze unwiederbringlich weg.

 

 

Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch